Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Die Wohnung gegenüber
Die Wohnung gegenüber
Die Wohnung gegenüber
eBook319 Seiten4 Stunden

Die Wohnung gegenüber

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

In diesem Roman gelingt es einer jungen Frankfurterin, allen Widerständen zum Trotz einen Mord aufzuklären. Für diesen Roman, der frisch und überzeugend das Milieu dieser Stadt widerspiegelt, wurde die Autorin mit dem Edgar-Wallace-Preis 1963 ausgezeichnet. Die junge Pamela Delly schlägt sich als Schriftstellerin durch, verzweifelt aber daran, über Liebe und unglückliche Paare zu schreiben. Von ihrer Zweizimmerwohnung beobachtet sie die Mieter gegenüber, glaubt aber nicht daran, wie in Hitchcocks "Fenster zum Hof" von ihrem Fenster aus einen Mord beobachten und aufklären zu können. Dann aber kommt alles ganz anders.AutorenporträtL. A. Fortride (Pseudonym für Liselotte Appel), geboren 1921 in Frankfurt, war Dolmetscherin, Sekretärin und Korrespondentin, bevor sie sich der Schriftstellerei zuwandte. Mit ihrem ersten Kriminalroman "Die Wohnung gegenüber", für den sie 1963 den "Edgar Wallace Preis" erhielt, begann sie eine Reihe von Kriminalromanen im deutschen Ambiente zu schreiben, in denen sie traditionelle Krimimuster und Motive aus Gesellschaftsromanen zu spannender Unterhaltungsliteratur zu verbinden wusste. Unter dem Namen Liselotte Appel veröffentlichte sie mehr als 200 Romanhefte, überwiegend in den Heimat-, Arzt- und Schicksalsroman-Reihen des Pabel-Verlags, wobei nicht zu ermitteln ist, inwieweit "Liselotte Appel" auch als Verlagspseudonym anderer Autoren verwendet wurde.-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum1. Jan. 2017
ISBN9788711448342
Die Wohnung gegenüber

Ähnlich wie Die Wohnung gegenüber

Ähnliche E-Books

Krimi-Thriller für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Die Wohnung gegenüber

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Die Wohnung gegenüber - L.A. Fortride

    Main

    1

    „Irgendein Film hat mich auf die Idee gebracht, sagte Pamela, während sie das Fernglas auf die Fensterbrüstung stellte. „Der Held beobachtete die Leute in den Nachbarhäusern und klärte dabei einen Mord auf, aber soviel Glück habe ich natürlich nicht. Hier passiert nie etwas. Der charmante Blonde im Erdgeschoß denkt ebensowenig daran, seine Frau umzubringen wie der Alte im ersten Stock, auch wenn er mit seinem Bart beinahe so gefährlich wie Landru aussieht.

    „Seit wann bist du so blutdürstig? erkundigte sich Christian belustigt. „Du liest wohl zuviel Krimis?

    „Nein, ich möchte einen schreiben."

    „Da hast du dir hier kaum den richtigen Standort ausgesucht."

    „Ach, es soll doch was aus dem richtigen Leben sein – nicht so eine unwahrscheinliche Geschichte, in der die Leichen aus Wandschränken fallen und Mörder als Nonnen verkleidet herumschleichen. Ich will einen Kriminalroman schreiben, der jeden Tag passiert sein kann und den jeder Leser, gleich welchen Niveaus, akzeptiert."

    „Worauf ihr Schriftsteller nicht alles kommt! Ich dachte bisher immer, du interessierst dich nur für die Liebe."

    „Ehrlich gestanden, ich bin das ziemlich leid. Ich habe einfach keine Lust mehr, über brave Mädchen zu schreiben, die unverschuldet aus einem Unglück ins andere geraten und noch im Sumpf ihr reines Herz bewahren. Nach all dem Schmus stellte ich es mir geradezu herzerfrischend vor, ein richtiges Luder zu schildern. Es braucht also durchaus kein Mann zu sein, der den Mord begeht, ich nehme auch eine Mörderin."

