Emsgrab: Kriminalroman
Von Wolfgang Santjer
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Über dieses E-Book
Dann macht die Besatzung eines Saugbaggers einen grausigen Fund. Hauptkommissar Jan Broning übernimmt die Leitung der 'SoKo Ems'.
Als bei der Überführung des neuen Kreuzfahrtschiffes der Cruise Liner-Werft ein Anschlag verübt wird und der Mitarbeiter einer Bagerfirma spurlos verschwindet, wird den Ermittlern klar, dass sie es mit skrupellosen Gegnern zu tun haben.
Wolfgang Santjer hat lange Jahre selbst bei der Wasserschutzpolizei gearbeitet und kennt das Leben und das Verbrechen auf und an der Ems aus eigener Erfahrung.
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Buchvorschau
Emsgrab - Wolfgang Santjer
Zum Autor
Wolfgang Santjer wurde 1960 in Leer geboren und lebt in Bingum an der Ems. 38 Jahre lang versah er als Polizeibeamter Dienst bei verschiedenen Polizeibehörden – angefangen beim damaligen Bundesgrenzschutz, dann der Wechsel zur Landespolizei. Weitere Stationen waren die Wasserschutzpolizei in Emden und Leer und die Autobahnpolizei in Leer, wo er sich unter anderem auf die Gefahrgutüberwachung spezialisierte. Als Ausgleich zu seiner Schreibtischarbeit als Autor schnitzt Wolfgang Santjer aus alten Schiffsdalben große Holzskulpturen für den Garten.
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Alle Rechte vorbehalten
(Originalausgabe erschienen 2013 im Leda-Verlag)
Herstellung: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: Susanne Lutz
unter Verwendung eines Fotos von: © cresk-stockadobe.com
ISBN 978-3-8392-6428-7
Haftungsausschluss
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Prolog
Zeitsprung
Jean Claude steuerte sein Binnenschiff durch den Nebel. Der Franzose hatte kein gutes Gefühl auf diesem letzten Teil der Reise. Durch die leicht geöffnete Tür des Ruderhauses drang das gleichmäßige Geräusch des Dieselmotors.
Seine Kollegen hatten ihm schon viel von diesem Fluss erzählt. Durch den Nebel warf er einen kurzen Blick auf die Beschriftung der riesigen Halle der Cruise Liner Werft. Über diesen schmalen Fluss manövrierten sie die Kreuzfahrtschiffe zur Nordsee?
Bei der Abfahrt in Delfzijl war die Ems noch sehr breit gewesen, aber mit jedem Kilometer in Richtung Leer und Papenburg wurde das Fahrwasser des Flusses enger.
Jean Claudes Frau stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf den kleinen Tisch am Ruder.
»Marie, schau mal, hier bauen sie die schönen Kreuzfahrtschiffe.«
»Warum bauen sie die nicht gleich an der Küste?« Typisch Marie. Immer vernünftig und überlegt.
»Ich weiß auch nicht – soll man die Deutschen hierfür bewundern …«
»… oder für verrückt erklären?«, vollendete Marie seinen Satz. »Nichts gibt es umsonst. Oder sind dir noch nicht die starke Strömung und das schmutzige Wasser aufgefallen? Die baggern sicher auf Teufel komm raus.«
Natürlich hatte er es bemerkt. Hoffentlich setzte ihm der Schlick nicht die Kühlleitungen zu. Bei dieser Strömung ein Motorausfall – nicht auszudenken. Ohne Maschinenantrieb würde das Schiff sofort aus dem Ruder laufen.
Mit einem flauen Gefühl im Magen steuerte Jean Claude sein Schiff weiter durch den Nebel und verdrängte die düsteren Gedanken.
Normalerweise fuhr er nicht bei Dunkelheit und Nebel in einem fremden Gewässer. Für diesen Fluss hatte er nicht mal das erforderliche Patent und sich entschlossen, die Kosten für den vorgeschriebenen Lotsen dann auch gleich noch zu sparen.
Seine Frau hatte ihn angefleht, den Lotsen an Bord zu nehmen, und es war wieder mal zum Streit gekommen, weil einfach nicht genug Geld da war. Jean Claude hatte die Hoffnung gehabt, mit einer frühen Abfahrt in Delfzijl einer Kontrolle zu entgehen. Man hatte ihn schon einmal ohne Lotsen erwischt und er konnte sich noch gut an das hohe Bußgeld erinnern. Außerdem hatte er damals bis zum Eintreffen des Lotsen eine Zwangspause einlegen müssen. Marie hatte sich gewaltig aufgeregt.
