Juister Onkel. Ostfrieslandkrimi
Von Sina Jorritsma
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Buchvorschau
Juister Onkel. Ostfrieslandkrimi - Sina Jorritsma
Kapitel 1
Kommissarin Antje Fedder von der Juister Polizei liebte den Strand und verabscheute das Verbrechen. An diesem schönen Sommertag Anfang August patrouillierte sie gemeinsam mit ihrem Kollegen und Freund Roland Witte an dem Strandabschnitt, der Loogbad genannt wurde. Dieser Teil des breiten Sandbandes vom »Töwerland« war etwas kleiner als der Hauptbadestrand, doch auch hier wachten die Rettungsschwimmer darüber, dass die Urlauber im Meer nicht in Gefahr gerieten.
»So eine ruhige Saison hatten wir schon lange nicht mehr«, meinte die Polizistin und schob einige Strähnen ihres langen blonden Haars wieder unter die Dienstmütze. Eine kräftige Brise wehte, wodurch die Fahnen an den Masten knatterten und die Windspiele geheimnisvoll klingende Melodien von sich gaben. Das Kreischen der Möwen und das fröhliche Lachen der Kinder im flachen Wasser vervollständigten die idyllische Geräuschkulisse.
»Beschreie es nicht«, erwiderte Roland lächelnd, »ein einziger großer Fall reicht aus, um unsere Zeit vollkommen in Anspruch zu nehmen. Momentan sieht es zum Glück überhaupt nicht danach aus. – Wollen wir mal sehen, wie weit das Sandschiff inzwischen ist?«
»Ja, es liegt sowieso auf unserem Weg«, gab Antje zurück. Jedes Jahr machte sich eine kleine Gruppe von Freiwilligen daran, unter der Anleitung des erfahrenen Wattführers Malte John ein beeindruckendes antikes Schiff aus Sand zu kreieren. Diese Objekte zogen zahlreiche Touristen an, die Fotos von der Entstehung und dem fertigen Produkt machten. Wenn sie den Anblick genießen wollten, war das Zeitfenster dafür sehr klein – die nächste Flut sorgte dafür, dass sich der imposante Bau umgehend wieder in einen riesigen Sandklumpen verwandelte.
»Dieses Jahr hat man sich für eine Galeasse entschieden«, erklärte die Kommissarin, während sie und ihr Partner durch den weichen Sand auf das Kunstwerk zustapften.
»Woran siehst du das?«, fragte Roland verblüfft.
Antje deutete auf das Sandschiff und erklärte: »Siehst du dieses hohe Bord des Rumpfs? Eine Galeasse hatte viel mehr Tiefgang als eine Galeere, obwohl der Antrieb durch Rudermannschaften eine gemeinsame Eigenschaft war. Es gab auch ein großes Lateinersegel, das du hier aber nicht sehen kannst, weil es keinen Mast gibt.«
»Man merkt schon, dass du die Tochter eines alten Seebären bist«, gab Roland schmunzelnd zurück, während er ihr einen verliebten Blick zuwarf. »Ich entdecke immer neue Seiten an dir.«
»Mein Vater hat ein Buch über antike Schiffstypen. Das habe ich beinahe auswendig gelernt, als ich während meiner Kindheit mal mit Masern das Bett hüten musste. Die Sandschiffkonstrukteure lassen sich jedenfalls immer etwas Neues einfallen, und … da ist ja Malte!«
In diesem Moment kam nämlich der Wattführer hinter dem Heck der Galeasse hervor. Die Aufbauten des Wasserfahrzeugs aus Sand ragten fast zwei Meter über den Boden, sodass ein ausgewachsener Mann sich dahinter problemlos verbergen konnte. Malte John war barfuß, so wie die übrigen Sandkünstler, die mit Spaten und Maurerkellen letzte Hand an das Schiff legten.
»Moin, Antje und Roland! Na, was sagt ihr?«, fragte der Wattführer. Voller Besitzerstolz deutete er auf die Galeasse. Die Polizistin verkniff sich ein Schmunzeln. Wie die meisten Inselfriesen neigte Malte John eigentlich nicht zu übertriebenen Gefühlsausbrüchen. Doch die Planung und Durchführung des Sandschiffs war jedes Jahr sein ganz besonderes Steckenpferd. Mit traumwandlerischer Sicherheit schaffte er es immer wieder, talentierte Einheimische und Urlauber für dieses Projekt zu begeistern. Sie alle verrichteten ihre schweißtreibende Arbeit nämlich ehrenamtlich. Und nachdem sie so viel Sand bewegt und daraus ein beachtliches Kunstwerk geschaffen hatten, wurde dieses von den heranflutenden Wellen wieder zunichtegemacht.
