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Glückskind: Band II - Wachsen -
Glückskind: Band II - Wachsen -
Glückskind: Band II - Wachsen -
eBook691 Seiten10 Stunden

Glückskind: Band II - Wachsen -

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Über dieses E-Book

Ausgangspunkt von Band I - WERDEN - waren die dramatischen Ereignisse, die Evi's Vorfahren im Russland des 19. Jahrhunderts zu bestehen hatten. Ihr Vater Wassili, später Willi genannt, und ihre Mutter Lotte bauen sich im Berlin der 20er Jahre ein gemeinsames Leben auf, das jedoch immer wieder durch Krieg und Flucht aus der Bahn gerät. Kurz vor Beginn des 2. Weltkriegs wird Evi geboren.

Im Band II - WACHSEN - ist Evi mittlerweile im anhaltinischen Dorf Burgstädt angekommen. Der Krieg ist vorbei und die Russen sind da. Papa ist der Einzige im Dorf, der Russisch sprechen kann. Er wird ständig gerufen, um Konflikte zwischen den Soldaten und den Dorfbewohnern zu schlichten und manchem Dörfler kann er das Leben retten. Bald wird er Lehrer und stellvertretender Bürgermeister. Mutti gründet eine Theatergruppe und für die Familie beginnt ein auskömmliches Neubauernleben. Die Verwandten, die in Berlin Hunger leiden, sind gern gesehene Gäste. Evi freundet sich mit den Dorfkindern an. Sie ist begeistert vom Landleben. Nur, dass Tiere geschlachtet oder gegen Futterrüben eingetauscht werden, kann sie nicht verkraften. Die Schule beginnt wieder und Evi wird Pionier und Stalin-Verehrerin. Papa gerät mit Parteikadern aneinander und wirft ihnen das Parteibuch vor die Füße. Dann wird er krank und muss in die Klinik nach Bad Liebenstein…
SpracheDeutsch
HerausgeberBooks on Demand
Erscheinungsdatum2. Jan. 2015
ISBN9783738687651
Glückskind: Band II - Wachsen -
Autor

Eva Maria Berger

Eva Maria Berger schreibt historische Romane und Kinderbücher. Seit 1985 arbeitet sie an der Familiensaga 'Glückskind', deren vierter und letzter Band WANDERN hier vorliegt. Erschienen sind bereits Band I WERDEN, Band II WACHSEN und Band III WANDELN.

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    Buchvorschau

    Glückskind - Eva Maria Berger

    Stationen des Glückskinds

    www.evisbuch.de

    Über die Autorin:

    Eva Maria Berger ist Jahrgang 1938. Sie schreibt historische Romane und Kinderbücher für Kinder und Erwachsene. Seit 1985 arbeitet sie an der Familiensaga 'Glückskind', die nun endlich fertiggestellt und veröffentlicht ist. Hierfür hat sie viele Jahre hindurch international recherchiert. Die in dem Werk verwendeten Namen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit Personen und Orten sind rein zufällig.

    Inhalt

    1945 – 1946

    Neubauernleben

    1946 - 1948

    Dorfgeschichten

    1948 - 1950

    Willi schmeißt hin

    Für Elfi, Hertha, Helma, Klaus-Dieter, Peter

    und alle meine Lehrer

    1945 – 1946

    Neubauernleben

    - 1 -

    Am 24. Dezember 1945 in der Mittagszeit kommt Papa in Hochstimmung nach Hause. Er drückt Mama ein Schreiben in die Hand, sieht uns verschmitzt an und sagt: »Seht ihr, jetzt haben wir unsern Bauernhof!«

    »Einen Bauernhof?«, frage ich wild begeistert, »einen richtigen Bauernhof?«

    »Einen richtigen Bauernhof!«, bestätigt Papa, »allerdings nur einen ganz kleinen. Wir passen gerade so hinein mit unseren zwei Kühen. Aber ein paar Schweine können wir noch anschaffen.«

    »Und Hühner?«, frage ich eifrig, »und Karnickel?«

    »Karnickel sowieso! Und Hühner auch, keine Frage.«

    Mama hat inzwischen das Schreiben durchgelesen, welches uns als neue Besitzer des Hauses Dorfstraße Nr. 9 ausweist. »Versteh ich nicht!« Sie reicht Papa das Schreiben zurück. »Wovon sollen wir denn jetzt ein Haus kaufen? Wir haben doch nichts!«

    »Mach dir keine Sorgen«, beruhigt Papa sie. »Das Haus war Gutsbesitz. Seit ein paar Wochen steht es leer. Ab heute sind wir die Besitzer. Und wenn ihr wollt«, er legt einen langen Schlüssel auf den Tisch, »dann können wir es sofort besichtigen!«

    »Manometer!« Ich schnappe mir den Schlüssel und staune: »Der ist ja größer und schwerer als Opas Gartenschlüssel!«

    »Und wenn der Graf eines Tages zurückkommt und uns hinauswirft?« Für Mama ist noch lange nicht alles klar.

    Papa lacht. »Wo denkst du hin! Wir gehen auf den Kommunismus zu, und da sind keine Grafen vorgesehen!«

    »Und wenn sich die Zeiten eines Tages doch wieder ändern?«

    »Lass das keinen hören!«, sagt Papa belustigt. »Glaubst du so an den Sieg der glorreichen Roten Armee?« Dann wird er ernst. »Weißt du, ich glaube nicht, dass die Grafen in ihre Schlösser zurückkehren können – dann wäre ja alles umsonst gewesen!« Papas Blick ist in die Ferne gerichtet. »Wenn man bedenkt, wie viele Opfer dieser Kampf gekostet hat und an wie vielen Fronten er gekämpft wurde… Mir werden erst jetzt die Zusammenhänge richtig klar. Wenn man die Russen so erzählen hört – mein Gott!« Papa schüttelt den Kopf, »das hat man ja alles nicht gewusst!«

    »Was ist denn nun mit dem Bauernhof?«, bedränge ich Papa ungeduldig.

    »Ja, wovon sollen wir ihn bezahlen«, will Mama wissen.

    Papa sieht uns nachsichtig an. »Ich sagte doch schon, das Haus war Gutsbesitz, und der wird zurzeit nicht verkauft, sondern vergeben und zwar ausschließlich an Mittellose. Mit Geld hätten wir keine Chance gehabt, ihn zu bekommen.«

    Mamas Miene entspannt sich.

    »Mach dir jetzt keine Gedanken mehr!« Papa erhebt sich und steckt den Schlüssel wieder ein. »Das Haus wurde auf unseren Namen eingetragen. Es ist ganz amtlich. Wir sind von nun an die Besitzer, und kein Graf kann uns da wieder rausschmeißen.« Und während Mama und ich uns anziehen, fügt er noch hinzu: »Demnächst müssen wir natürlich auch bezahlen, in Raten, aber das wird noch errechnet.«

    Auf dem Weg zur Dorfstraße erzählt uns Papa, dass früher der Schloßgärtner in dem Haus gewohnt habe und später nur noch seine Witwe, die sei aber nun zu einer Verwandten gezogen.

    »Hier ist es!«, sagt Papa und bleibt vor einem kleinen niedrigen Haus stehen. Ich erkenne es sofort wieder. Hier wohnte Frau Nickel, die wir an dem Tag kennenlernten, als die Fahrräder von den deutschen Soldaten beschlagnahmt wurden. Und hier steht auch der schöne grüne Kachelofen.

    Eine Weile betrachten wir uns das Haus von außen. Es ist grau angestrichen und hat auf der rechten Seite diverse Putzschäden. Die braungelbe Haustür befindet sich in der Mitte der Vorderfront. Zwei Stufen führen hinauf – eine breite, flache, ziemlich ausgetretene und darüber eine mit Eisenband eingefasste. Über der Tür befindet sich ein schmales Fenster aus grünem Glas, vor dem die Hausnummer angebracht ist – eine große eiserne 9.

    »Immer diese 9!« Sooft Mama in ihrem Leben umgezogen ist, war eine 9 in der Hausnummer enthalten. »Hoffentlich geht alles gut!«, sagt sie ein bisschen bedrückt.