Das Schiff befand sich in Bergfahrt, direkt vor ihnen lag die Halter Brücke. Nach der Brücke waren es nur noch einige Flusskilometer, dann wäre die erste Schleuse der Kanalstrecke erreicht. Für das anschließende Kanalgebiet reichte sein Patent aus.
Marie war noch immer sauer auf ihn, weil er ohne Lotsen losgefahren war. Jean Claude hatte auf die dringende Überholung der Hauptmaschine und die gestiegenen Internatskosten für die Kinder hingewiesen. Die Frachtpreise waren durch die billige Konkurrenz aus dem Osten im Keller, deshalb musste er inzwischen Transporte auch in diese für ihn zu entfernten Gebiete annehmen. Die Kanalgebühren, der Sprit und die Lotsgelder verringerten den Gewinn. Eine kaufmännische Katastrophe.
»Vielleicht hätten wir uns doch nicht selbstständig machen sollen«, sagte Marie. Zum wievielten Mal?
»Du tust gerade so, als hätten wir eine Wahl gehabt, Marie. Du weißt doch noch, was der Disponent der Reederei mir vor zwei Jahren gesagt hat: ›Entweder Sie übernehmen das Schiff oder wir sind gezwungen, Sie zu entlassen.‹«
»Jean Claude, wir haben die Unterhaltskosten einfach unterschätzt, als wir das Schiff gekauft haben.«
»Sie werden uns so viel geben, dass wir gerade überleben können«, sagte Jean Claude bitter, »aber nicht mehr. Zum Sterben zu viel und fürs Leben zu wenig! Wir sind genauso abhängig wie vorher, nur dass wir jetzt die Kosten für das Schiff tragen müssen. Es hilft doch nichts, Marie. Versuch, positiv zu denken.«
»Wie weit ist es denn noch bis zur Schleuse Herbrum? Ich bin froh, wenn wir aus dieser fiesen Strömung rauskommen.«
Jean Claude sah auf das Radarbild und verglich es mit der Seekarte. »Wir sind direkt vor der Halter Straßenbrücke. Ich leuchte mal den Brückenpegel an. – Sieben Meter Luft. Kein Problem, Marie. Nur noch ein paar Kilometer und wir haben es geschafft.«
Immer ein mulmiges Gefühl unter einer Brücke, dachte Jean Claude.
Er erstarrte, als ein dumpfer Schlag das Ruderhaus traf.
»Jean Claude! Ich denke, wir hatten genug Platz unter der Brücke!«, rief Marie erschrocken.
»Halt bitte das Ruder. Ich seh nach!«
Jean Claude riss die linke Ruderhaustür auf und starrte nach oben. Für einen Moment konnte er durch den Nebel die Brücke erkennen und glaubte, den Schatten einer Person am Geländer zu sehen.
Er warf einen Blick auf den vorderen Mast und die Radarantenne. »Alles heil geblieben, Ich sagte doch: genug Platz.« Erst jetzt bemerkte er, wie blass das Gesicht seiner Frau war. »Marie, es ist alles in Ordnung. Beruhige dich.«
Im selben Augenblick sah Jean Claude, worauf seine Frau starrte: Die Scheibenwischer zogen einen blutroten Schmierfilm über das Fenster des Ruderhauses.
»Marie, achte auf den Kurs. Ich sehe auf dem Dach nach. Es ist sicher ein Dummejungenstreich. Bestimmt ein Farbbeutel!« Sein Magen verkrampfte sich, als er nach draußen ging und über die Leiter auf das Dach des Ruderhauses kletterte.
Ein länglicher Gegenstand lag auf dem Dach. »Oh Gott, nein. Bitte nicht.«
Mit zittrigen Knien ging er darauf zu. Was sein Unterbewusstsein bereits registriert hatte, wurde nun zur Gewissheit. Ein menschlicher Körper lag in verkrümmter Haltung auf dem Dach, mit dem Bauch in einer Blutlache, die langsam über die Kante lief.
