5: Die erste Wanderung des Severin Kunz.
Von Felix Bachbetti
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Über dieses E-Book
Felix Bachbetti
Der 1969 geborene, unter dem Pseudonym Felix Bachbetti schreibende Autor war Finanzchef und Geschäftsleitungsmitglied eines mittelständischen Einzelhandelsbetriebs. Er ist studierter Betriebsökonom, betätigt sich auch als malender Künstler und lebt mit seiner Frau in der Nähe von Aarau in der Schweiz.
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Buchvorschau
5 - Felix Bachbetti
stellen.
1
Wütend geht Severin Kunz im Oltner Chöbu, seiner Lieblingskneipe, die Treppe zur Toilette hinunter, wuchtet die Türe auf und erschreckt dabei einen rotbärtigen Arbeiter beim Händewaschen fast zu Tode. Er murmelt eine Entschuldigung und geht zum Urinal, um sich zu erleichtern.
Er blickt zurück, wie der Abend bisher verlaufen war. Der Controller hatte seine ganze Argumentationskette durchschaut und ihn geneckt.
„Du willst bloss, dass keiner merkt, dass du den Führerschein los bist!, und etwas ernster, „immer willst du kontrolliert bleiben, dabei drehst du schon lange im roten Bereich. Seit Leah weg ist, bist du nicht mehr der Alte, egal wie fest du dir und mir etwas Anderes vormachst. Dies ist dein eigentliches Problem, nicht der Führerschein.
Ein Wort gab das andere und sie hatten sich gestritten, was bisher noch nie vorgekommen war.
Sein Kopf pocht vor Erregung und auch vom Alkohol. Seine Augen brennen. Beim Urinieren mustert er die Fliesen vor den Augen. In einer Reihe sind da abwechselnd weisse und schwarze Wandkacheln im ansonsten nur weiss gefliesten Raum. Wer immer sich dabei etwas gedacht hat. Weiss - schwarz - weiss - schwarz – weiss. Wie Schiessscharten einer Burg, die ihn nur teilweise schützen. Wie sein Leben. Er hatte Treffer abbekommen, immer wieder. Seine gut gebaute Burg stürzt ein, das ist ihm jetzt bewusst.
Kunz dehnt seine brennenden Augen nach allen Richtungen. Sein Blick streift dabei eine Werbefläche auf der Oberseite des Urinals. Der Hersteller preist hier die Werbefläche zur Miete an: ‚Sie suchen eine nachhaltige Alternative? Wir haben die Lösung!‘ steht da. Kunz denkt über das Gelesene nach. Nachhaltige Alternative.
Er geht zum Lavabo, wäscht sich die Hände und schaut gedankenverloren seinen von Alkohol und Wut geröteten Kopf an. Er kühlt den Kopf und vor allem seine brennenden Augen mit kaltem Wasser und trocknet sich langsam mit einem gezogenen Papiertuch die Hände. Zurück in der Gaststube schaut der Controller ihn mit einem schuldbewussten Blick an und entschuldigt sich. Kunz entschuldigt sich auch und murmelt, „du hast schon recht".
„Claudia, bitte noch zwei Maschinen für uns, ruft der Controller und die Bedienung bestätigt, „zwei grosse Weizen
.
„Eine nachhaltige Alternative, fängt er an, die Reklame immer noch im Kopf, „eine nachhaltige Alternative zu meinem jetzigen Leben brauche ich. Ich muss wieder zu mir kommen. Ruhe in mir selbst finden. Freude spüren.
„Ja, bitte", bestätigt der Controller.
Schweigend trinken sie die ersten Schlucke der frisch gezapften Weizenbiere.
„Und jetzt, was machst du daraus?", nimmt der Controller das Gespräch wieder auf.
Kunz zuckt mit den Schultern. „Den Urlaub habe ich eingegeben, und er wurde erstaunlicherweise auch ohne Probleme bewilligt, und nach einem erneuten Schluck, „fünf Wochen am Stück, das hatte ich letztmals in der Sekundarschule.