    »Bist du etwa abergläubisch?« Papa lacht und zieht Mama an sich. »Die 9 ist eine Glückszahl! Da ist dreimal die 3 drin. Das heißt dreifaches Glück! Und nun passt mal auf, wie praktisch unsere Nummer 9 liegt!« Er macht eine ausladende Handbewegung, »in dieser Straße liegen fast alle wichtigen Geschäfte.« Er weist auf die gegenüberliegende Seite. »Ganz unten am Bach – die Bäckerei Lühr. Hier, direkt uns gegenüber – Fleischer Kuebler. Zwei Häuser weiter – die Post, geleitet von Frau Grunert, der Kohlenhändlerin. Danach – Gasthaus Albrecht. Ein Stückchen weiter die Straße hoch – »Butterbeck«, ein Lebensmittelgeschäft. Die heißen aber nur Beck. Dann, auf unserer Straßenseite wieder runter – Schlachter Winkler. Gleich daneben – unser Nachbar Bäcker Specht. Unser anderer Nachbar heißt übrigens Grube. Er ist Klempnermeister. Zwei Häuser weiter, direkt am Dorfteich – die Gärtnerei Frahm. Hinter dem Teich an der Ecke zum Gutshof gibt’s noch ein Lebensmittelgeschäft. Der Besitzer heißt Franzen. Was wollen wir mehr? Hier kann unsre Evi schon ganz alleine einkaufen gehen.«

    »Nun lass uns endlich rein!«, sagt Mama, »wir kriegen schon kalte Füße!«

    Mir ist kein bisschen kalt. Es ist alles so aufregend – ein eigner Bauernhof! Und mitten im Dorf! Ich renne vor dem Haus hin und her, ich fasse es an, betrachte jedes Detail. Neben der Tür befinden sich rechts und links je zwei Fenster, die aber von innen durch irgendetwas versperrt sind. Dann entdecke ich zwischen unserer Nr. 9 und dem Bäcker ein großes Holztor, ebenfalls braungelb angestrichen. Die Farbe ist schon sehr verwittert. »Ist das unser Tor?«, frage ich und rüttele an dem Riegel, der aber von innen versperrt ist, wie ich später entdecke.

    »Ja, das ist der Eingang zu unserem Hof«, bestätigt Papa.

    ‚Oh ja! Ein eigener Torweg und ein eigener Hof‘, halte ich fest. ‚Mein Gott! Wir haben einen eigenen Hof!‘

    Papa schließt die Haustür auf. Wir treten ein – scheu, verhalten, als könnten wir stören – so ein Gefühl kann man nicht erklären. Es ist, als ginge man auf etwas zu, das vor einem zurückweicht, und es kommt einem so vor, als frage es: »Was willst du hier?« Dennoch dringen wir ein in dieses scheinbar lebendige, abweisende Unbekannte. Es sieht uns misstrauisch entgegen, dessen bin ich mir sicher. Und Mama ergeht es genau so, denn mir fällt auf, wie sanft sie die Wände berührt und kaum wagt, einen Schritt zu tun.

    Wir sehen uns um. Im Flur, gleich rechts neben der Eingangstür, befindet sich eine umbaute Bodentreppe, verschlossen durch eine hohe Tür. Einen halben Schritt weiter rechts und links zwei weitere Türen. Papa, in dieser Hinsicht reichlich unsensibel, öffnet diese und sagt: »Das sind die zwei einzigen Zimmer. Er geht hinein und öffnet die Holzläden, die durch eine starke etwas gebogene Eisenstange zusammengehalten wurden. Helles Licht dringt in das Halbdunkel – der Bann ist gebrochen.

    In dem linken Zimmer empfing uns damals Frau Nickel. Es ist nicht wiederzuerkennen, so leer und kalt ist es. Bloß der grüne Kachelofen erinnert noch an jenen Tag.

    Bei dem Gedanken, dass dieser Ofen von nun an uns gehört, empfinde ich ein ziemliches Wohlbehagen. Ich renne in das rechte Zimmer – ebenfalls ein großer heller Raum, und er hat ebenfalls einen wunderschönen Schnörkelofen, aber in Hellrosa. Ich bin entzückt.

    Papa und Mama sind inzwischen schon bis zur Wohnküche vorgedrungen. Ich folge ihnen schnell, dass ich bloß nichts verpasse. In diesem Raum wurden ein großer Holztisch und sechs robuste Bauernstühle zurückgelassen. Trotz dieser großen Möbelgruppe wirkt der Raum keinesfalls überfüllt. Auch der große gemauerte Herd, auf dem ein paar Töpfe vergessen wurden, scheint keinen Platz wegzunehmen.

    »Ein schöner Raum«, sagt Papa, »hier werden wir uns wahrscheinlich am meisten aufhalten.«

    »Alles ziemlich verwahrlost«, gibt Mama zur Antwort. Ihre Miene hat einen merkwürdigen Ausdruck. Das reine Glück scheint sie nicht zu empfinden. Ich habe natürlich keine Vorstellung von den Überlegungen Erwachsener und auch nicht davon, wie sich eine geborene Stadtfrau fühlt, wenn sie, mehr oder weniger freiwillig, im Begriff ist, eine Landfrau zu werden.

    »Lass man«, sagt Papa, »das wird ein Schmuckstück! Wart es nur ab!«

    Von der Wohnküche gelangen wir in die Wasch- und Futterküche, die an Ungemütlichkeit sogar die Berliner Mietshaus-Waschküchen übertrifft. Ein gemauerter Herd, ein langer, breiter Arbeitstisch und ein riesiger eingemauerter Kupferkessel mit dickem Holzdeckel bestimmen das Bild. Eine Tür führt zur Vorratskammer, in der es trotz der beiden oberen Fensterchen stockdunkel ist, eine andere Tür führt zum Keller, den wir aber nicht besichtigen. Die Treppe ist steil, und er kommt uns unheimlich vor. Licht gibt es nicht.

    Papa schiebt den Riegel der Waschküchentür auf, die nach hinten hinaus führt. Und da liegt er, unser Hof, dessen Verwahrlosung geradezu perfekt ist. Papa und Mama sehen natürlich alles mit anderen Augen als ich. Während sie auf der ganzen Linie Mühe und Arbeit entdecken, ruht mein Blick verzückt auf dem durchaus beachtlichen Misthaufen, der sich in der Mitte des Hofes türmt, direkt unter einem riesigen Kastanienbaum.

    ‚Mein Gott‘, denke ich glücklich und ehrfürchtig, ‚wir haben einen eigenen Misthaufen!‘ Plötzlich übermannt mich eine Besitzerfreude, wie ich sie nie wieder erlebt habe, und in meinem Inneren dehnt sich so etwas wie Erwartung auf etwas Großartiges aus. Es drängt mich, ganz laut zu schreien oder sofort mit der Arbeit zu beginnen. Aber Papa und Mama inspizieren gerade das Stallgebäude, und dabei darf ich natürlich nicht fehlen.

    Das Stallgebäude grenzt den Hof auf der rechten Seite gegen den Hof von Klempner Grube ab. Es ist fest gebaut und besteht aus Kuhstall, Schweinestall und Vorratsraum. Aus dem Vorratsraum führt eine Leiter hinauf zu einem Boden, der sich über das ganze Gebäude erstreckt.

    »Hier werden wir Stroh lagern!«, beschließt Papa.

    Im Vorratsraum befindet sich auch das einzige aber zurzeit völlig unbrauchbare Plumpsklo. Mama schüttelt es beim Anblick dieses »Örtchens«. Ich dagegen sehe es mir genau an. »Papa, sieh doch mal!«, rufe ich, als ich durch das Sitzloch in die Jauchegrube sehe. »Was is das denn für eine komische Säule da drin?«

    Papa lacht. »Das ist immer so bei diesen Klos. Im Winter friert alles da unten, und wenn das Klo jeden Tag benutzt wird, bildet sich so eine Säule.«

    »Iiih!«, amüsiere ich mich, »und mit jedem Mal wächst sie ein Stück!«

    Mama muss nun auch lachen. Wir machen noch eine Weile Witze über das Klo, den Misthaufen und den unvorstellbaren Dreck überall, den wir der Vormieterin aber nicht übel nehmen. Sie war alt und krank und wahrscheinlich froh, hier endlich wegziehen zu können.

    Zum Schluss unserer Besichtigung finden wir, dass alles wundervoll ist und nicht schöner sein könnte.

    »Wann fangen wir an?«, fragt Mama. Ihr Unternehmungsgeist ist geweckt.

    »Ja, wann ziehen wir ein?« Am liebsten würde ich gleich mit der Arbeit beginnen.

    »Nu mal langsam!« Papa erklärt uns, dass man in so ein Haus nicht einfach so einziehen kann. »Da müssen erst mal die Handwerker ran«, sagt er, »und dann fragt sich, ob es Farbe gibt und all das andere Material. Möbel brauchen wir auch noch – es dauert schon noch eine Weile!«

    »Frickes müssen wir Bescheid geben, und Putzzeug muss ich besorgen.« Für Mama ist alles klar.