    Pamela hob ihr Glas und betrachtete ein erleuchtetes Fenster im zweiten Stock, hinter dem sich ein undeutlicher Schatten hin und her bewegte. „Ewig haben sie ihre Kleider zum Lüften auf dem Balkon hängen, murmelte sie unzufrieden. „Außerdem ziehen sie immer gleich die Vorhänge zu, wenn sie das Licht anknipsen. Man kann überhaupt nicht sehen, was dahinter vorgeht.

    „Na hör mal, das mache ich genauso."

    „Wie kann man nur so vorsichtig sein! Pamela schüttelte ärgerlich den Kopf. „Na ja, heute ist sowieso wieder nichts los. Es hat keinen Zweck.

    Sie saßen nebeneinander am offenen Fenster. Unter ihnen lag der dunkle, mit Sträuchern und neu angepflanzten Bäumen bestandene Garten, der schon nach wenigen Metern durch eine hohe Feldsteinmauer vom Nachbargrundstück getrennt wurde. Jenseits der Mauer befanden sich mehrere Garagen, die zu dem großen Wohnhaus gehörten, dessen Rückseite sich mit breiten Fenstern und großen Loggien Pamelas neugierigen Blicken darbot. Das Haus stand frei in einer wenig befahrenen Seitenstraße. In der Nachbarschaft gab es keine weiteren Mietshäuser, nur noch Villen in schönen großen Gärten. Es war eine ruhige Gegend.

    Der Abend war warm und windstill. Die eintretende Dämmerung ließ den wolkenlosen Himmel langsam blasser werden und färbte ihn dann dunkelblau, bis er mit den langen Bergketten im Hintergrund allmählich verschmolz.

    „Hast du noch nicht daran gedacht, daß du dich damit eines Tages in Unannehmlichkeiten bringen könntest? fragte Chris und deutete auf den Feldstecher. „Es gibt Leute, die es sich einfach nicht bieten lassen, daß man ihnen in den Suppenteller guckt.

    „Seit wann ist es verboten, die Sterne zu betrachten? erkundigte sich Pamela kühl. Sie richtete das Glas auf den Himmel, an dem tatsächlich wie auf Bestellung der erste Stern auffunkelte. „Weißt du nicht, daß ich mich schon immer sehr für Astronomie interessiert habe?

    Blumenduft stieg aus den Gärten empor. Es war der tiefe satte Geruch des späten Sommers, in den sich dann und wann schon schwacher Moderduft mischte. Trotz der Wärme des Tages spürte man gegen Abend bereits die Nähe des Herbstes.

    Im Garten einer großen weißen Villa, die von einer Reihe hochgewachsener Pappeln fast verborgen wurde, tollte ein Hund umher. Sein aufgeregtes Bellen scholl herüber. Pamela betrachtete eine Weile den Hund und seine Besitzerin, dann wandte sie sich wieder ihrem Besucher zu.

    „Warum sind nur alle Leute so gräßlich langweilig? beklagte sie sich. „Warum tut keiner mal was Ausgefallenes? Jeden Tag fällt ihnen nichts anderes ein als zu essen, zu schlafen, Zeitung zu lesen. – Da! Sie stieß Chris an und deutete auf ein helles Zimmer im Erdgeschoß des Mietshauses, wo ein braunverbrannter blonder Mann im Schein einer kleinen roten Hängelampe eine dunkelhaarige Frau umarmte.

    „Na, was willst du mehr! brummte Christian. „Das ist doch wenigstens was.

    „Pah, wenn das aufregend sein soll! Die sind nämlich längst ordnungsgemäß verheiratet und haben schon ein Baby. Ihr Getue finde ich im Gegenteil allmählich übertrieben. Sie könnten sich langsam an den Gedanken gewöhnen, daß sie ein Ehepaar sind."

    „Neidisch?" grinste Christian.

    „Du spinnst wohl, murmelte Pamela empört. „Das fehlte gerade noch, wie?

