Das Geheimnis der "Oceanic"
Von Carlo Andersen und Knud Meister
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Buchvorschau
Das Geheimnis der "Oceanic" - Carlo Andersen
www.egmont.com
Erstes Kapitel
Die »Oceanic«
»So etwas Schönes haben wir wirklich noch nie erlebt!« sagte Jan Helmer. Er stand an der Reling des großen Vergnügungsdampfers »Oceanic« und blickte auf den Hafen von Kopenhagen, der immer mehr in die Ferne rückte, während der Dampfer nordwärts nach Kronberg fuhr.
Neben ihm stand sein unzertrennlicher Freund und Gefolgsmann Erling Krag. Natürlich war der dicke Erling mit Essen beschäftigt! Der Inhalt einer großen Tüte Rahmkaramellen verschwand ruhig und sicher in seinem Magen, indes er zusammen mit seinem Freund die herrliche Aussicht genoß.
»Ja, da hast du recht«, antwortete Erling. »Hier ist es in jeder Beziehung erstklassig.« Er redete etwas undeutlich, weil die zähen Karamellen an seinen Zähnen klebten. »Jetzt fehlt uns nur noch ein kleiner aufregender Fall, an dem mein hochgeschätzter Freund, Herr Jan Helmer, seine schon oft bewiesenen Fähigkeiten als Sherlock Holmes erproben kann. Wenn ein solcher Fall sich ergäbe, wäre es geradezu ideal.«
»Na, die Gefahr ist sicher nicht groß«, meinte Jan. »Hier sieht es jedenfalls höchst friedlich aus.«
»Es gibt aber noch etwas«, ereiferte sich Erling und verzehrte noch eine Rahmkaramelle, »etwas sehr Wichtiges, das wir noch nicht in Augenschein genommen haben.«
»Und das wäre?«
»Die Küche, das heißt die Kombüse. Man sagt, daß es auf Schiffen immer besonders gutes Essen gibt. Es würde mich freuen, wenn dieses Gerücht der Wahrheit entspräche.«
»Ach, du denkst immer nur ans Essen«, seufzte Jan.
»Zum Ausgleich denkst du nie an Speis und Trank. Da ist es bloß gut, daß ich mich dieser außerordentlich bedeutsamen Angelegenheit bereitwilligst für uns beide annehme«, erwiderte Erling. »Wenn wir nichts zu essen bekämen ...«
»Hör auf, ich kenne deinen Standpunkt allzu gut. Wir wollen uns lieber noch ein bißchen umschauen. Komm!«
Die Tatsache, daß Jan mit seinem Freund Erling das entführte Söhnchen des Schiffsreeders Morton gefunden und das Geheimnis dieses Kindsraubes aufgeklärt hatte, war Veranlassung gewesen, daß Morton die beiden Jungen zum Dank für ihre Bemühungen zu einer Fahrt nach den norwegischen Fjorden auf der »Oceanic« eingeladen hatte, auf dem schönsten Luxusdampfer der Nordsee, der kurze Kreuzfahrten in den skandinavischen Gewässern unternahm. Es war ein beinahe neues Schiff, ganz modern eingerichtet, das die Bewunderung und Begeisterung der Knaben erregte.
Die »Oceanic« war schneeweiß gestrichen und elegant in den Linien. Sie wurde von Dieselmotoren angetrieben, so daß an Bord tadellose Sauberkeit herrschte, denn es gab keinen Kohlenstaub, der das Schiff beschmutzt hätte. Auf dem breiten Promenadendeck standen bequeme Liegestühle, von denen aus die Fahrgäste die Aussicht übers Meer betrachten konnten. Natürlich gab es auch einen schmucken Speisesaal, Galerien zuoberst auf dem Sonnendeck, Teesalons, Spielsalons und einen Ballsaal mit prächtigen Deckenmalereien. An einer andern Stelle entdeckten die Jungen einen großen Turnsaal mit Punchbällen, Rudermaschinen und vielen Turngeräten; schließlich entdeckten sie noch eine hübsche kleine Schwimmhalle mit hellgrünen Fliesen, wo das Wasser im Becken grasgrün schimmerte.
»Donnerwetter!«, stieß Jan hervor, als sie endlich ihren Rundgang beendet hatten und auf dem Deck in Liegestühle sanken. »Hast du gewußt, daß es an Bord eines Schiffes solche Annehmlichkeiten gibt?«
»Natürlich«, versetzte Erling würdevoll. »Aber ich betone nochmals, daß wir die Küche nicht besichtigt haben, so daß wir uns noch kein endgültiges Urteil bilden können.«
»Es wäre richtiger, wenn wir erst den Kapitän begrüßten«, bestimmte Jan. »Ich glaube, wir steigen einmal auf die Brücke hinauf.«
»Brücke! Du bist wahrhaftig schon ein befahrener Seemann geworden!« lachte Erling. »Wir armseligen Landkrabben pflegen ›Kommandobrücke‹ zu sagen; aber du zählst dich offenbar zu den alteingesessenen Seeleuten. Du berechnest die Zeit wohl auch nach ›Glasen‹ und ›purrst‹a, anstatt deinen Nachbar auf Landkrabbenart einfach zu wecken?«
»Laß deine dummen Witze. Ich erinnere mich gut, wie du bei unsern detektivistischen Unternehmungen immer wie ein Kriminalbeamter redetest. Also, komm mit auf die Brücke, armselige Landkrabbe!«
Die Knaben gingen nicht ohne einen gewissen Stolz an dem Schild vorbei, welches verkündete, daß Unbefugten hier der Zutritt verboten war. Sie sprangen die Treppe zur Kommandobrücke hinauf, wo sie Kapitän Bentsen trafen, der sich als ein Seemann von modernem Schlage erwies. Er war kein bärtiger, jovialer Seebär, wie er in Seegeschichten vorkommt, sondern ein schlanker junger Mann mit sonnverbranntem, glattrasiertem Gesicht, klugen, scharfen blauen Augen und einem freundlichen Lächeln um die schmalen Lippen.