    Ich schmolle. Mein Tatendrang ist kaum zu bremsen. Mama beruhigt mich. »Ich schätze«, sagt sie, »dass wir Anfang Januar beginnen können, zumindest dem Dreck zu Leibe zu rücken. Sagen wir – an meinem Geburtstag.«

    - 2 -

    Die Tage vergehen ohne Eile. Mama und Papa leiten alles Mögliche in die Wege, Frickes freuen sich bereits darauf, ihre Räume wieder in Besitz nehmen zu können, und Omi und Opa erfahren per Brief, dass wir nun endgültig Bauern werden.

    Programmgemäß, leider ohne einen Tag zu überspringen, rollt der 6. Januar heran, Mamas Geburtstag. Er beginnt mit eisiger Kälte und klarem Himmel. Gleich nach dem Frühstück brechen wir zu unserer Putzaktion auf.

    Die Sonne wirft verheißungsvolles Licht auf das kleine graue Haus, das von den kahlen Zweigen des mächtigen Kastanienbaumes überragt wird. Mein Herz klopft freudig, als Mama den großen Haustürschlüssel aus ihrer Manteltasche zieht. Sie sieht mich mit weitaufgerissenen Augen und verschmitztem Lächeln an, was so viel bedeutet, wie: »Achtung! Jetzt stürmen wir die Nummer 9!« Mir ist ganz feierlich zumute. Ich fühle, dass dies ein großer Augenblick ist, irgendwie der Anfang unserer ganz privaten neuen Zeit.

    Wir tragen Schüsseln und Putzzeug in die Wohnküche und begehen gemeinsam noch einmal alle Räume. Papa erklärt Mama, was er bei den Handwerkern in Auftrag gegeben hat, und Mama äußert ihre zusätzlichen Wünsche. Mama entscheidet auch, dass das Zimmer mit dem rosa Ofen das Schlafzimmer wird und das Zimmer mit dem grünen Ofen das Wohnzimmer.

    »Es ist hundekalt«, sagt Papa und reibt sich die Hände, »wir machen erst mal irgendwo Feuer.«

    Der Herd in der Wohnküche ist ziemlich verrußt. Papa krempelt sich die Ärmel hoch und nimmt ihn auseinander. Sogar die Rohre reinigt er gründlich. Wir holen Holz aus dem kleinen Schuppen gleich neben der Waschküchentür, Frau Nickel hatte es zurückgelassen, und Papa schneidet mit dem Taschenmesser von einem Stück dünne Späne. Er stopft Papier in das Feuerloch und legt die Späne kunstvoll darüber. Zum ersten Mal sehe ich bewusst, wie in einem Herd Feuer angezündet wird. In Berlin kochten wir auf Gas, in Waldorf auf Strom, und wenn sonst Öfen geheizt wurden, war ich nicht dabei. Ich sehe aufmerksam zu und denke, als Papa das Streichholz an das Papier hält: »Unser erstes Feuer hier!«

    Und genau das sagt auch Mama in diesem Augenblick. Wir tauschen einen bedeutsamen Blick aus. Papa aber ranzt uns an, wir sollen Türen und Fenster öffnen, weil sich gerade dicke Rauchwolken entwickeln. Es qualmt grausig. Uns tränen die Augen. Aber als dann die ersten Flammen lodern und die Rohre und der Kamin warm werden, verzieht sich der Rauch.

    Mama packt das Putzzeug aus. Scheuersand und Kernseife, etwas anderes gibt es nicht zu kaufen. Da klopft es an der Tür. Unser erster Besuch stellt sich ein: Elfi und Tante Anni. Sie gratulieren Mama zum Geburtstag, was Papa und ich – oh Schande! – wieder mal vergessen haben. Tante Anni konnte bei Gärtner Frahm sogar ein blühendes Alpenveilchen erstehen. Mama stellt es auf ein Fensterbrett in der Wohnküche und erzählt gerührt, dass Alpenveilchen ihre Lieblingsblumen seien. Als Kind hätte sie sie jedes Jahr bekommen.

    Tante Anni bindet sich eine mitgebrachte Schürze um und bietet Mama an, ihr bei der Putzerei zu helfen. Da fällt uns auf, dass wir gar kein Wasser haben.

    »Draußen!«, sagt Papa und zeigt auf die vor dem Fenster stehende Pumpe. Wir haben sie wohl schon gesehen aber nicht wahrgenommen. Es ist ein glattgeschliffener ausgehöhlter Baumstamm mit eisernem Schwengel und eisernem Wasserspender.

    Ich bin wieder mal ergriffen, Besitzer einer eigenen Pumpe zu sein, dann aber gleich wieder enttäuscht, als sich herausstellt, dass sie kein Wasser gibt.

    »Die ist abgesoffen«, meint Papa zerknirscht. Er leert unseren einzigen Eimer, in den er die Asche gefüllt hatte, auf dem Misthaufen und geht damit zu Fleischer Kuebler, um Angießwasser zu holen. Als er mit dem Wasser zurückkommt, steigt er auf einen Holzklotz und gießt die Hälfte des Wassers in die obere Öffnung der Pumpe. Es gluckert. Mama hebt den Pumpenschwengel und drückt ihn langsam nach unten.

    »Schneller!«, ruft Papa, der auf die Geräusche der Pumpe achtet. Mama pumpt so schnell sie kann. Das Gluckern fällt tiefer und wird zu einer Art Husten. Dann ist es still. Nichts! Kein Wasser!

    Papa gießt den Rest hinterher und hängt den Eimer unter den eisernen Wasserspender. Das Wasser fällt wieder plätschernd und gluckernd in die Tiefe. Mama pumpt aus voller Kraft. Von unten dringt ein Geräusch herauf, als ob ein voller Bauch rülpst. Dann schwingt sich ein heiseres Gurgeln nach oben. Mama spürt Widerstand – und da! Aus dem Wasserspender rinnt etwas gelbes Wasser in den Eimer.

    »Iiiih!« Wir rümpfen die Nase.

    »Das wird schon!«, sagt Papa zuversichtlich und gießt das gelbe Wasser zurück. Mama pumpt wieder ganz schnell noch während Papa gießt. Es gluckst, stöhnt und hustet in der Tiefe, dann aber gurgelt es herauf. Ein starker Wasserstrahl schießt aus dem Rohr, zwar immer noch gelb, aber nach und nach klärt er sich. Wir jubeln: »Wasser! Ganz richtiges Wasser!«

    »Die Pumpe geht schwer!«, sagt Mama außer Atem, »wird das so bleiben?«

    Papa meint, der Wasserspiegel liege zu tief, auch sonst sei es ein vorsintflutliches Ding, und Burgstädt habe sowieso keinen großen Wasservorrat. »Die wird wahrscheinlich immer wieder absaufen«, vermutet er, während er alle vorhandenen Gefäße voll pumpt. »Lasst also nie das Angießwasser ausgehen!«

    Mama und Tante Anni bringen die Töpfe mit dem Wasser auf den Herd, den Eimer mit »Angießwasser« stellt Papa in die Waschküche. Elfi und ich bieten unsere Dienste in der Küche an, aber Mama schickt uns durch das Haus, um nachzusehen, was es noch alles zu tun gäbe. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. So ein altes Haus will schließlich entdeckt werden! Es knistert ja nur so vor Geheimnissen. Besonders der Dachboden, von dem wir noch nichts wissen.

    In der Bodentür steckt ein großer Schlüssel, den wir sogar umgedreht kriegen. Oben finden wir zwei hohe Räume mit Fensterluken zum Hof und zur Straße hin. Die alten Dachziegel hängen voll mit staubigen Spinnengeweben. Die Räume sind nicht durch Wände sondern durch mehrere Balken abgeteilt. Nirgends liegt etwas herum. Unter einer Dachschräge zieht sich auf dem Lehmboden ein Trägerbalken wie eine lange Bank von einem Wandende zum anderen. Wir balancieren darauf zur gegenüberliegenden Wand und entdecken an ihr eine Art gemauertes Bauschild. Die Schrift ist fast nicht zu entziffern, auch das Baujahr kann man höchstens erraten. Nur die ersten beiden Zahlen sind klar zu erkennen – »17« lese ich. Das andere sieht aus wie »45« oder so. »Mann, ist das ein alter Kasten!«, flüstere ich staunend, aber auch ein bischen ehrfürchtig. Das Schummerlicht regt uns dann aber zu allen möglichen Vorstellungen an. Verschiedene Arten von Spielen fallen uns ein – Verkleiden, Tanzen, Höhlen bauen – ganz anders der Keller, in den wir anschließend hinabsteigen. Wir haben einen brennenden Kerzenstummel dabei, dessen flackerndes Licht alles noch schauriger erscheinen lässt. Unten fällt uns der Stummel herunter und verlischt. Es ist schrecklich dunkel und still. Wir fürchten uns. Als wir uns zurücktasten wollen, ist uns, als würde uns etwas antatschen. Laut schreiend stürzen wir die Treppe hinauf. »Da unten is was!«, brülle ich voller Entsetzen.«

    »Was soll schon sein?« Papa zündet sich selbst eine Kerze an und sieht nach. Als er wieder oben ist, sagt er: »Ein schöner trockener Keller, nur etwas klein, wir werden gerade Kartoffeln und Rüben reinkriegen.«

    »Und was hast du gefunden?«, frage ich lauernd.