    Sie ließ das Glas nach oben wandern, bis sie das zweite Stockwerk überschauen konnte. Durch ein mäßig großes Fenster mit Scheibengardinen sah man in eine weiße Küche mit Kühlschrank, Waschmaschine und Mixgerät. Am elektrischen Herd stand eine blonde Frau, die in einem Topf rührte. Ein kleines Mädchen mit einem dicken Zopf lief eifrig hin und her und reichte allerlei zum Herd hinüber. Als ein Wagen über den breiten Plattenweg am Haus vorbei zur Garage fuhr, verließ die Frau die Küche und zog im anstoßenden Zimmer, in dem eine Stehlampe brannte, die Gardinen zur Seite. Sie kam auf die Loggia heraus und beugte sich über das Geländer.

    „Der entgeht auch nichts, sagte Pamela. „Sie ist immer da, wenn sich was tut. Richter heißt sie oder so ähnlich. Sie holt bei meinem Kaufmann ein. Eine gräßliche Klatschbase. Sie kennt hier alle Leute. Ich nenne sie nur noch das ‚Tagblatt‘.

    In der zweiten Wohnung des oberen Stockwerks, neben der der Richters, wurde die Glastür zur Loggia hell. Man blickte in ein großes Zimmer mit einem Kamin, über dem ein großes Bild hing.

    „Infantin von Velasquez, glaube ich", erklärte Pamela sachkundig.

    „Hübsches Bild."

    Im Schein einer großen seidenverschirmten Stehlampe machte sich eine kräftige alte Dame in grauem oder braunem Kleid am Tisch zu schaffen.

    „Sie wohnt da mit ihrer Tochter, kommentierte Pamela weiter. „Die Alte ist eine drollige Person. Ich habe ihr auch einen Spitznamen gegeben: ‚Der Feldherr‘. Sie sitzt im Palmengarten immer dicht vor dem Musikpavillon und dirigiert den Applaus. Wenn sie ausgeht, schminkt sie sich wie eine Kokotte. Und erst ihre Kleider! Alles mit Spitzen und Volants. Vielleicht war sie früher mal eine leichte Dame. Pamela trällerte: „Ich bin die Ballhausanna! Weiter wußte sie nicht. „Schick eingerichtet ist sie. Schau dir mal die schöne Kommode an und den wunderbaren venezianischen Spiegel darüber! Die Putten links und rechts von der Infantin sind auch nicht schlecht.

    Bevor Christian dazu kam, sich das Interieur des Zimmers näher anzusehen, wurden die Räume darunter hell. Man sah kurz in ein sehr modern eingerichtetes, etwas kahl wirkendes Eßzimmer mit einer jener vielarmigen Lampen, deren grelles Licht an die ungemütliche Beleuchtung eines Wartesaales erinnerte. Das Licht erlosch gleich wieder.

    „Kinderloses Ehepaar, berichtete Pamela. „Der dazugehörige Mann kommt meistens erst spät abends oder überhaupt nicht nach Hause. Vielleicht ist er Reisender. Manchmal ißt er jedenfalls erst um zehn. Sie sitzt dann mit einem Buch neben ihm und liest. Ich kann sie bis hierher vor Langeweile gähnen hören.

    „Du boshafte kleine Person! Christian schlug Pamela leicht auf die Schulter. „Na ja, Mädchen, das ist ja soweit ganz interessant, aber ich fürchte, ich muß jetzt endlich weiter. Was wolltest du eigentlich von mir?

    „Ich habe dir das alles gezeigt, weil ich im stillen hoffte, du könntest mich inspirieren." Pamela stellte den Feldstecher endlich weg und folgte Christian durch das dunkle Zimmer zu der nur angelehnten Tür. Er stieß sich das Schienbein an irgendeinem Möbelstück und fluchte leise vor sich hin.

    „Warum paßt du auch nicht auf? erkundigte sich Pamela ungerührt. „Du bist schließlich nicht zum erstenmal hier.