Er zwang sich, den Körper umzudrehen. Vielleicht war es ein Selbstmörder und man konnte ihm noch helfen. Jean Claude starrte sekundenlang in das Gesicht des Fremden. Wie sollte er sich verhalten? Der Anblick verursachte Grauen und Übelkeit. Trotzdem zwang er sich, nach dem Puls am Hals des Mannes zu fühlen.
Es gab keinen Zweifel: Diesem armen Kerl war nicht mehr zu helfen. Jetzt erst fiel Jean Claude eine klaffende Wunde am Hals des Toten auf. Vorsichtig schob er die offene Strickjacke des Mannes beiseite und fand weitere Wunden. Jean Claude war kein Fachmann, aber ein Selbstmord war das nicht. Dieser Mann war erstochen worden.
Der Franzose dachte an die dunkle Gestalt, die er kurz am Brückengelände gesehen hatte.
Ein Toter auf seinem Schiff. Das bedeutete eine Menge Ärger. Was sollte er nur tun? Seine Gedanken überschlugen sich. Er wusste nur eins: Die Leiche musste sofort verschwinden, mit dieser Sache durfte und wollte er nichts zu tun haben.
Er rannte zurück ins Ruderhaus. »Marie, kommst du klar? Ich sagte doch: Dummejungenstreich. Ich bring das in Ordnung.«
Jean Claude schaltete die Sicherung für den kleinen Bordkran an und stieg zurück aufs Dach. Mit der Fernbedienung steuerte er den Kranausleger in die Nähe der Dachmitte. Er zog dem Toten die ohnehin schon halb ausgezogene Strickjacke mit dem Greenpeace-Symbol herunter und wischte damit die Blutlache auf. Dann legte er die Jacke auf das Gesicht des Toten. Er schwenkte den Ausleger mit dem darauf liegenden Körper nach außenbords und ließ ihn hin und her schwingen, bis der Körper endlich vom Ausleger hinunter in den Fluss rutschte.
»Mein Gott, Jean Claude, was treibst du da draußen?« Maries ungeduldige Stimme drang aus dem Außenlautsprecher an Deck.
»Die haben uns Schlachtabfälle aufs Dach geworfen, echt eklig. Ich mach nur noch etwas sauber.« Etwas Besseres war ihm so schnell nicht eingefallen. Marie durfte niemals die Wahrheit erfahren. Sie hätte darauf bestanden, die Polizei zu alarmieren. So eine Geschichte konnte das Ende ihrer Ehe bedeuten.
Er wollte Marie und sein Schiff nicht verlieren und es reichte, wenn einer Albträume hatte.
Jean Claude zwang sich, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, als er das Ruderhaus betrat. Marie blickte ihn nicht an, wie hypnotisiert starrte sie auf den Scheibenwischer. Kein gutes Zeichen. Jean Claude ging hinunter in die Kombüse und wusch sich die Hände. Im Ruderhaus zurück, streichelte er beruhigend ihre Schulter und schaltete den Autopiloten ein.
Sie drehte sich zu ihm um und er nahm sie in die Arme und drückte sie fest an sich. »Du, wir hatten einfach nur Pech, dass wir gerade unter der Brücke waren und uns die Sachen aufs Dach gefallen sind.«
Teil 1
1.
An Bord des niederländischen Saugbaggers Arne Monsing
Die Freischicht war vorbei und Henk de Olde wieder als Schiffsführer an Bord des Saugbaggers Arne Monsing. Die freien Tage waren viel zu schnell vorübergegangen. Jetzt lagen wieder sieben Tage Baggerarbeit auf der Ems vor der Besatzung.
Der Maschinist Pieter ten Broek war der Meinung, dass zunächst ein starker Kaffee nötig sei. Gemeinsam mit dem Matrosen Martin Kerstmann gingen sie in die Kombüse, um nachzusehen, ob die vorherige Schicht dort für Ordnung gesorgt hatte. Noch konnte man der alten Besatzung gehörig in den Hintern treten, falls die einen Saustall hinterlassen hatten.