    »Nichts! Spinnweben! Neben der Treppe an einem Haken ein leerer Sack. Im Dunkeln kann man sich alles Mögliche vorstellen. Ich lege Licht, sobald ich Zeit habe.«

    Inzwischen haben sich Mama und Tante Anni in der Küche schon sehr weit vorgearbeitet. Es riecht nach frisch gescheuerten Dielen und frischgebrühtem Blümchenkaffe. Auf dem jetzt viel helleren Tisch stehen Teller und Tassen, ein Kuchen, Brot, Butter, Salz. In der Mitte aber, die Feierlichkeit stark unterstreichend, prangt Mamas Geburtstags-Alpenveilchen.

    Es ist ein schönes Gefühl – das Feuer im Herd, das siedende Wasser darauf, der frische Duft nach Sauberkeit, der volle Tisch, um den wir wenig später alle versammelt sind – ich bin glücklich, so sehr glücklich und müde, dass ich am liebsten nicht mehr in unsere alte Wohnung zurückkehren würde.

    - 3 -

    In der nächsten Zeit wird unsere Nummer 9, so gut es geht, bewohnbar gemacht. Ein schwieriges Unterfangen, denn es gibt kaum Baumaterialien. Der Kommandant vertröstet Papa mit der Zusicherung: »Der Handel wird bald aufblühen.« Aber wenn die Handwerker nicht etwas von ihren sorgsam versteckten Reserven herausgerückt hätten, wäre die Renovierung noch lange ein schöner Traum geblieben.

    Zunächst kommt Herr Abel, der Ofensetzer. Ich mag ihn nicht besonders, aber ich weiche ihm nicht von der Seite. Herr Abel rührt Lehm, Zement etc. an, dann stämmt er die erste Kachel aus dem Ofen des Wohnzimmers. Ruckzuck ist der Ofen bis zur Höhe der Feuerstelle abgerissen. Es staubt und stinkt. Ich stelle Frage um Frage. Herr Abel gibt sich Mühe, geduldig zu antworten. Aber irgendwie spüre ich, dass ihn meine Anwesenheit stört. Mir ist unbehaglich zumute, und ich verlasse den Raum.

    In dem Moment kommt Elfi.

    »Kennst du Herrn Abel?«, rede ich drauf los, »der kann mich nicht leiden, ich ihn auch nicht; erstens hat er unseren schönen Ofen eingerissen, zweitens glaube ich nicht, dass er ihn wieder aufbauen kann, und drittens ist er muffig!«

    »Der is nich muffig!«, erklärt mir Elfi, »der is nur komisch wegen seinem Kind.«

    »Wieso?«, frage ich ahnungslos.

    »Dem sein Kind is an Hundewürmern gestorben.«

    »An Hundewürmern?«

    »Ja, der Kleine, es war nämlich ein Junge, der durfte immer mit dem Hund spielen, er schlief sogar manchmal in der Hütte und hat mit ihm aus einem Napf gegessen!«

    »Iiih!«, rufe ich entsetzt und verziehe entsprechend das Gesicht.

    Elfi, angeregt durch mein Interesse, erzählt, dass Freesen Anna gesagt hat, dass dem Jungen, als er gestorben war, die Würmer aus allen Löchern gekrochen seien.

    Es schaudert mich.

    »Ja, und das ganze Gehirn war voller Würmer…« Elfi ist bemüht, mir keine Einzelheit dieser furchtbaren Geschichte vorzuenthalten.

    Herr Abel wird mir deswegen nicht sympathischer, aber ich bekomme schreckliche Angst vor Hundewürmern. Ich beschließe, mir von nun an und in allen Zeiten nach jedem Streicheln eines Hundes die Hände zu waschen und zwar stundenlang!

    Als ich später bei Herrn Abel wieder nach dem Rechten sehen will, packt er gerade seine Sachen zusammen. Der Ofen steht. Nur ist er um etliches kleiner geworden. Die schönen Schnörkelkacheln, die den Ofen oben und in der Mitte verziert hatten, fehlen. Ich frage danach und erfahre, dass sie nicht mehr modern seien. Mir wird ganz weinerlich zumute, und ich beschwere mich später bei Papa. Der aber behauptet, der Ofen wäre jetzt viel schöner als vorher.

    Mama ist es am wichtigsten, dass der Ofen gut heizt. Was soll ich dazu noch sagen!

    Nachdem Herr Abel auch den rosa Ofen »modernisiert« hat, ziehen die Maler ein. Na, die sind nett! Elfi sagt, das sei kein Wunder, schließlich kämen sie von der Firma »Engel«, ein solcher Name würde verpflichten!

    Die Maler erzählen lustige Geschichten, machen Witze und pfeifen bei der Arbeit. Mangels Tapeten streichen sie alle Wände weiß und rollen mit einer Muster-Gummiwalze blaue Glockenblumen darauf. Wohin man sieht – blaue Glockenblumen. Bis auf das Wohnzimmer, das bekommt rosa Glockenblumen.

    »Ach, wenn wir doch endlich Möbel hätten!«, seufze ich vor mich hin, als im selben Moment ein großer Laster vor dem Haus hält. »Na, du kannst wohl zaubern!«, sagt Mama und macht ihre geheimnisvollen großen Augen. Sie zieht mich hinaus zu dem Lastwagen, wo gerade die hintere Klappe des Wagens heruntergeklappt wird. Mein Blick fällt zunächst auf Omis Fahrrad, dann auf Omis und Opas große Standuhr, den großen Küchenschrank, Opas Klavier und den schönen Wohnzimmertisch mit den verzierten Stühlen. Ich traue meinen Augen nicht.

    »Ziehen Omi und Opa hier her?«, frage ich hoffnungsvoll.

    »Nein! Leider nicht«, lacht Mama, »sie geben uns nur von ihren Möbeln welche ab. Omi hat es mir geschrieben.«

    Ich bin enttäuscht. Die wundervolle Geste, das große Geschenk, das da vor meinen Augen ausgeladen wird, berührt mich erst mal nur schmerzlich. Traurig sehe ich zu, wie Mama einen von Opas schönen Teppichen im Wohnzimmer ausrollt, es ist der grüne aus dem oberen Zimmer, in dem Tante Grete mit Karlchen geschlafen hat. Die Möbel, die hereingetragen werden, machen sich gut darauf. Je mehr das Ganze aber Gestalt annimmt, desto mehr steigt auch mein Interesse. Als alles fertig ist, bedauere ich erst recht, dass Omi und Opa nicht mitgekommen sind, denn das Wohnzimmer ist so großartig geworden, wie ich es nicht für möglich gehalten habe – und dann diese Vertrautheit, die die Sachen ausströmen!

    Ich vermute, dass wir jetzt richtig reiche Leute sind, wobei ich Reichtum nicht mit großem Besitztum, sondern mit allem gleichsetze, was meinen Vorstellungen nach ein sicheres Leben garantiert – Haus, Hof, Tiere, Felder, Wiese, Wald – und das alles weit weg von der Stadt! Aufgrund meiner, wenn auch geringen Erfahrungen hat sich in meinem Kopf nämlich die Meinung festgesetzt, dass das Leben auf dem Lande wesentlich angenehmer ist als in der Stadt. Auf dem Lande kann man sehr weit sehen, es gibt wenige kleine Häuser, wenige Menschen, und man kann Tiere streicheln. In der Stadt wird man von Häusern eingeengt, von Menschen bedrängt, und es ist viel gefährlicher. Auf dem Lande fielen im Krieg nämlich, soweit ich weiß, keine Bomben, und es gab besseres Essen. In der Stadt gab es Luftangriffe, viele Soldaten und wenige, schlechte Lebensmittel.

    Ich will nicht sagen, dass ich nicht gerne in der Stadt gewohnt habe. Mama hat immer aus allem das Beste gemacht, aber vom Krieg hat man immer nur etwas in der Stadt gemerkt. Auf dem Land hab ich an den Krieg gar nicht gedacht.