    In der winzigen Diele brannte Licht. Sie blinzelten einander geblendet zu, dann deutete Pamela einladend auf die offene Tür zum Wohnzimmer.

    „Geh ’rein und mach’s dir bequem. Ich hole was zum Trinken. Bier oder Schnaps?"

    Ihr Besucher wehrte jedoch ab. „Liebes Kind, du weißt, ich habe heute Dienst. Ich muß wirklich ..."

    „Moment noch, Chris, bitte! Wie wär’s denn mit einem aufregenden Fall für mich? Pamela betrachtete den jungen Mann hoffnungsvoll. „Mir fällt nämlich einfach nichts ein. Du mußt mir helfen. Wer kann denn wen da drüben umbringen?

    „Herrgott, Pamela, was du alles von mir verlangst! Soviel Phantasie habe ich überhaupt nicht. Deine Nachbarn sind alles ganz normale Leute, die bestimmt nie im Leben an so was Gruseliges wie einen Mord denken."

    „Daran denkt jeder mal, widersprach Pamela sofort. „Wir alle begehen, wenn vielleicht auch nur in Gedanken, bei Gelegenheit jedes nur mögliche Verbrechen. Hat sogar ein ganz berühmter Mann gesagt. War’s nicht Goethe?

    „Schön, dann denk dir eben was aus."

    „Oh, Chris, du bist so schrecklich ungefällig! Erzähl mir einfach was aus deiner Praxis, und ich kombiniere dann ein bißchen."

    „Wenn du mich deswegen herzitiert hast, muß ich dich leider enttäuschen, liebes Kind. Mein Leben hat in letzter Zeit alles andere als Sensationen gebracht. Mit einem Taschendieb oder einem armseligen Heiratsschwindler wird dir kaum gedient sein."

    „Was, du als angehender Kriminalkommissar hast tatsächlich nicht einmal einen anständigen Mord in Bearbeitung? erkundigte sie sich ungläubig. „Du enttäuschst mich.

    Christian lächelte flüchtig. „Kleine Illusionistin! Er tippte mit dem Zeigefinger freundschaftlich an ihre zierliche Nase. „Mach dich mit dem Gedanken vertraut, daß es für die Polizei viel mehr kleine Delikte gibt als Kapitalverbrechen. Es war meine Aufgabe, mich mit Hochstapelei, Heirats-, Kautionsschwindel und so weiter zu befassen. Kann unter Umständen übrigens auch ganz interessant sein.

    „Nein, das hilft mir nicht weiter, murmelte sie betrübt. Sie schob die Unterlippe vor. „Zu einem Kriminalroman gehört doch mindestens ein Mord. Gehörst du denn noch immer nicht zur Mordkommission?

    „Seit genau zwei Tagen. Ich habe gerade erst ’reingerochen. Er betrachtete sie lächelnd. Sie reichte ihm gerade bis zum Kinn, eine zarte kleine Person mit blauen Augen und einem Pfirsichteint. Ihr hübscher roter Mund forderte geradezu heraus, sie zu küssen, aber ein Blick auf ihr eigenwilliges Kinn hielt ihn dann doch davon ab. Pamela war manchmal ein bißchen unberechenbar. Man wußte nie, wie sie reagierte. „Gehen wir trotzdem mal aus?

    „Habe ich je eine Einladung ausgeschlagen? Eine arme kleine Schriftstellerin muß für alles dankbar sein", sagte sie mit frommem Augenaufschlag.

    „Geht es dir so schlecht?"

    Sie seufzte. „Es ist hartes Leben, Chris. Nichts wird einem geschenkt. Mäcenas ist seit langem tot."

    „Vielleicht gibt’s auch nur einfach keinen Horaz mehr", brummte Chris belustigt.

    Pamela warf ihm aus schmalen Augen einen vorwurfsvollen Blick zu. Sie gefiel sich in der Hoffnung, eines Tages berühmt zu werden.