„Du scheinst Behrend mit deinem Wutausbruch – den übrigens jeder im Stockwerk hörte – ziemlich beeindruckt zu haben. Nur Minuten später kam er mit hochrotem Kopf in mein Büro und fragte mich, ob du private Probleme hättest. Dass er Behrend auf Kunz‘ aufgestauten Urlaubsanspruch aufmerksam machte, liess der Controller jetzt absichtlich aussen vor. „Du solltest dich von deinen trüben Gedanken verabschieden, Ruhe bekommen und vor allem einmal verreisen
, sagt er bestimmt und nach einem weiteren Schluck aus dem Bierglas, „wohin fährst du?"
Severin hebt ratlos die Schultern. „London? Aber ob dies mich zur Ruhe bringt?"
„Wohl eher nicht. Ich war letztes Jahr mit Marion in der Weihnachtszeit dort. Der Lärm, die vielen Leute, pures Überlebenstraining an den Fussgängerstreifen. Noch nachts im Hotelbett musste ich darüber nachdenken, ob ich jetzt rechts oder links schauen muss, damit ich nicht von einem der Taxis flach gewalzt werde", entgegnet der Controller.
Kunz grinst. Er weiss, dass der Controller am liebsten zuhause in seinem Garten werkte oder in Ruhe in der Garage an einem seiner Autos schraubte.
„Sieh einer an, da ist ja wieder einmal ein Lächeln zu sehen. Aber im Ernst: Du brauchst etwas, das dich zwingt, dich mit dir selber und deinen Gedanken zu beschäftigen. Und das geht nur mit viel Zeit und Langsamkeit."
„Zeit und Langsamkeit, wiederholt Kunz,
das habe ich ja auch zuhause."
„Nein, zuhause hast du den Fernseher. Der lenkt ab und regt auf. Du brauchst Bewegung und gleichzeitig Ruhe. Ruhe – Bewegung – Nachdenken. Eine Fahrradtour – mit dem Zelt zum Beispiel. Eine Fahrt dem Rhein entlang".
Kunz verdreht die Augen. „Fahrrad. Rhein. Mir dreht sich jetzt schon alles. Und denk mal, ich bin ja nicht wirklich so praktisch veranlagt. Wie sollte ich also ein Zelt aufstellen, danach nachts wilden Hippies zuhören, die von schlecht gestimmten Gitarren begleitete Lieder singen oder tagsüber besoffene Holländer ertragen, die vor ihren Wohnwagen mit Blumenkistchen ihre weissen Ranzen auf den Liegestühlen sonnen? Im Kopf stelle ich mir gerade die grellbeleuchtete Lorelei vor! Gleich kommt mir das Kotzen."
„Ist wohl noch nicht ganz das Richtige, aber die Richtung stimmt schon", entgegnet der Controller grinsend und scherzt weiter, „wie wär’s mit Wandern in einem einsamen Canyon. Nur du und die hungrigen Kojoten, sonst niemand. Pünktlich um sieben jeden Abend bringt dich eine schwarze Limousine in ein 5-Sterne Hotel, in dem dir dein omelette aux truffes périgord serviert wird und du im Himmelbett schlafen kannst."
„Schon viel besser."
Der Controller verdreht die Augen und ruft: „Claudia, zahlen bitte! Severin zahlt heute mit dem Sitzungs-Honorar, die Bedienung zieht fragend eine Augenbraue hoch und der Controller erklärt, „dem Sitzungs-Honorar für die heutige Inanspruchnahme meiner Dienste als Psychologe.
2
Das Treffen mit dem Controller hat ihm trotz des Streits gut getan. Severin Kunz tritt ins Freie und lässt die Kühle des Abends auf sich wirken. Er entscheidet sich heute für den Weg über die alte Holzbrücke, obwohl der Weg über die Bahnhofbrücke ihn schneller heimbringen würde. Er fühlt als Folge des Alkohols inzwischen eine behagliche Wärme und Dumpfheit in sich. Anfangs Holzbrücke fällt sein Blick auf ein Schild, das der städtische Werkhof an die Tür des öffentlichen Pissoirs geschraubt hatte. Eine Information, dass die Toilette aus Schutz vor Vandalismus ab 20 Uhr geschlossen sei.