Pieter ten Broek stellte die Kaffeemaschine an und sah sich um. »Die Jungs waren wohl schon in Gedanken bei ihren Frauen.«
»Reg dich nicht künstlich auf«, sagte Martin. »Die gerechte Strafe erwartet sie bestimmt schon zu Hause.«
Pieter lachte. »Zumindest Boonstra. Seine Alte hat Haare auf den Zähnen.«
Sie wischten die angetrockneten Kaffeetassenringe von der Arbeitsfläche. Pieter fluchte. »Das sollten wohl die olympischen Ringe werden … Verdammichte Smeerlappen!«
Die Kaffeemaschine gab gleichmäßige glucksende Geräusche von sich und Pieter und Martin gingen die Treppe hinauf zur Brücke. Die letzte Gelegenheit für einen kleinen Plausch mit der abrückenden Besatzung wollten sie nicht versäumen. Die nächsten Tage würden sie unter sich sein. Henk würde seine alten Witze erzählen und sein Lieblingsopfer, den jungen Martin, gehörig auf den Arm nehmen.
Die Maschinisten führten ihre Fachgespräche, angefangen vom aktuellen Bunkerbestand bis zur dieser verdammten seit Jahren leckenden Hydraulikpumpe. Die Schiffsführer besprachen zusammen mit Baggerleiter Gerd Peters die von den Besatzungen der Peilboote vorgelegten Ergebnisse der Tiefenmessungen.
Henk de Olde war nicht überrascht, dass Peters wieder mal unter Dampf stand. Die erforderlichen Tiefen waren noch nicht erreicht worden und der Zeitdruck war wegen der geplanten Überführung des neuen Kreuzfahrtschiffes groß. »Gerd, lass dich nicht verrückt machen, bis jetzt haben wir alle Arbeiten immer noch pünktlich erledigt. Auch dieses Mal wird es keine Probleme geben, wir haben Zeit genug.«
Nachdem der neueste Tratsch aus Holland und die neuesten Familienbilder ausgetauscht worden waren, verließ die alte Crew mit einem lauten: »Tot ziens« das Schiff.
Der Bagger war nun wieder sieben lange Tage Henks Zuhause. Wie viel Zeit hatte er wohl schon auf diesem Ding verbracht? Ich bin länger mit meiner Besatzung als mit meiner Frau Mareike zusammen, grübelte er. Zum Glück hatte seine Ehe dieser Belastung standgehalten.
Erst war er jahrelang als Steuermann auf Kümos gefahren. Die Kindererziehung hatte Mareike übernommen. Dabei war sie mit der Zeit immer selbstständiger geworden und jetzt erledigte sie alles, von der Gartenarbeit bis zu den Behördengängen. Bei den Landurlauben hatte Henk immer wieder festgestellt, dass Mareike alles bestens organisiert hatte. An Bord der Schiffe war er der Kapitän und Chef, aber zu Hause hatte Mareike das Kommando. Die ersten Tage an Land, oha – da zog schon mal eine Gewitterfront auf. Mareike konnte im Streit sehr unnachgiebig sein. Das Schlimme war, dass sie meistens recht hatte. Aber das würde er nie zugeben.
Beide brauchten jeweils lange, um sich wieder aufeinander einzustellen. Die lange Abwesenheit von zu Hause war Henk ihm immer schwerer gefallen, und die Entwicklung der beiden Kinder hatte er die meiste Zeit versäumt. Deshalb war er froh, dass er nun diesen Job an Bord des Baggers hatte. Jetzt war er wenigstens alle sieben Tage zu Hause.
Henk de Olde machte den Saugbagger zum Ablegen bereit. Die Besatzung hatte die Festmacher gelöst und Henk steuerte zunächst ins Fahrwasser und nahm Kurs auf die Weekeborger Bucht. Eine Strecke von neun Kilometern auf der Ems. Die Bucht lag etwa drei Kilometer hinter der Jann-Berghaus-Brücke.
Nach etwa einer Viertelstunde rief Henk über UKW-Funk die Brückenbesatzung. »Leer Bridge für Bagger Arne Monsing in Bergfahrt – kommen!« Die Durchfahrtshöhe der Brücke reichte für den Bagger nicht aus, deswegen musste die Klappe geöffnet werden.
Brückenwärter Andreas Schröder meldete sich: »Leer Bridge hört.«
»Ich bin in zehn Minuten bei euch und benötige eine Öffnung.«
»Okay, kommt man ran.«
Henk de Olde hielt seinen Bagger auf Abstand zur Brücke. Sollte ein technisches Problem beim Öffnen entstehen, hatte er genug Platz, um ein Wendemanöver einzuleiten.