    „Nun, gehen wir erst mal bummeln, meinte Chris hastig. „Ich habe neulich ein todschickes kleines Restaurant entdeckt mit spécialités françaises.

    „Strip-tease?" erkundigte sie sich erwartungsvoll.

    „Was du gleich wieder denkst! Nein, was zum Essen. Liebling, ich führe dich doch in kein Bumslokal."

    „Du kannst auch nie verbergen, daß du aus einem Provinznest kommst, tadelte sie. „Was hast du gegen Bumslokale? Eine Schriftstellerin muß alles kennenlernen, auch die anrüchigen Kneipen, die sogar besonders.

    „Du willst also nicht mit mir essen gehen?"

    „Wo denkst du hin? Natürlich! Ich bin heilfroh, wenn ich mal nicht zu kochen brauche."

    „Ich rufe dich morgen oder übermorgen an."

    „D’accord, chéri. Ton idée est merveilleuse. Die versprochenen französischen Spezialitäten verleiteten Pamela dazu, französisch zu sprechen. „Und wenn du wider Erwarten auf deinem ollen Amt doch mal was hören solltest, du weißt schon, dann denk an mich, ja? Ich brauche ganz dringend einen Mord.

    „Ich werde die Ohren spitzen, versprach er lachend. „Bis bald! Tschüs, Kleine!

    „Tschüs, Großer!"

    Er konnte sich nun doch nicht enthalten, ihr schnell über das blonde weiche Haar zu streichen. Genießerisch und ein bißchen sehnsüchtig schnupperte er den zarten Duft ihres Parfüms, bevor er sich wieder dorthin begab, wo es nach Männern, Bohnerwachs, verstaubten Akten und ungewaschenen Klienten roch, in eine weit weniger erfreuliche Umgebung, als es Pamelas hübsche kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Westend war.

    Nachdem Pamela hinter Christian die Tür geschlossen hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr und schlenderte dann in die Küche. Im Kühlschrank herrschte, wie sie zu ihrem Leidwesen feststellen mußte, wieder einmal gähnende Leere. Sie entnahm ihrer Handtasche das Portemonnaie, holte aus dem Wandschrank im Flur einen Einkaufsbeutel und verließ damit die Wohnung.

    Das Lebensmittelgeschäft, in dem sie ihre Einkäufe zu tätigen pflegte, befand sich schräg gegenüber an der Ecke einer düsteren langen Straße mit alten Mietshäusern. In dem unmodernen kalten kleinen Laden herrschte kurz vor Ladenschluß eine qualvolle Enge. Unter den Kunden befand sich auch jene geschwätzige Frau Richter aus dem Nachbarhaus, die offensichtlich die Zubereitung des Abendessens unterbrochen hatte, um noch einen Einkauf zu tätigen. Pamela, die eine Abneigung gegen neugierige geschwätzige Leute hatte, verzog sich in die andere Ecke des Geschäfts in der Hoffnung, nicht gesehen zu werden. Aber die blaßblauen flinken Augen erspähten sie schließlich doch, und das knochige rötliche Gesicht der stark blondierten Frau lächelte Pamela zu.

    „Lange nicht gesehen."

    „Sie waren verreist, nicht wahr?" Pamela war es nicht entgangen, daß in der Wohnung der Richters ein paar Wochen lang die Sonnenjalosien geschlossen geblieben waren.

    „Ja, wir waren in Oberstdorf. Muß ja auch mal sein, nicht? – Nein, Fräulein, ich nehme nicht den Reis da, sondern Patna, und dann geben Sie mir noch sechs Trinkeier. – Ja, in den Bergen spürt man schon den Herbst. Es war abends immer ziemlich frisch."

    „Der Sommer ist auch hier bald vorbei."

    „Leider. Frau Richter zahlte. „Ich muß mich sputen, daß ich heimkomme. Mein Mann ist fällig. Hoffentlich habe ich nicht wieder was vergessen! Wissen Sie, es ist einfach eine Katastrophe, wenn man bei zwei Kindern nicht mal ein Mädchen hat. Wie so manche Leute das machen! Zu unserer Hausbesitzerin, der Junkers, zum Beispiel kommt jeden Tag bis nachmittags eine Frau.