    Ich sehe mich in unserem traumhaften Wohnzimmer um mit der festen Überzeugung, dass das Leben jetzt erst richtig anfängt und alles lohnenswert und wundervoll ist.

    Mama schließt das Klavier auf und sagt: »Na? Da werden wir wohl einen Klavierlehrer für dich suchen müssen.«

    Ich habe keine Vorstellung von Klavieren. Opa spielte nie in meiner Gegenwart. Ich hatte das Klavier lediglich als Möbelstück wahrgenommen, welches ständig verschlossen war. Eigentlich sehe ich heute zum ersten Mal eine Tastatur. Ich tippe zaghaft mit dem Finger auf eine Taste. Ein schräger Ton ist zu hören. Nicht sehr toll.

    »Es muss erst gestimmt werden«, erklärt Mama strahlend, »dann hört es sich ganz anders an.«

    Als Papa mittags nach Hause kommt – irgendwie hat er während seiner Arbeit im Büro von der Möbelankunft erfahren – staunt er nicht schlecht über das supertolle Wohnzimmer.

    »Wirst du auch das Klavierspielen lernen?«, bestürme ich ihn.

    »Ach, ich konnte schon mal ganz schön spielen«, sagt er, »aber dann kam das hier«, er zeigt mir seinen verstümmelten Zeigefinger, den er als Kind beim Holzhacken eingebüßt hatte, »und dann war es vorbei.« Papa ist sehr gerührt, dass Omi und Opa sich von ihren schönen Möbeln getrennt haben, und dass Omi sogar ihr Fahrrad mitgeschickt hat. Für Mama und mich ist das nichts Außergewöhnliches. Wir kennen Omi und Opa, auch unsere Verwandten besser – wer in der Familie mehr hat, gibt dem, der weniger hat, etwas ab – das ist ihr Grundsatz. Omi zieht in diesem Sinne ihre Kreise weiter als Opa, aber wenn es sich nicht gerade um die letzten Lebensmittel in schlechten Zeiten handelt, ist Opa auch sehr großzügig.

    - 4 -

    Weil der Tischler nicht mit den Bettgestellen für Mama und Papa vorankommt, wohnen wir noch immer bei Frickes. Ich habe ja mein großes weißes Bett, Mama und Papa aber müssen seit dem hinterhältigen Überfall der Holzmanns auf dem Fußboden schlafen, auf Matratzen, die Frickes uns geliehen haben.

    Fast jeden Tag verbringen wir einige Zeit in unserer Nummer 9. Überall sind die Handwerker am Werk. Es wird Brennholz angefahren, der Bauer Schulze Richard bringt uns Stroh und Heu, und unser Keller wird mit Futterrüben und Kartoffeln gefüllt. Wenn unsere Kühe später umziehen, müssen sie ja versorgt werden.

    Papa lässt sich von Bauern beraten und helfen. Täglich geschieht etwas Neues. Ich stecke meine Nase in alle Dinge und fühle mich glücklich.

    - 5 -

    Was die Schule betrifft, so hat sich alles ganz schnell eingependelt. Mit den inzwischen im Schloss einquartierten Kindern und den immer noch eintreffenden Flüchtlingskindern nimmt die Zahl der Schüler in den Klassen zwar weiterhin zu, aber die Heimkinder und alle anderen sind nett und werden freundlich und neugierig von uns aufgenommen.

    Langsam beginnt mir die Schule sogar Spaß zu machen, nicht zuletzt deshalb, weil ich mit einigen Kindern schon etwas befreundet bin. Während der Pausen unterhalten wir uns miteinander oder spielen Hinkelhoppe, was manche auch »Hopse« nennen.

    Auch die Mädchen aus der höheren Klasse finde ich nett, zum Beispiel Renate Anders. Sie ist ein bildhübsches Mädchen mit blonden Zöpfen, und sie hat so schmale Augenschlitze, dass ich sie eines Tages frage, ob sie dadurch auch etwas sehen kann.

    Renate lacht schallend los und lockt damit noch mehrere Mädchen heran. »Natürlich kann ich sehen!«, erklärt sie, »man sieht doch nicht mit den ganzen Augen, sondern nur mit der Pupille – hier!« Sie reißt, so weit es ihr möglich ist, die Augen auf. »Sieh mal, hier! Der schwarze Kreis! Das ist die Pupille. Damit sieht man!« Daraufhin sehen wir uns alle in die Augen, machen Faxen und Fratzen und lachen durcheinander. Jedenfalls sind wir uns auf diese Weise wieder etwas näher gekommen.

    - 6 -

    Das Faschingsfest steht vor der Tür. Die Burgstädter nennen es »Fassnachten« und machen ein Riesenfest daraus. In diesem Jahr halten sie sich allerdings zurück. Man weiß nicht recht, ist Fassnachten jetzt ein dekadentes Kapitalistenfest, das man abschaffen oder eventuell kommunistisch umwandeln muss – womöglich reicht es, russische Musik zu spielen und es »Befreiungsfest« zu nennen. Man wartet ab, berät sich, dann aber überwiegt die Unsicherheit. Der Bürgermeister sagt: »Vielleicht nächstes Jahr! Ein solches Fest – so kurz nach’m Krieg – is doch pietätlos!«

    Anders die Kinder. Eines Tages flüstert mir Renate zu: »Bei Ali is Fassnachten!«

    »Mit Pfannkuchen?«, frage ich, weil ich es aus Berlin so kenne.

    »Nee! Mit Tanz! Bei Alis Großvater in seine Frisörstube!«

    Gitti Bader, ein hübsches Mädchen, gesellt sich zu uns. »Gehste?«, fragt sie Renate.

    »Klar!«

    »Vielleicht komm‘ ich auch!«, beeile ich mich zu sagen.

    »Gitti sieht mich abschätzend an. »Na ja, wenn de willst – kannste denn tanzen?« Sie traut es mir nicht zu, was mich verwundert, denn Kreisspiele kennt doch jeder. »Klar kann ich tanzen!«, antworte ich. »Wer kommt denn noch alles?« Es gelingt mir, das Gespräch noch etwas in die Länge zu ziehen, bis ich endlich heraus habe, wer Ali und wer sein Großvater ist. Bei dem Großvater handelt es sich um den Friseurmeister Albert Korb, der oben in der Lindenstraße seinen Salon hat. »Ali«, der in Wirklichkeit Manfred heißt, ist sein einziger Enkel. Sein Spitzname Ali ist eine Abwandlung von Albert, dem Vornamen seines Großvaters. Bei den Mädchen ist er der begehrteste Junge im Dorf. Er kann hervorragend Akordeon spielen und hat ein draufgängerisches Wesen. Wenn er einem Mädchen nur einmal zulächelt, gehört sie schon zur Elite!

    Gleich nach Ali kommt Wolfgang Albrecht, der Sohn des Gastwirtes aus dem Gasthaus schräg gegenüber von unserer Nummer 9. Auch er wird von den Mädchen bewundert. Sein Spitzname ist »Pan«, warum, weiß keiner.

    Beide Jungen haben weder äußerlich noch im Wesen etwas gemein. Ali ist ein blonder Lockenkopf mit einem wirklich aufregenden Gesicht. Er ist eher zart als kräftig gebaut, nicht groß, aber in seinen Bewegungen elastisch und irgendwie herausfordernd. Wolfgang ist vom Typ her dunkel. Er ist das Ebenbild seiner Mutter, die durchaus aus Persien oder Indien stammen könnte, wie Mama mal andeutete. Wolfgang hat schwarze Haare und dunkelbraune tiefgründige Augen. Auch er ist nicht groß, aber flink wie ein Wiesel. Wolfgang kann virtuos Klavier spielen. Er hatte nie Unterricht, aber das Klavier stand auf der Bühne im Tanzsaal seines Vaters, später kam auch eins in sein Zimmer. Wolfgang probierte, fand Spaß daran und bildete sich selbst ohne Notenkenntnisse zu einer Art Profi aus. Jedes Lied, das er kannte und spielen wollte, gelang. Jedenfalls hörte ihm jeder gerne zu, und mancher nannte ihn den »Kleinen Mozart«.

    Wolfgang und Ali sind Freunde. Sie sind beide zehn Jahre alt, sehr intelligent, aber es heißt, dass sie in der Schule »stinkenfaul« seien und nur Flausen im Kopf hätten.

    Zu ihnen gehört auch Roland Brock, ein großer sehniger Junge mit ernstem Gesicht. Ihm geht es offenbar nicht um Mädchenbewunderung, faul ist er auch nicht, aber Streiche sind seine Spezialität.