In der Zeit als er noch mit Leah in einem Vorort der Stadt gewohnt hatte und immer nach dem Besuch im Chöbu nach Hause gelaufen war, waren Toiletten auch schon früh geschlossen, sei es an der Aarebrücke oder auch im Vögelipark, einem kleinen Park mit Voliere, der sich ebenfalls auf seinem Nachhauseweg befand. Einmal hatte er derart das Bedürfnis verspürt, sich zu erleichtern, dass er dies schliesslich mangels Alternative an der Friedhofsmauer tat. Sollten wenigstens die Toten etwas davon haben.
Er lächelt fies bei diesem Gedanken und hält mitten auf der leeren Holzbrücke. Er schaut ins Wasser, flussabwärts in Richtung Bahnhofbrücke. Gewitter in den vergangenen Tagen hatten zu einem recht hohen Wasserstand geführt. Vor einigen Jahren hatten sie in Bern die Asche eines verstorbenen Jugendfreundes in die Aare gestreut. Die Asche – hatte er sich immer vorgestellt – würde mit dem Wasser nach Olten die Aare abwärts, später in den Rhein und weiter vorbei an grossen Städten bis in die Nordsee getragen. Bei der Bestattung hatte er geheult wie nie zuvor. Inzwischen ist der Schmerz verflogen und irgendwie in die Ferne gerückt.
Kunz geht weiter durch die Winkelunterführung, dann den Geleisen nach bis zum Bahnhof. Es ist nicht viel Betrieb. Einsam dumpf klingen die vertrauten Lautsprecherdurchsagen zu irgendwann abfahrenden Interregio-Zügen. Er biegt in die Martin-Disteli-Strasse ein und geht die paar hundert Schritte hoch zu seinem älteren Reihenhaus aus den neunzehndreissiger Jahren. Er drückt das schmiedeeiserne Tor, welches mit einem Quietschen nachgibt und tritt in den schmalen Gartenweg.
Damals kurz nach der Scheidung von Leah, als er es im bisher gemeinsam bewohnten, grosszügigen Haus mit grossem Garten nicht mehr aushielt, da alles ihn an die Zeit mit Leah erinnerte, entschied er sich dazu umzuziehen. Ohne grossen Enthusiasmus studierte er die Anzeigen in einem grossen Immobilienanzeigen-Portal im Internet, als seine Aufmerksamkeit auf das kleine, von beiden Seiten eingebettete Reihenhäuschen mit vier Zimmern fiel.
Er hatte bei der bald darauf folgenden Besichtigung schon bei diesem schmiedeeisernen Tor, das mit einem Quietschen öffnete, gewusst, dass dies sein neues Zuhause werden würde. Er konnte sich nie entschliessen das Tor mit einem Tropfen Öl ruhiger zu machen. Er sah das Quietschen stets als Begrüssungs-Ritual seines Hauses.
Er musste in seinem Haus nicht viel renovieren lassen. Die Zimmer waren klein. Unter den Spannteppichen kamen Fichten-Riemenböden zum Vorschein welche er abschleifen und versiegeln liess. Im oberen Stock hatte er sich ein kleines Büro mit Blick auf die Martin-Disteli-Strasse eingerichtet. Auf die andere Seite, Richtung Hardwald, waren sein Schlafzimmer und ein Gästezimmer, welches er hauptsächlich als begehbaren Schrank benutzte. Das ganze Erdgeschoss war ein einziger Raum aus Wohnzimmer, Essecke und Küche. Die früher vorhandenen Türen wurden abmontiert und in den Keller gestellt. Die Vorbesitzer hatten in den neunzehnneunziger Jahren einen Schwedenofen und eine schlichte, aber moderne Einbauküche einbauen lassen. Da das Quartier nicht ans Gas angeschlossen war, dessen Einsatz Kunz in