Vor einigen Jahren hatten sie beobachtet, wie der Kapitän eines Seeschiffes zu dicht an die Brücke gefahren war. Aufgrund eines technischen Defektes hatte sich die Brücke nicht sofort öffnen lassen. Durch den starken Flutstrom war das Seeschiff aus dem Ruder gelaufen. Irgendwie war es dem Kapitän gelungen, sein Schiff zwischen den Leitdalben der Brücke zu drehen. In diesem Moment hatte sie sich endlich gehoben, und das Schiff war rückwärts durch die Brücke gefahren.
Der Bagger hatte sich damals hinter dem Seeschiff befunden und hatte als zweites Fahrzeug die Brücke passieren sollen. Der Baggerbesatzung hatten die Haare zu Berge gestanden, als sie die verzweifelten Manöver der Seeschiffsführung beobachtet hatten. Damals war es fast zu einer folgeschweren Kollision mit dem Klappteil gekommen.
Die Brücke wurde deswegen immer sehr frühzeitig geöffnet. Die etwas längere Öffnungszeit war für die Autofahrer sicher besser zu ertragen als ein monatelanger Totalausfall der Brücke.
Henk de Olde saß auf seinem Steuerstuhl und beobachtete, wie die Autos vor den Schranken hielten. Die Klappe hob sich und die grünen Signallampen gaben schließlich die Durchfahrt frei. Langsam manövrierte er den Bagger durch die Brücke.
»Danke für die Öffnung. Bis zum nächsten Mal.«
Nach den Jahren kannte man sich und hörte schon an der Stimme, wer auf der anderen Seite des Funkgerätes war. »Kein Problem, Henk«, kam es von der Brücke zurück. »Gute Fahrt.«
Henk hatte in der kostenlosen Sonntagszeitung gelesen, dass sich Autofahrer über die ständigen Öffnungen der Brücke aufregten. Verständnis hatte er für diese Leute nicht. Die Schranken der alten Jann-Berghaus-Brücke hatten damals aufgrund der niedrigeren Durchfahrtshöhe öfter geschlossen werden müssen. Henk konnte sich noch gut an den umständlichen Öffnungs-Mechanismus der alten Brücke erinnern. Auch die reine Öffnungszeit war durch die neue Brücke verkürzt worden.
Als sich vor etwa zehn Jahren ein Pfeiler der alten Brücke gefährlich zur Seite geneigt hatte, hatte man die Gelegenheit ergriffen und gleich eine ganz neue Brücke gebaut. Dass man damit auch eine größere Brückenöffnung erreicht hatte, störte die Verantwortlichen der Cruise Liner Werft ganz bestimmt nicht – jetzt konnten noch mächtigere Kreuzfahrtschiffe gebaut werden …
Diesen letzten Gedanken behielt er besser für sich. Nicht zuletzt sein Job hing von der Werft ab.
Das Ruderhaus des Baggers wurde hydraulisch hochgefahren. Nun hatte Henk von hier oben einen wunderbaren Ausblick über die Flusslandschaft und beobachtete den Nebel, der langsam über den Feldern aufstieg.
An der neuen Einsatzstelle senkte Schiffsführer Henk de Olde das Saugrohr an der Backbordseite des Baggers auf den Flussgrund.
Im Gegensatz zu den Baggern der älteren Generation, den sogenannten Eimerkettenbaggern, wurde bei den neuen der Flussgrund mit starken Düsen zunächst gelöst und gleichzeitig aufgesaugt. Abgesehen davon, dass damit auch Organismen vom Grund gelöst wurden, die den Sauerstoff im Wasser bis auf einen Rest verbrauchten, der für einen Fisch zum Überleben nicht ausreichte, gab es bei dieser Methode ein weiteres Problem: Ein erheblicher Anteil der gelösten Bestandteile konnte nicht aufgenommen werden, und dieser Schlick trieb dann für mehrere Wochen als Schwebstoff im Fluss. Diese Schwebstoffe setzen sich später im ruhigen Wasser ab.
Diese Verschlickung führte in den Flusshäfen zu erheblichen Problemen: Die Wassertiefe nahm ständig ab und Schiffe liefen auf Grund. Die Hafenbetreiber versuchten nun, die dort abgesetzten Schlickbestandteile mit verschiedenen Methoden aufzuspülen und nach dem Sankt-Florians-Prinzip zurück in den Fluss zu pumpen. Das verstärkte die Probleme am Fluss erheblich, aber kurzsichtig dachte nur jede Verwaltung an die eigenen Interessen und trug dazu bei, dass sich ein graubraunes Leichentuch über den Fluss legte.