    „Junkers? fragte Pamela achselzuckend. Der Name sagte ihr nichts. „Ich kenne die Leute nicht.

    „Meine Nachbarn. Wir wohnen auf demselben Flur."

    „Ach so, Sie meinen den Feld ... die alte Dame mit ihrer Tochter."

    „Das ist nicht die Tochter, wurde sie von der Richter umgehend belehrt. „Sondern eine Nichte. Fräulein Junkers soll schon früher bei ihrer Tante gewohnt haben. Bevor sie in das Haus zogen. Arbeiten geht sie nicht. Na, da wird auch mehr Geld sein, als die Alte zugibt. Wenn sie die hören, die jammert nämlich immer nur, sie müsse bei unseren Mieten draufzahlen. Frau Richter hätte sich vermutlich gern noch länger über ihre Nachbarn ausgelassen, aber ein Blick auf die Ladenuhr jagte sie dann doch schleunigst von dannen.

    Pamela kaufte Obst, Brot, Butter und Milch. Mit dem prall gefüllten Einkaufsnetz überquerte sie die breite Straße und ging auf der gegenüberliegenden Seite, unter den mit roten Beeren dicht behangenen Bäumen, auf ihr Haus zu.

    Im Lichtkreis einer der veralteten, schwach brennenden Gaslaternen wurde sie von einem schlanken großen Mann in hellem Trenchcoat überholt. Der junge Mann hatte den Hut ein wenig schief aufgesetzt. Da er sich ihr im Vorbeigehen zuwandte und sie auffallend fixierte, sah sie sein Gesicht.

    Sie erkannte ihn sofort. In letzter Zeit war er ihr häufig hier begegnet, und jedesmal hatte er sie dann recht eingehend betrachtet. Auch diesmal, obwohl er es offensichtlich eilig hatte, verweilte der Blick seiner graublauen Augen länger als unbedingt nötig auf ihrem Gesicht, auf ihrer zierlichen Figur in den langen grauen Hosen und dem weiten blauen Pullover. Sie erwiderte seinen Blick gerade so lange, daß es wie Zufall aussehen konnte, dann ließ sie ihn geruhsam weiter über die Rasenflächen der Häuser zur Rechten schweifen. Ungeachtet ihrer scheinbaren Interesselosigkeit stellte sie jedoch genau fest, daß ihr Unbekannter schlecht gebügelte Hosen trug und daß sein Regenmantel eine Reinigung dringend nötig hatte.

    In ihrem Haus war der Fahrstuhl wie gewöhnlich um diese Zeit besetzt. Sie stieg pfeifend zum dritten Stock hinauf, öffnete ihre Tür und begab sich in die Küche. Während sie ihre Einkäufe auspackte, bemerkte sie gegenüber Frau Richter erneut bei der Zubereitung des Abendessens. Zu ihr und dem kleinen Mädchen mit dem Zopf hatte sich ein hellblonder stämmiger Mann gesellt, der ein Baby in blauem Spielanzug auf dem Arm trug.

    Da Pamela zum erstenmal in ihrem Leben allein wohnte, empfand sie ihre moderne kleine Behausung noch immer als ein beglückendes, aufregendes Ereignis. Mit Hingabe hielt sie die neuen Möbel, die frisch lackierten Fenster und Türrahmen und die Fußböden blank. Auch jetzt polierte sie wieder sorgfältig am Kühlschrank herum, auf dessen strahlendem Weiß sie die Spuren ihrer Finger entdeckt hatte.