»So, da sind ja meine beiden Ehrenpassagiere«, sagte er und drückte Jan und Erling die Hand. »Hoffentlich gefällt euch die Fahrt, und hoffentlich werdet ihr nicht seekrank.«
»O nein, wir sind durchs Segeln abgebrüht«, entgegnete Erling.
»Wahrhaftig?«
»Ja, wir gehören zu den Junioren vom Helleruper Segelklub«, erklärte Jan. »Aber viel wird uns das wohl nicht nützen, wenn wir in hohen Wellengang geraten.«
»Nun ja, ich muß einräumen, daß zwischen der ›Oceanic‹ und einem Junioren-Übungsboot ein Unterschied besteht«, lächelte der Kapitän. »Zum Glück sieht es aber nicht so aus, als ob wir Sturm zu befürchten hätten. Habt ihr schon eure Kabine gesehen?«
»Ja, sie ist wunderschön.«
»Und habt ihr euch auch sonst auf dem Schiff umgeschaut?«
»Erst flüchtig«, antwortete Erling. »Wir haben uns noch nicht auf lange Expeditionen gewagt, sondern wollten erst mit Ihnen sprechen.«
»Das ist nett von euch. Es freut mich, daß ich nun eure Bekanntschaft gemacht habe. Ich bin überzeugt, daß ihr mir keine Ungelegenheiten bereiten werdet.«
»Bestimmt nicht«, versicherte Jan.
Aber Erling fügte schnell hinzu: »Abgesehen davon, daß ich die Neigung habe, alle Speisekammern zu leeren, die in meinen Gesichtskreis geraten, werden wir uns tadellos benehmen. Ich möchte Sie nur von vornherein auf meinen ungeheuren Appetit aufmerksam machen, Herr Kapitän.«
»Du darfst ihm ruhig freien Lauf lassen«, lachte Bentsen. »Ich glaube, wir haben genügend Lebensmittel geladen, um dich zu sättigen. Allerdings siehst du aus, als ob du der Wochenration einer ganzen Besatzung an einem einzigen Tag den Garaus machen könntest!«
»Da hast du’s«, lachte Jan.
Erling verbeugte sich tief und sagte: »Ich danke Ihnen für Ihr Zutrauen, Herr Kapitän. Falls es übrigens Arbeit für einen tüchtigen Detektiv gibt, so empfiehlt sich Ihnen die Firma Jan und Kompanie mit allem, was zum Fach gehört. Die Kompanie bin ich.«
»Die letzte Aufklärung war überflüssig«, antwortete Kapitän Bentsen schmunzelnd. Er drehte sich nach einem Mann um, der gerade die Treppe zur Kommandobrücke heraufkam: »Ah, Steuermann Bögh, hören Sie ...«
Der Steuermann trat herbei. Er war wirklich ein kleiner, vierschrötiger Seebär mit kurzem Vollbart und lustig blitzenden braunen Augen. Nachdem der Kapitän ihm die Knaben vorgestellt hatte, reichte er ihnen eine Hand, die ungefähr die Größe einer Gartenschaufel hatte, und sein Händedruck war so kräftig, daß sie die Zähne zusammenbeißen mußten.
»So, das sind also Sherlock Holmes und Doktor Watson«, lachte Bögh. »Ich bin ein großer Liebhaber von guten Detektivgeschichten, und ich werde gern die Gelegenheit benutzen, mit euch gemütlich über eure Erlebnisse zu plaudern. Wir wollen zusammenhalten. Ich weiß, was ihr geleistet habt, und ich muß sagen, das war ein schönes Stück Arbeit. Ich beneide dich sehr, Jan; denn ich habe mir schon immer gewünscht, einmal ein Verbrechen aufklären zu können.« Mit einem Seufzer fügte er hinzu: »Leider sehe ich keine Möglichkeiten für die Erfüllung dieses Wunsches. Ich eigne mich nicht für solche Dinge.«
»Ich wußte ja gar nicht, daß Sie ein verkappter Detektiv sind, Steuermann«, sagte der Kapitän und zündete sich seine Pfeife an. »Das kommt davon, wenn man Verbrecherromane liest.«
»Entschuldigung, da muß ich widersprechen«, entgegnete Bögh. »Ich habe noch nie einen Verbrecherroman aufgeschlagen. Was ich lese, das sind Detektivromane.«
»Das ist doch wohl dasselbe«, meinte Bentsen.
»O nein, das sind zwei ganz verschiedene Sachen. Ein Verbrecherroman handelt, wie das Wort sagt, von Verbrechern, deren ›Taten‹ er gewöhnlich