Henk de Olde hatte keine Zeit für solche Gedanken, sein Bagger war für die andere Schifffahrt ein Hindernis im Fahrwasser. Der Baggerführer sprach die Begegnungen mit den anderen Fahrzeugen ab, um gefährliche Annäherungen zu vermeiden.
Der aufgesaugte Flussboden füllte langsam den Laderaum, und nach einigen Stunden war es an der Zeit, den Einsatz zu beenden. Die Signale, die den Bagger als manövrierbehindert kennzeichneten, wurden eingeholt. Damit war er wieder ein ganz normales Fahrzeug und andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr gezwungen, ihm auszuweichen.
Das Saugrohr wurde hochgezogen und de Olde steuerte sein Fahrzeug in Richtung Löschstelle. Inzwischen war es dunkel und neblig geworden. Das grüne Licht des Radars und die Leuchten der Kontrollgeräte erzeugten eine gespenstische Stimmung im Ruderhaus. Jedes unnötige Licht wurde ausgeschaltet, um die Sicht nach außen nicht zu beeinträchtigen.
Der Matrose Martin stand gelangweilt in der Ecke.
Henk seufzte unwillkürlich auf. Erst neulich hatte er sich Martin zur Brust genommen. Hatte doch der Kerl während der Fahrt bei Dunkelheit die Innenbeleuchtung des Ruderhauses angemacht! Henk hatte draußen prompt nichts mehr gesehen, Blindflug sozusagen. Den Anschnauzer hatte Martin sich verdient.
»Martin, spül das Deck und zwischendurch machst du den Ausguck. Sprechanlage ist eingeschaltet. Der Nebel wird immer dichter. Hörst du oder siehst du was: Meldung. Kapiert?«
Martin öffnete die Ruderhaustür.
»Halt, verdammt noch mal!«
»Henk, ich hab den Lichtschalter nicht mal angerührt.«
»Nee, das nicht – aber deine Rettungsweste hast du vergessen.« Henk verdrehte die Augen. Er sah, wie sich Martin die Rettungsweste umlegte und damit begann, das Deck zu säubern. Der Schlick musste regelmäßig abgespült werden.
Für die erneute Passage der Brücke stellte Henk das Radargerät auf Nahbereich um. Der Nebel wurde immer dichter und die Wettervorhersage kündigte an, dass es noch schlimmer werden würde.
Die erforderliche Brückenöffnung hatte Henk über den Schiffsfunk beim Brückenwärter Schröder schon angekündigt. Die grünen Signallichter für die freigegebene Brückenpassage waren im Nebel nur schwach zu sehen.
2.
Nördliches Rheiderland
Er sah in den Spiegel und betrachtete sein müdes, blasses Gesicht. Die fettigen Haare und die Bartstoppeln machten es auch nicht besser. Rote Augen und schwarze Augenringe vervollständigten den elenden Eindruck.
Er ließ die Sonnenrollos vor den Fenstern herunter und beschloss, den Spiegel zu meiden. Sein Blick streifte die dreckige Spüle, in der sich schmutziges Geschirr stapelte.
Das war also übrig vom Neuanfang in diesem Kaff. Egal, wohin man zog, man nahm sich und seine Probleme immer mit.
Der Anfang hier war irgendwie verkrampft verlaufen. Seine Ehefrau hatte alles richtig machen wollen. Hatte sich um ihn gekümmert und versucht, besonders nett zu ihm zu sein. Sie war ständig beschäftigt gewesen, so als vermiede sie es, ihm gegenüberzusitzen. Er hatte meistens in der Küche herumgesessen und sich nicht aufraffen können, etwas Sinnvolles zu tun. Seine Frau hatte immer wieder versucht, ihm irgendwelche Aufträge zu geben. Angeblich sei nach dem Umzug noch vieles zu erledigen. Wenigstens zum Arzt sollte er gehen.
Er hatte sich einen Arzt gesucht, einen Termin vereinbart und gehofft, dass seine Frau nun Ruhe gab.
Der Arzt hatte sich angehört, wo seine Probleme lagen, und vermutete, dass eine Depression vorlag.