    Roland wohnt auf einem abseits gelegenen Bauernhof mit seiner Mutter und seinen beiden älteren Schwestern. Der breite Weg neben Fleischer Kuebler führt direkt zu Brocks Hof und heißt deshalb bei allen »Brocks Lücke« – »Lücke« deshalb, weil er die geschlossene Häuserreihe unterbricht. Durch ihn entsteht quasi eine Lücke.

    Rolands Vater wurde beim Einmarsch der Russen erschossen. Ganz abgesehen von dem Schmerz und dem Kummer deswegen, muss die Familie seitdem hart kämpfen, um den Hof zu erhalten, und Roland muss eine volle Arbeitskraft ersetzen. Zum Glück braucht er für die Schule nicht extra zu lernen. Ihm fliegt sozusagen alles zu, so dass er bald der Beste seiner Klasse ist. Auch sonst macht er einen ruhigen vernünftigen Eindruck. Für seine Freunde aber ist er der unerreichte Anführer und Stratege, der die besten Ideen hat und keine Gelegenheit für einen Schabernack auslässt.

    Diesen drei Jungen schließt sich auch gern noch ein vierter Junge an, der hochgewachsene muskulöse Buske, wobei das »B« immer wie »P« gesprochen wird. In Burgstädt sagt man auch »Putter« statt »Butter«! Buske, seinen Vornamen kennt kaum einer, ist etwas schwerfällig und lässt sich gerne von seinen wendigen Freunden mitziehen. Er wohnt in dem Haus neben Fleischer Kuebler. Zwei prächtige Linden stehen davor.

    Es gibt noch etliche andere Jungen, die zu Ali gehören, aber keiner ist dabei, dem ich etwas abgewinnen könnte. Ich schwärme für Willi Grunert, dem Jungen vom Postamt. Willi geht in meine Klasse und ist verträglicher als die anderen. Wir haben auch schon miteinander Ball gespielt und uns unterhalten. Willi ist ein besonders hübscher Junge, und er kann mich, wie ich glaube, ebenfalls leiden.

    Am Faschingssonnabend ziehe ich mein einziges noch passendes Kleid an. Mama sagt, ich sehe gut aus. Ich fühle mich auch so, nur die Schuhe drücken. Ich muss die Zehen etwas krümmen, dann geht es.

    Um Korbs Salon nicht allein betreten zu müssen, gehe ich den anderen Mädchen bis zur Linde entgegen. Alle kichern und nehmen mich in ihre Mitte. Wir frieren, denn richtiges Winterzeug hat keine von uns. Deshalb rennen wir, dass uns warm wird. Bevor wir Korbs Salon betreten, lachen wir uns noch einmal richtig aus, dann stürmen wir die »Festung«.

    Dort herrscht schon tolle Stimmung. Die meisten Anwesenden sind Jungen, die uns halb verlegen, halb übermütig begrüßen. Plätze gibt es wenige, aber es soll ja auch getanzt werden.

    Ali spielt Akkordeon. Auch er hatte noch nie Unterricht, aber er beherrscht schon sämtliche gängigen Tanzmelodien. Gerade spielt er »Waldeslust«.

    Ich hatte mich nie für Tanzmusik interessiert und glaubte tatsächlich immer, dass es sich bei »Tanz« um Kreisspiele handelt. Ich weiß nicht, dass es Walzer, Tango und andere Tanzrhythmen gibt, von Tanzschritten ganz zu schweigen. Irgendwie warte ich jetzt darauf, dass einer erklärt, um welches Kreisspiel es sich hier handelt. Ich fühle mich unsicher, traue mich aber nicht, jemanden zu fragen. Martin Möller kommt auf mich zu und sagt: »Darf ich bitten?« Erleichtert nicke ich. Er wird wissen, wie es geht. Aber oh je – Martin kann ebenso wenig tanzen wie ich! Wir stolpern mit viel Eifer neben den hinzukommenden Tanzpaaren her. Andauernd rempeln wir sie an, ernten manch bösen Blick, aber keiner von uns nimmt die Schuld auf sich. Schweigend schieben wir sie uns gegenseitig zu.

    Während des nächsten Liedes tanze ich mit Fredi Arens. Fredi ist ein kleiner freundlicher Junge, etwa ein Jahr älter als ich. Er wohnt neben dem Gasthaus Albrecht. Mit ihm hab ich auch schon mal Ball gespielt. Während des Tanzes mit Martin hatte ich versucht, mich auf die Musik einzustellen, aber Martin ging darauf nicht ein. Und dann konnten wir uns über die Richtung nicht einigen. Fredi dagegen überlässt sich ganz meiner Führung, und so schieben wir uns wenigstens im Gleichschritt über die Tanzfläche.

    Und dann geht die Tür auf und Willi Grunert kommt herein. Nun beginnt das Fest ein bisschen Spaß zu machen. Eigentlich hatte ihm seine Mutter verboten, herzukommen, wie ich von einem anderen Jungen erfahren habe, aber so hart konnte Frau Grunert dann wohl doch nicht sein. Ich gehe auf Willi zu und begrüße ihn.

    »Na? Durfteste doch?«

    »Nee! Bin ausjerückt!«, antwortet er strahlend. Er wirft seine Jacke zu den anderen Jacken und Mänteln in der Garderoben-Ecke und begrüßt seine Freunde.

    Frau Korb, Alis Mutter, kommt herein und stellt einen Krug mit Himbeerwasser auf einen der Frisiertische und ein Tablett mit Gläsern. Natürlich reichen die Gläser nicht für alle Kinder. Ich hasse Drängelei und bekomme nichts ab. Willi aber lässt mich aus seinem Glas trinken, was ich ihm hoch anrechne. Danach tanzen wir. Es geht gut. Ali spielt ausschließlich Walzer. Irgendwie hören wir uns in den Takt und kommen ganz prima über die Runden.

    Wolfgang Albrecht tanzt mit keinem anderen Mädchen als mit Renate Anders. Gitti Bader tanzt überhaupt nicht. Sie sitzt nur neben Ali und strahlt.

    Es kommen immer mehr Mädchen und Jungen, teils angelockt durch die Musik, die bis auf die Straße zu hören ist, teils aufgrund der Nachricht von Alis Fest, die sich in Windeseile verbreitet hat. Es ist ein Kommen und Gehen.

    Willi Grunert fällt auf, dass Fredi Arens nicht zu sehen ist. »Der wird schon heme sin«, sagt er zu mir und verabschiedet sich. »Wenn der mich bloß nich verpetzt!«

    Ich halte Fredi für vertrauenswürdig, aber Willi meint, Fredi wüsste ja nicht, dass er nichts sagen darf. »Wiedersehen!«, verabschiedet er sich, und ich merke, dass er eigentlich gerne noch bleiben würde.

    »Wiedersehen!« Ich wende mich wieder dem Trubel zu. Es lacht und tanzt an mir vorbei. Ali spielt draufgängerisch Ziehharmonika. Alle haben ihren Spaß. Ich stehe herum und fühle mich überflüssig. Mir tun die Füße weh, und ich vermute, dass sie durch das Tanzen ein Stück gewachsen sind.

    Ich versuche, in dem Garderobenhaufen meinen Mantel zu finden, aber Frau Korb muss mir helfen. Sie meint, dass es für heute sowieso genug sei und mahnt auch die anderen zum Aufbruch. Alle murren, versuchen mit den üblichen Tricks noch etwas Zeit heraus zu schinden, aber dann ziehen sie sich doch gehorsam an und gehen.

    Auf dem Nachhauseweg fühle ich weder Bedauern noch Nachfreude. Eigentlich fand ich die ganze Tanzerei langweilig und doof. Allerdings – eine leise kleine Ahnung, dass so etwas irgendwann einmal Spaß machen könnte, bleibt zurück.

    - 7 -

    Es ist der 7. März 1946 – ich werde 8 Jahre alt. Mama weckt mich früher als sonst. Auf dem Tisch steht ein Schneeglöckchenstrauß aus Frickes Garten, ein Gugelhupf mit einer selbstgefertigten Papier-Spitzenserviette und eine alte Wagner-Klavierschule mit einer Wollkordelschleife verziert.

    Verschlafen sehe ich mir meine Geschenke an. Mit der Klavierschule kann ich nichts anfangen. »Was is’n das?«, frage ich.

    »Eine Klavierschule«, sagt Mama mit vielversprechendem Blick. Sie blättert in dem Buch. »Die schwarzen Punkte sind Noten – Töne, weißt du? Es gibt hohe und tiefe Töne – sieh mal!« Mama zeigt auf die Notenlinien. Die Noten, die oben auf den Linien stehen, werden oben auf der Tastatur gespielt und sind hohe Töne.« Mama singt einen hohen Ton. »Die unteren Noten werden unten gespielt und sind tiefe Töne.«

    Jetzt bin ich hellwach. Das ist ja ganz einfach, denke ich, das kann ich auch ohne Klavierlehrer. Ich nehme mir vor, nachher ordentlich drauflos zu klimpern.