    Ihr Magen erinnerte sie daran, daß es Essenszeit war. Sie bereitete Tee, wusch Tomaten und Pfirsiche, strich zwei Brote, belegte sie und trug alles auf einem Tablett in den Wohnraum, wo sie sich, nachdem sie den Radioapparat eingeschaltet hatte, behaglich in einem Sessel niederließ, die Beine über die Lehne hängte und die von Christian mitgebrachte Zeitung studierte. Während sie ihre Brote verzehrte, versuchte sie außerdem, die im Radio durchgegebenen Reportagen mitzuhören. Christian hatte im Lokalteil der Zeitung eine Theaterkritik angestrichen. Sie vermutete, daß er sie nächstens auffordern würde, sich das Stück mit ihm anzusehen. Erfreulicherweise bekam er manchmal Freikarten.

    Sie seufzte bei dem Gedanken an Christian unwillkürlich auf. Natürlich hatte sie ihn furchtbar gern, aber vielleicht kannte sie ihn schon ein wenig zu lange, um ihn aufregend finden zu können. Als Freund ihres Bruders war er auch für sie gewissermaßen ein Bruder geworden, und es fiel ihr heute schwer, ihn, den sie seinerzeit als Trapper oder Indianer weidlich tyrannisiert hatte, plötzlich in der Rolle des Liebhabers zu sehen. Er hatte sich früher, wenn auch nicht immer mit großer Begeisterung, meist ihrem Kommando gefügt. Da sie den Jungen an Witz und Energie, auch an Flinkheit überlegen gewesen war, hatte sie stets zumindest den Versuch gemacht, die Herrschaft an sich zu reißen. Seine damalige Gefügigkeit schadete ihm heute vielleicht ein wenig.

    Sie seufzte noch einmal und rutschte tiefer in ihren Sessel. Während sie gelangweilt die neuesten Nachrichten überflog, fragte sie sich, woran es liegen mochte, daß ihr in letzter Zeit nichts mehr einfallen wollte. Sie hatte es einfach satt, wie bisher immer nur über Liebe und unglückselige Paare zu schreiben, die aus den kompliziertesten und nicht immer ganz logischen Gründen nicht zusammenkommen konnten. Es war stets dasselbe und ödete sie allmählich an.

    Gelangweilt faltete sie die Zeitung zusammen, trug das Geschirr in die Küche und wusch ab. Nachdem sie ihr Bircher Benner-Müsli für den nächsten Morgen vorbereitet hatte, ging sie ins Schlafzimmer, um die Übergardinen vorzuziehen. Sie hatte eigentlich gleich wieder nach vorn zum Radioapparat zurückkehren wollen – die hell erleuchteten Fenster und Loggiatüren des Nachbarhauses verlockten sie jedoch, noch einmal ihren Beobachtungsposten einzunehmen. Frau Richter und Familie hatten endlich die Küche verlassen und nahmen nun vermutlich nebenan hinter den geschlossenen Gardinen ihr Abendbrot ein. Das erleuchtete anstoßende Zimmer, das zur Junkerschen Wohnung gehörte, war leer. In der Etage darunter war die linke Wohnung dunkel, während rechts das alte Ehepaar wie gewöhnlich um diese Zeit vor dem Fernsehapparat saß. Pamela konnte deutlich den bläulich flimmernden Bildschirm sehen und sogar ein Gesicht in Großaufnahme erkennen. Im Erdgeschoß links waren die Jalousien geschlossen. Dort arbeitete tagsüber ein Architekt, der die Wohnung abends verließ, in der Nachbarwohnung brannte in sämtlichen Räumen Licht. Pamela blickte in einen mit Teakholzmöbeln eingerichteten Wohnraum, dessen Boden von einem grünen Teppich bedeckt wurde. Der braunverbrannte Wohnungsinhaber stand vor der geöffneten, reich versehenen Bar, die einen Teil der wandbreiten und deckenhohen Regal- und Schrankanlage einnahm.