Eine Überweisung zum Facharzt war ausgestellt worden und er hatte Tabletten verschrieben bekommen. Die sollten ihm dabei helfen, seine Aggressionen in den Griff zu bekommen. Aggressionen! Nur weil er sich beim Arztbesuch im Wartezimmer etwas aufgeregt hatte …
Die Tabletten lagen noch vollständig in der Schublade und einen neuen Termin hatte er sich auch noch nicht besorgt. Seine Frau machte ihm deswegen Vorwürfe, die er beständig ignorierte.
Seine Frau war zu ihm auf Abstand gegangen, nicht nur im Bett.
An einem Morgen nach einem taubstummen Frühstück hatte sie zu ihm gesagt: »Geh doch mal unter Leute! Heute Abend ist im Sielhus in Jemgum eine Veranstaltung. Thema ist die Emsvertiefung und der Deichschutz. Das interessiert dich doch immer.« Sie hatte ihm die Tageszeitung hingeschoben und mit dem Finger auf die Ankündigung getippt.
Er hatte sich dann tatsächlich am Abend aufgerafft und war nach Jemgum gefahren, um an der Versammlung teilzunehmen. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, seine Frau wollte ihn loswerden.
Zunächst hatte er das unscheinbare kleine Haus gar nicht finden können. So begann der Abend schon recht merkwürdig, als er einen Spaziergänger nach dem Sielhus fragte. Der reagierte mit Kopfschütteln. »Wo wird es wohl sein, das Sielhus – natürlich am Siel! Das Siel ist dieser Kanal und das kleine Haus mit dem schön restaurierten Giebel dort am Kanal, das ist unser Sielhus.«
Der Flur des Sielhauses lief mit starkem Gefälle nach hinten ab. Eine Erklärung konnte er den Erläuterungen zu den Fotos entnehmen, die an der Wand hingen: Danach sollte das vorn eingedrungene Hochwasser hinten wieder ablaufen.
Der Hafen hatte früher bis an das Gebäude herangereicht. Der spätere Ausbau des Hochwasserschutzes mit dem vorverlegten Deichdurchlass und dem Schöpfwerk hatte das Dorf vor Hochwasser bewahren sollen, das kleine Gebäude war dadurch vom Hafen abgeschnitten worden.
Stimmen drangen aus einem Raum, und er öffnete die Tür.
Der Schankraum war sehr klein. Neben der Theke befand sich eine Art Kaufmannsladen. Die Wirtin zapfte gerade ein Bier und bemerkte seinen fragenden Gesichtsausdruck. »Da staunen Sie, was? Hier haben früher die Schiffer ihre Kluntjes gekauft und anschließend noch ein Bier getrunken.«
»Ist hier dieser Vortrag wegen der Emsvertiefung?«
Die Wirtin sah ihn über den Brillenrand an. »Im Nebenraum, geht gleich los. Aber passen Sie auf die Stufe auf. Möchten Sie etwas trinken?«
Mit einem Bier in der Hand betrat er den kleinen Versammlungsraum und wäre fast der Länge nach hineingestolpert. Den Sturz konnte er verhindern, aber die Hälfte seines Bieres spritzte auf zwei Männer, die ihn daraufhin finster ansahen. Er entschuldigte sich und setzte sich auf einen freien Stuhl.
Ein Mann im Fischerhemd ging an das Rednerpult und stellte sich als Mitglied des Naturschutzbundes vor. »Ich darf heute Abend auch einige Vertreter der Deichbehörde und des Wasseramtes begrüßen. Die Herren sind bereit, einige Fragen zu beantworten.«
Er nippte an seinem halb vollen Bierglas und versuchte, sich auf die Ausführungen der Behördenvertreter zu konzentrieren.
»Meine Damen und Herren, die Wirtschaft verlangt nach immer größeren Schiffen. Der Markt bestimmt die Bedingungen, wir müssen baggern, wenn wir unsere Wettbewerbsfähigkeit erhalten wollen.«
Die Veranstaltung nahm ihren Lauf, und er bestellte sich schließlich das fünfte Glas Bier. Nervös bemerkte er, dass die Männer, die er mit Bier bespritzt hatte, ihn immer wieder beobachteten. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, für beide auf seine Rechnung ein Bier zu bestellen. Aber in diesem Moment hörte er