    »Die Noten haben alle einen Namen«, erklärt Mama, »man kann sie richtig lesen. Jede Note hat ihren bestimmten Platz auf der Tastatur. Dieser kleine Punkt hier heißt zum Beispiel C, der daneben D, und wenn du ihre Namen kennst, weißt du genau, welche Taste du anschlagen musst.«

    »Kannst du Noten lesen?«, frage ich

    »Ja, lesen schon.«

    »Wirst du auch spielen lernen?«

    »Ja, vielleicht.« Mama sieht etwas nachdenklich aus. Aber dann lacht sie wieder. »Wir werden es beide lernen, nicht wahr? Aber jetzt müssen wir uns beeilen, denn heute ziehen wir um.«

    »Heute?«

    »Gestern hat der Tischler Bescheid gesagt. Die Betten sind fertig und werden heute geliefert.«

    »Juchuu!«, schreie ich und ziehe mich an. »Kann ich nicht die Schule schwänzen?«

    »Ach woher!« Mama schüttelt wie über einen Scherz den Kopf und reicht mir die Schulbrote. »Wie sollen dir denn die Kinder zum Geburtstag gratulieren?«

    »Aber ich könnte doch beim Packen helfen«, versuche ich es noch einmal.

    »Unser Bisschen ist schnell gepackt.« Sie schiebt mich aus der Tür.

    »Hallo Evi!« Elfi kommt angerannt, eine kleine Schachtel mit einer hellblauen Schleife in der Hand. »Das ist für dich!«, schreit sie schon von weitem. »Es ist etwas ganz Schönes!« Atemlos bleibt sie vor mir stehen und gibt mir das Kästchen. »Ich gratuliere dir zum Geburtstag!«, sagt sie strahlend.

    Ich strahle zurück. »Danke!« Gespannt will ich das Kästchen öffnen. Mama nimmt es mir aus der Hand und mahnt uns zur Eile. Sie verspricht, das Kästchen mit in die Nummer 9 zu bringen.

    Elfi zieht mich auf die Straße. »Ich sage nicht, was drin ist«, erklärt sie spitzbübisch, »brauchst gar nicht zu fragen!«

    »Und wenn ich doch frage?«

    »Frag doch!«

    »Was ist drin?«

    »Sag ich nicht! Hi, hi!« Elfi rennt los. Ich hinterher. Sie kann gut rennen. Ich hab Mühe, ihr zu folgen. Hin und wieder dreht sich Elfi um oder läuft rückwärts und schreit lachend: »Sag ich nicht! Sag ich nicht!« Sie sagt wirklich nichts, aber wenigstens kommen wir auf diese Weise nicht zu spät zur Schule. Dort erzählt Elfi allen Kindern, dass ich Geburtstag habe. Mir wird von allen Seiten gratuliert. Ich stehe plötzlich im Mittelpunkt. Es ist mir peinlich aber auch angenehm. Als der Unterricht beginnt, erzählt Elfi es sogar Fräulein Brühl.

    »Ach, die Evi hat Geburtstag«, Fräulein Brühl neigt sich freundlich zu mir. »Wie alt bist du denn geworden?«

    »Acht!«, antworte ich verlegen.

    »Hast du denn auch ein Geschenk bekommen?«

    »Schneeglöckchen, Kuchen und eine Klavierschule und ein Kästchen mit einer blauen Schleife. Ich weiß aber noch nicht, was drin ist.«

    »Ich sage es auch nicht!«, lacht Elfi vergnügt. Die ganze Klasse lacht. Alle ergehen sich jetzt in Vermutungen darüber, was in dem Kästchen wohl verborgen sein könnte. Fräulein Brühl macht den Spaß mit.

    Plötzlich schreit Harry Schulze: »Ick weeß, wat drin is – Katzendreck!«

    »Hundescheiße!«, schreit Sobottka, der frechste Junge der Schule.

    »Nee!«, widerspricht Harry, »Schweinefurz!« Keiner lacht so spitzbübisch wie er.

    Fräulein Brühl klatscht in die Hände, zu viel Übermut kann sie nicht dulden. Aber eine so schöne Sache wie einen Geburtstag will sie nicht verschimpfen. Zum Glück reagieren die beiden Spaßvögel.

    Zu meinen Ehren wird noch ein Lied gesungen, Fräulein Brühl wünscht mir Glück und alles Gute und beginnt mit dem normalen Unterricht. Die Geburtstagsstimmung in mir verfliegt aber nicht.

    Nach der Schule beeilen Elfi und ich uns, in die Nummer 9 zu kommen. Vor der Tür steht ein Pferdefuhrwerk. Der Stellmacher Herr Spangenberg liefert gerade die Betten. Elfi und ich beobachten, wie er und sein behinderter Sohn Max die Teile ins Haus tragen. Dabei erklärt mir Elfi, dass Max nicht dumm sei, auch wenn er so aussähe. Er könne nur nicht richtig sprechen und sei etwas verwachsen, aber sonst sei er lieb und hilfsbereit.

    »Warum kann er denn nicht sprechen?« Max erregt mein Interesse.

    »Freesen Anna sagt, die Geburt sei so schwer gewesen. Max soll so dick und schwer gewesen sein.«

    »Na und? Meine Mama sagt, ich sei auch groß und schwer gewesen«, erkläre ich oberschlau, »und ich kann trotzdem sprechen!«

    »Ja, aber – Freesen Anna sagt, der Max is steckengeblieben!« Elfi sieht mich so an, als hoffe sie, dass ich nicht weiterfrage. Aber ich denke nicht daran. Ich bin erschüttert. »Wo denn steckengeblieben?«, frage ich eindringlich. Wir wissen zwar, dass sich die Babies vor der Geburt im Bauch der Mutter befinden, unter dem Herzen, wie man uns so schön beigebracht hat, aber wo sie herauskommen, wissen wir nicht.

    Elfi überlegt angestrengt, dann sagt sie unsicher: »Vielleicht im Hals!«

    »Nein!«, lehne ich entschieden ab, »dann wäre die Mutter ja erstickt!« Ich würge demonstrativ.

    »Vielleicht im Bauchnabel!«, bietet Elfi weiter an.

    »Nein!«, sage ich, »der Bauchnabel ist zugewachsen.«

    »Dann weiß ich auch nicht!« Elfi runzelt die Stirn. »Aber irgendwo muss er doch steckengeblieben sein!« Uns fallen zwar etliche Möglichkeiten ein, wo Max steckengeblieben sein könnte. Wir kreischen nur so bei den verrückten Vorstellungen. Dann aber beschließen wir, irgendwann Freesen Anna zu fragen, was wir uns natürlich nicht trauen.

    Drinnen herrscht eine angenehme Atmosphäre. Alle Räume sind warm, es riecht nach frischgescheuerten Dielen, und auf dem Stubentisch steht eine blühende blaue Hyazinthe. Ich fasse es nicht. Ich stürze auf sie zu und sauge gierig ihren Duft ein. Blaue Hyazinthen sind neben Schneeglöckchen für mich die Blumen aller Blumen. Ich habe sie in Gerke in der Gärtnerei kennengelernt.

    Mama ruft uns in die Küche, wo wir uns jeder vor eine riesige Portion Kartoffelpüree mit brauner Butter setzen müssen. Wir hauen rein, als hätten wir keine Schulbrote mitgehabt. Danach beeilen wir uns, mit den Hausaufgaben fertig zu werden.

    Es klingelt. Mama öffnet. »Kommt schnell!«, ruft sie uns, »der Umzugswagen ist da!«

    Wir rennen hinaus. Papa reicht mir einen Kartoffelsack, in dem meine Spielsachen sein sollen. Ich schnappe nach Luft: Puppe Edith und die Teddies in einem Kartoffelsack! Na, die werden verdreckt sein!

    Wir helfen schnell, den Wagen abzuladen, mein Bett wird im Schlafzimmer an der linken Wand aufgestellt. Der dazugehörige Tisch und der Sessel finden unter dem hinteren Fenster der Wohnküche Platz. Während Elfi und ich im Wohnzimmer den Bücherschrank einräumen, deckt Mama in der Küche den »Kaffeetisch«. Als wir später Platz nehmen, steht neben meiner Tasse Elfis geheimnisvolles Päckchen. Mit gespielter Hast schnappe ich es mir.

    »Erst raten!«, verlangt Elfi.