    In einem der roten und blauen Sessel saß seine dunkelhaarige Frau. Sie unterhielt sich mit einem Herrn, von dem Pamela nur die rechte Schulter und die lang ausgestreckten Beine sehen konnte. Schon wollte sich Pamela gähnend zurückziehen, als Frau Junkers, der ‚Feldherr‘, wieder in Erscheinung trat. Die weißhaarige alte Dame – das Haar war wie gewöhnlich bläulich getönt und wurde durch ein Netz geschützt – trug ein ziemlich altmodisches Kleid aus heller Seide mit Spitzen am Kragen und den Manschetten und einer roten Rose am Ausschnitt. Um den Hals trug Frau Junkers eine Kette. Die alte Dame zögerte am Tisch vor dem Kamin, der, wie Pamela jetzt feststellte, für das Abendessen gedeckt war. In einem Körbchen schien Brot zu liegen, ein Glas blitzte. Die alte Dame betrachtete prüfend den Tisch und warf einen Blick zur Uhr auf dem Kaminsims. Dann verließ sie das Zimmer und betrat den erleuchteten leeren Raum nebenan.

    An einem Möbelstück – einem Sekretär offensichtlich – machte sie sich eine kleine Weile zu schaffen. Endlich ging sie zu dem offenen Fenster hinüber, stützte die Hände auf die Brüstung und blickte hinaus.

    Pamela erhob sich, gähnte noch einmal und griff nach der seidenen Kordel der Übergardine. Der Vorhang glitt von rechts auf sie zu. Sie wollte nach der linken Kordel greifen, als etwas – später konnte sie nicht mehr erklären, was es eigentlich gewesen war – sie veranlaßte, doch noch einmal den Kopf zu heben.

    Sie sah Frau Junkers noch immer am Fenster stehen, wo sie sich leicht vorbeugte. In diesem Augenblick öffnete sich die Zimmertür, eine Gestalt erschien im Rahmen, zögerte plötzlich. Es war ... ja, soviel konnte sie erkennen, es war ein Mann in Mantel und Hut. Er stand fast ganz im Dunkeln, denn in der Diele brannte kein Licht.

    Der Mann hatte die alte Dame am Fenster nicht angesprochen oder aber sie hatte ihn nicht gehört, denn sie rührte sich nicht von ihrem Platz. Noch immer stand sie leicht vorgebeugt da, als habe etwas im Garten ihre Aufmerksamkeit erregt.

    Im nächsten Augenblick machte der Mann eine rasche Bewegung, das Zimmer wurde dunkel.

    Was soll das bedeuten? fragte sich Pamela verblüfft. Warum knipst er ihr das Licht aus?

    Sie hätte der Angelegenheit, die blitzschnell abgelaufen war, wohl nie die leiseste Bedeutung beigemessen, hätte sie nicht plötzlich einen Aufschrei gehört, einen Schrei, der allerdings so leise war, daß sie sich hinterher fragte, ob sie ihn auch wirklich gehört hatte.

    Sie blickte unwillkürlich zu dem jetzt dunklen Fenster hinüber, wo sich eben noch die erleuchtete Gestalt der alten Dame abgezeichnet hatte. Das Fenster war ... leer. Statt dessen stürzte etwas Großes, Schweres, eine im Dunkeln formlose Masse, aus dem zweiten Stock herab und schlug unten schwer auf.

    Nein! dachte Pamela unwillkürlich und griff sich entsetzt an den Hals.

    Mit zitternden Händen suchte sie dann hastig nach dem Feldstecher, der irgendwo auf der Fensterbrüstung stehen mußte. Sie fand ihn nicht und hatte ihn auch gleich wieder vergessen. Erschrocken suchte ihr Blick noch einmal das offene Fenster im zweiten Stock. Nein, es war leer.

    „Mein Gott! stieß sie laut hervor. „Das kann doch nicht sein!

    Sekundenlang war sie wie gelähmt, unfähig, sich auch nur zu rühren. Es dauerte eine Weile, bis sie überhaupt richtig begriff, was drüben geschehen war. Frau Junkers, der Feldherr ... Ihre Augen versuchten vergebens, das Dunkel des Nachbargartens zu durchdringen, aber sie sah nichts, überhaupt nichts. Unmittelbar am

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1