Vielleicht besteht genau in dieser Vergänglichkeit ja der Reiz, dachte die Kommissarin. Sie meinte: »Ohne deine Sandschiffe wäre Juist um eine Attraktion ärmer.«
»Man tut, was man kann«, erwiderte John und schaute Richtung Spülsaum. »Für nächstes Jahr habe ich auch schon eine Idee.«
Bevor Antje darauf eingehen konnte, klingelte ihr Smartphone. Sie und Roland waren die einzigen Polizisten auf dem Eiland. Wenn also jemand bei der Wache anrief und die beiden anderweitig zu tun hatten, wurde das Telefonat auf ihr Mobilgerät umgeleitet. Die Kommissarin meldete sich mit Namen und Dienstgrad.
»Moin, hier spricht Vanessa Riepe«, sagte eine aufgeregt klingende junge Frau, »ich muss meinen Ehemann als vermisst melden!«
Der Name sagte Antje etwas. Als gebürtige Insulanerin kannte sie viele der 1.500 ständigen Bewohner Juists persönlich. Auch Vanessa Riepe war ihr schon begegnet, allerdings hatte die Polizistin noch nicht länger mit ihr gesprochen.
»Liegt denn ein medizinischer Notfall vor, Frau Riepe? Oder gibt es Hinweise auf ein Verbrechen?«
»Ole ist sang- und klanglos verschwunden, reicht das vielleicht nicht?«, erwiderte die Anruferin. Sie klang nun fast schon hysterisch.
Antje lag die Feststellung auf der Zunge, dass die Polizei nicht tätig werden konnte, wenn ein gesunder volljähriger Mensch sich plötzlich ohne Angabe von Gründen aus dem Staub machte. Sie hielt es für besser, mit Vanessa Riepe persönlich zu sprechen. Daher sagte sie: »Ich schlage vor, dass Sie zur Polizeiwache kommen. Dann können wir in Ruhe miteinander reden. Passt es Ihnen in einer halben Stunde?«
»Je schneller, desto besser. Beeilen Sie sich bitte!«
Mit diesen Worten beendete die Anruferin das Telefonat. Antje steckte ihr Smartphone wieder ein und sagte zu dem Wattführer: »Die Pflicht ruft, Malte. Aber wir werden deine Galeasse gewiss noch einmal gebührend betrachten können, bevor die Flut kommt.«
John nickte einfach nur und korrigierte mit seinem Spachtel ein Stück Reling aus Sand. Die Polizisten machten kehrt und gingen zu ihren Fahrrädern zurück, die sie beim Haus des Gastes zurückgelassen hatten. Während des kurzen Fußmarschs berichtete Antje von dem Anruf.
»Vanessa ist doch die Ehefrau von diesem Ole Riepe, nicht wahr? Das ist doch dieser ›Briefkastenonkel‹«, sagte Roland.
Die Kommissarin musste lachen: »›Briefkastenonkel‹? Ich bin sicher, dass Ole diese Bezeichnung nicht gefallen würde.«
Ihr Kollege zuckte mit den Schultern: »Tut mir leid, aber wie soll man diesen Verbreiter von Binsenweisheiten denn sonst nennen? Ein selbsternannter Philosoph, der im Internet hilfesuchenden Menschen mehr oder weniger brauchbare Ratschläge gibt und sich selbst als großen Auskenner feiert? Meine Oma hat solche Rubriken früher in ihren Frauenzeitschriften gelesen, heutzutage hat so ein Blender eine Show im Internet.«
»Du hast da auch schon mal reingeschaut, gib es zu«, erwiderte Antje augenzwinkernd.
»Ja – aber nur aus Neugierde. Wenn ich Lebensweisheiten benötige, würde ich mich lieber an einen Pfarrer oder an einen Psychologen wenden.«
»Oder an den Polizeidirektor«, schlug die Kommissarin lächelnd vor. Doch dann wurde sie wieder ernst: »Wir dürfen Vanessa Riepe nicht das Gefühl geben, dass wir sie veräppeln wollen. Mit etwas Glück ist ihr Göttergatte inzwischen wieder aufgetaucht, und die ganze Aufregung war für die Katz.«
Als die Kommissare die Polizeistation in der Carl-Stegmann-Straße erreichten, wartete die Anruferin dort bereits. Ihre Körpersprache drückte Ungeduld aus. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und lief auf dem Gehweg vor der Wache hin und her. Vanessa Riepe war eine Frau Anfang dreißig und somit erheblich jünger als ihr Ehemann. Ihr schulterlanges brünettes Haar trug sie modisch frisiert, an diesem Sommertag war sie mit einem kurzen Rock und einem ärmellosen violetten Top bekleidet. Ihre tiefe Sonnenbräune zeugte davon, dass sie viel Zeit an der frischen Luft verbrachte – was für viele Insulaner allerdings nicht ungewöhnlich war.