    »Nein!«, protestiere ich, »hab lange genug gewartet.« Ich reiße die Schleife herunter und öffne das Päckchen mit einem Ruck.

    »Halt!«, schreit Elfi, »Vorsicht!!« Zu spät! Der ganze Inhalt des Päckchens – bunte schillernde Glasperlen – verteilt sich auf dem Küchenfußboden. Mit einem Aufschrei stürze ich hinterher, aber es rollt in alle Richtungen. Wir kriechen unter den Tisch, suchen unter dem Schrank, in den Dielenspalten und Dielenlöchern. Endlich haben wir die Perlen wieder beisammen. Ich bin entzückt über so viel bunte Pracht. Außerdem fassen sie sich so schön glatt an. Etwas Derartiges gibt es jetzt nirgends zu kaufen, also stammen sie aus Elfis Spielzeugkiste. Sie bestätigt es. Ihr Verhalten dabei zeigt mir, dass sie selber Freude an den Perlen hat. Darum schlage ich vor, sie zu teilen. Sie stimmt zu. Mama vertraut uns ihre beiden einzigen Nähnadeln an, spendiert uns dazu je einen schwarzen Zwirnfaden, und, während wir Kuchen essen, fädeln wir Perlen auf. Sie reichen tatsächlich für zwei schöne Ketten.

    Papa, der Frickes den Pferdewagen zurückbringen muss – er hat sich das Wagenlenken von Schulze Richard, dem Milchkutscher, beibringen lassen – schlägt vor, dass wir die kleine Fahrt alle zusammen machen und Elfi dabei nach Hause bringen.

    »Dann lass uns doch gleich auch Mohrchen abholen!«, versuche ich mit entsprechender Miene Papa zu überreden.

    »Meinetwegen«, sagt Papa, »weil du Geburtstag hast.«

    Nun kann es mir ja nicht schnell genug losgehen, denn endlich, endlich kann ich meinen kleinen Hund nach Hause holen.

    »Übrigens, die Kühe müssen wir morgen holen«, sagt Papa zu Mama, während er uns durchs Dorf kutschiert, »die eine ist krank geworden. Ich hab Strecker schon Bescheid gesagt. Der ist ja Tierarzt.«

    Fricken Mutter hält schon Ausschau nach uns und öffnet das Hoftor. »Strecker war schon da«, sagt sie. »Er lässt ausrichten, dass da nischt mehr zu machen is.«

    »Bring Elfi schnell nach Hause und geh den Hund holen«, sagt Papa zu mir, »komm aber gleich zurück!«

    Während Papa und Mama nach der Kuh sehen – Mama muss außerdem noch die andere Kuh melken – rennen Elfi und ich zu Margitta, um Mohrchen abzuholen. Elfi hat es eilig und verabschiedet sich gleich. Margitta gibt mir noch ein paar Tips, wie ich mich Mohrchen gegenüber verhalten soll, wenn er nach seiner Mama jault. Ich aber bin viel zu unruhig, um lange zuzuhören, nehme den Kleinen unter meine Jacke, sage tschüss und renne zurück zu Frickes.

    Mama steht schon wartend auf der Straße. »Komm«, sagt sie mit ernstem Gesicht, »wir müssen Kuebler holen, die Kuh stirbt sonst. Papa bleibt so lange bei ihr.«

    So schnell wir mit unserem »Gepäck« laufen können – Mama mit dem Milcheimer, ich mit Mohrchen unter dem Arm – eilen wir ins Dorf zurück zu Herrn Kübler. Er ist gerade beim Abendessen, aber er macht sich sofort auf den Weg zu Frickes.

    Papa kommt spät nach Hause. Ich liege bereits im Bett, stehe aber schnell noch mal auf. Papa berichtet, dass die Kuh notgeschlachtet werden musste. Sie hätte irgendeine Infektion gehabt, für die es zurzeit keine Medikamente geben würde. Das Fleisch sei aber genießbar. Herr Kuebler habe es mitgenommen.

    Tief traurig gehe ich wieder ins Bett.

    Mein kleiner Hund hat einen Strohsack unter der Bodentreppe bekommen, der ihn aber vorerst nicht interessiert. Er rennt aufgeregt vom Flur in die Waschküche und wieder zurück und winselt. Ich stehe wieder auf, nehme ihn in den Arm und versuche, ihn zu trösten. Es scheint zu gelingen, denn er leckt meine Hände. Sein kleiner Ringelschwanz wackelt freudig hin und her. Irgendwie fühle ich mich durch ihn nun auch getröstet. Als ich sein kleines Herzchen klopfen fühle, muss ich dennoch losheulen. Am liebsten würde ich ihn mit ins Bett nehmen. Er tut mir so leid, weil er ja immerhin die erste Nacht ohne seine Mutter verbringen muss, aber Elfis Geschichte von den Hundewürmern hat ihre Wirkung noch nicht verloren. Ich bringe Mohrchen in die Wohnküche, wo Mama verspricht, sich um ihn zu kümmern. Nachdem ich mir gründlich die Hände gewaschen und »Gute Nacht« gesagt habe, ruft mir Mama hinterher: »Merke dir, was du träumst, denn was man die erste Nacht in einem neuen Haus träumt, geht in Erfüllung! Besonders wenn man Geburtstag hat!«

    Bloß nicht, denke ich, denn mir ist wegen Mohrchen, aber auch wegen der armen Kuh so traurig zumute, dass ich nicht mit einem schönen Traum rechne. Immer wieder stelle ich mir vor, was wohl unsere noch lebende Kuh für Angst ausgestanden haben musste, als man die Gefährtin neben ihr schlachtete.

    Die Müdigkeit packt mich zwar bald‚ aber die Gedanken weigern sich noch lange, mich endlich in Ruhe zu lassen.

    - 8 -

    Am nächsten Morgen reißt mich Mama aus dem Schlaf: »Evi, Evi!«, schreit sie, »Mohrchen ist weggelaufen, du musst hinterher und…«

    Ich höre Mama gar nicht weiter zu. Schwupp, bin ich aus dem Bett, raus aus der Stube, raus aus dem Haus – da ist er ja! Gegenüber, bei Buskes. Ich hinterher, barfuß und im Nachthemd. Meine einzige Aufmerksamkeit gilt Mohrchen und seinem Ringelschwanz. Ich rufe ihn ein paar Mal. Er versteht mich wohl, denn Margitta hat ihn an seinen Namen gewöhnt. Er guckt nach mir mit schrägem Blick, tut aber so, als ginge ich ihn nichts an. Kaum will ich ihn fassen, saust er wieder los. Ich werde böse, schreie ihn an, locke ihn freundlich, bitte ihn. Er lässt mich links liegen und beschnuppert eine von Buskes Linden. Ich verstecke mich hinter dem anderen Baum, irgendwann wird er auch den beschnüffeln, hoffe ich. Immerhin ist er schon fast ein Jüngling, der sein Bein hebt, um allen anderen Hunden eine Nachricht zu hinterlassen. Es klappt. Er sieht mich nicht und, gerade als er elegant sein Beinchen hebt – zack – hab ich ihn am Ringelschwanz gepackt. Er will sich losreißen, entkommt mir aber nicht.

    Mama steht in der Tür und winkt ungeduldig. Sie hat Angst, dass ich mich erkälte. Kaum bin ich mit Mohrchen im Hausflur, scheucht sie mich ins Schlafzimmer, dass ich mich warm anziehe, und sie verbietet mir, noch einmal so »nackend« auf die Straße zu rennen. Mohrchen bekommt einen Klaps. Dann dürfen wir frühstücken.

    - 9 -

    Nach der Schule machen wir uns an das Auspacken der Umzugssäcke. Unsere Sachen sind schmutzig und eingesandet.

    Beim Auspacken wird Mama erst richtig bewusst, was uns alles noch fehlt, besonders die Sachen, die wir bei Frickes mitbenutzen durften. Das ganze Küchengerät, wie Töpfe, Kellen, Besteck. Wir brauchen Eimer, Schüsseln, Besen, eine Wanne zum Baden und so vieles andere. »Und nichts gibt’s zu kaufen!«, stöhnt Mama.

    Mir fehlt gar nichts. Ich bin zufrieden. Ich fühle mich wohl auf meinem Platz in der Küche am Fenster. Von hier aus kann ich auf unseren Torweg und die kahle Wand des Bäckerhauses sehen. Sicher, kein erhebendes Bild, aber ich habe einen eigenen Platz und sozusagen ein eigenes Fenster mit breitem Fensterbrett, auf dem noch immer Mamas Alpenveilchen prangt. Mama hat sogar Vorhänge aus allen möglichen Resten zusammengestückelt, die ich ungemein vornehm finde. Überhaupt finde ich

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