»Da sind Sie ja endlich!«, stieß sie anklagend hervor. Antje ließ sich von dem Vorwurf nicht aus der Ruhe bringen. Sie schloss die Tür zum Wachlokal auf. Die Juister Polizeistation war in einem Einfamilienhaus untergebracht, wobei sich die Diensträume im Erdgeschoss befanden. Im ersten Stockwerk wohnte die Kommissarin, und zwar allein. Trotz ihrer Beziehung zu Roland hielten die beiden es für besser, nicht auch noch zusammenzuleben. So hatten sie ihren jeweiligen Rückzugsraum. Antje setzte sich an ihren Schreibtisch und bot Vanessa Riepe ihren Besucherstuhl an.
»Wir können Ihren Ehemann nicht einfach suchen, ohne dass ein konkreter Verdacht auf eine Straftat besteht«, begann die Polizistin. Vanessa Riepe öffnete den Mund, aber Antje fuhr fort: »Deshalb stelle ich Ihnen einige Fragen, um die Lage besser einschätzen zu können. – Wann haben Sie Ole zum letzten Mal gesehen?«
»Das war gestern, also am 2. August«, lautete die Antwort. »Mein Mann befand sich in seinem Arbeitszimmer, er hatte ein paar Anrufe bekommen, die er in seiner Hilfestunde direkt bearbeitete. Sie beginnt um acht Uhr abends. Dabei wollte ich ihn nicht stören. Aber ich wusste, dass er ab 21 Uhr keine Telefonate mehr annimmt. Also klopfte ich an die Tür. Er war nicht mehr da. Ich suchte überall im Haus nach Ole, aber er blieb spurlos verschwunden.«
»Hilfestunde?«, wiederholte Roland. »Nennen Sie das wirklich so?«
»Kennen Sie die Sendungen meines Mannes nicht, Herr Witte?«
»Nee, nicht wirklich. Ich habe nur einmal kurz reingeschaut.«
Vanessa Riepe hob das Kinn und warf dem Kommissar einen kühlen Blick zu: »Ole ist ein Mann von großer Weisheit und Lebenserfahrung. Er hat schon viele Menschen bei wichtigen Entscheidungen unterstützen können.«
»Ich möchte auf den gestrigen Abend zurückkommen«, stellte Antje klar, bevor Roland etwas erwidern konnte. Sie fragte: »Vermutlich haben Sie versucht, Ihren Mann telefonisch zu erreichen?«
»Das wäre mir gar nicht möglich gewesen, Frau Fedder. Sein Smartphone lag in seinem Arbeitszimmer. Und unser Festnetztelefon steht im Flur.«
»Und der Raum, in dem Ihr Mann sich befand, war nicht abgeschlossen?«, hakte die Kommissarin nach.
Vanessa Riepe antwortete: »Selbstverständlich nicht. Ole weiß, dass ich nicht hereinkomme, während er seine Hilfestunde hat. Das würde ich mir nie erlauben.«
»Wo haben Sie sich während dieser Hilfestunde aufgehalten?«, erkundigte Roland sich, wobei er das Wort ironisch betonte. Falls der Ehefrau dies auffiel, ließ sie es sich jedenfalls nicht anmerken. Sie sagte: »Ich war erst in der Küche und dann im Wohnzimmer, wo ich mich mit einem Hörspiel unterhielt. Ich hatte eine Kleinigkeit zum Abendessen vorbereitet, weil Ole nach der Hilfestunde oft noch hungrig ist. Aber er war einfach fort.«
»Hätte Ihr Mann das Haus verlassen können, ohne dass Sie es bemerken?«
»Ja, wahrscheinlich, Frau Fedder. Aber warum hätte er das tun sollen?«
»Genau diese Frage müssen wir klären«, sagte die Kommissarin. Sie hakte nach: »Hat Ihr Mann sich in letzter Zeit verändert? Wirkte er bedrückt oder verängstigt? Fühlte er sich verfolgt?«
»Wollen