Jan ruft SOS
Von Carlo Andersen und Knud Meister
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Buchvorschau
Jan ruft SOS - Carlo Andersen
www.egmont.com
Erster Teil
Der Schmuck im Hafermehl
Erstes kapitel
Ferienfreuden
«Ich liebe dich wie nichts auf dieser Erden ... Ich liebe dich ... Ich liebe dich ...!»
«Dicker! Hör endlich auf mit dem Gegröle!»
Aber Erling war nicht so leicht zum Schweigen zu bringen. Er saß auf dem Deck der Segeljolle «Rex» und sang aus vollem Halse. In der Rechten hielt er eine Scheibe Brot mit Preßwurst (viel Senf!), und diesem belegten Brot galt seine Liebeserklärung, die Jespers Unwillen erregte.
«Ich liebe dich ... ich liiiiiiebe dich ... Ich ... puh ...!»
Der kleine Jesper, von den Kameraden «Krümel» genannt, hatte seinem dicken Freund einen Eimer voll Wasser mitten ins Gesicht geklatscht und ihn so — freilich auf eine etwas drastische Weise — zum Verstummen gebracht. Carl, der sich durch ungewöhnliche Körperkräfte auszeichnete und seinen Freunden an Alter etwas voraus war, mußte über Erlings Gesicht derart lachen, daß er beinahe die Fockschot, die er gerade festmachen wollte, hätte fahrenlassen. Jan endlich, der vierte im Bunde, der an der Ruderpinne saß, grinste stillvergnügt.
Erling spie das Salzwasser aus, legte sein Wurstbrot aus der Hand, setzte sich langsam aber unaufhaltsam in Bewegung und steuerte geradenwegs auf den Übeltäter zu. «Das sollst du mir büßen, Krümel!» drohte er.
«Gnade, Gnade ... großer Herr!» rief Krümel erschrocken. «Es war nicht bös gemeint! ... Erling, laß nach! ... Sei doch nicht so gemein ...!»
Aber Erling packte mit der einen Hand den Missetäter beim Haarschopf und griff mit der andern nach Jespers Eimer. «Rache ist süß!» sagte er grimmig.
Dabei schwang er den Eimer an der Leine über Bord, zog ihn herauf und ließ das kühle Meerwasser langsam über Kopf und Rücken des Sünders hinunterrinnen.
Jesper brüllte aus voller Kehle, als ginge es ihm ans Leben. Doch es half ihm nichts; Erling hielt ihn mit starker Hand gepackt und ließ erst los, als der Eimer leer war. Jesper schüttelte sich noch eine Weile. Da er aber nur eine Badehose trug, war der Schaden nicht groß. Schnell war der Friede geschlossen, und die beiden Kampfhähne wälzten sich nebeneinander lachend auf dem Deck der Segeljolle, bis Erling plötzlich aufsprang und voller Entsetzen rief: «Mein Wurstbrot!!!»
Das belegte Brot hatte in der heißen Sonne gelegen; die Wurstscheiben krümmten sich und die dick aufgestrichene Butter begann zu zerfließen.
«Siehst du!» fuhr Erling aufgebracht fort, «nun schmilzt schon die Butter! Das ist ganz allein deine Schuld, du elender Wurm!»
«Meine Schuld?» gab Jesper zurück. «Nicht die Spur! Du bist selber schuld! Denn hättest du nicht das blöde Lied von Aarestrup gegrölt ...»
«Aarestrup ...!» Erling machte ein Gesicht, als habe er auf einen wurzelkranken Zahn gebissen.
«Kleiner Krümel!» begann er, traurig den Kopf schüttelnd. «Aus dir wird nie etwas Rechtes! Wie soll das bloß enden? Jedermann wird sagen: ‚Gewiß, er ist ein ganz netter Kerl ... aber begabt? Nicht die Spur! Und gebildet? Nicht die Spur! Man denke sich: er kriegt es fertig, Aarestrup mit Andersen zu verwechseln, bloß weil sie beide mit einem ‚A’ anfangen. Mit dergleichen beklagenswerten Irrtümern schreitet er nun durchs Leben und streut sie um sich, wie man Asche auf die Schlittenbahn streut!»
«Ist das Gedicht nicht von Aarestrup?» fragte Jesper verwundert. «Ist es von Andersen? Ehrenwort?»
«Von H. C. Andersen!» bestätigte Erling. «Merke es dir für den unwahrscheinlichen Fall, daß du eines Tages eingeladen werden solltest, am Rundfunkquiz teilzunehmen.»
«Und die Melodie?» fragte Carl. «Man hört das Lied manchmal im Radio. Freilich tat Erling sein Möglichstes, um es unkenntlich zu machen. Von wem ist die Melodie?»
«Von Grieg!» erwiderte Jesper schnell. «War es diesmal richtig, Dicker?» fügte er etwas kleinlaut hinzu.
«Manchmal findet selbst ein blindes Huhn ein Korn», sagte Erling gutmütig; dabei biß er mit sichtlichem Behagen in sein Wurstbrot, das augenscheinlich immer noch genießbar war.
Die Wellen plätscherten munter gegen die Seiten des Boots. Der Wind frischte spürbar auf. Die Küste der Insel Fünen lag im hellen Sonnenschein.
Carl stand auf und streckte die Glieder. «Bald sind wir in Nyborg», sagte er und holte die Fockschot etwas ein, um dichter an den Wind zu gehen.
«Bald sind wir in Nyborg», wiederholte Jesper. Seine Stimme klang nicht gerade begeistert. «Das bedeutet, daß für mich die Ferien nun bald zu Ende sind ... Schade!»
«Du brauchst doch nur bei uns zu bleiben», meinte Jan. «Wir schicken dich nicht fort. Das weißt du ja.»
«Natürlich weiß ich das, Jan», sagte Jesper. «Aber ich habe nun einmal versprochen, daß ich von Nyborg aus direkt nach Hause fahre. Ein Vetter aus der Provinz erweist unserem geringen Hause die Ehre. Es würde wirklich nicht gut aussehen, wenn es da hieße, ich mache gerade mit meinen Freunden eine Segelfahrt. Der Besuch kommt nämlich eigentlich nur meinetwegen nach Kopenhagen ... oder wenigstens rechnet er bestimmt darauf, daß ich da bin. Da ist nichts zu machen. Sobald wir in Nyborg sind, nehme ich die erste Fähre nach Korsör und dampfe ab.»
«Schade, kleiner Krümel!» sagte Erling mit aufrichtigem Bedauern. «Du wirst mir fehlen.»
«Du mir auch, dickes Dromedar!» erwiderte Jesper.
Erling war aufgestanden und verneigte sich vor seinem kleinen Freunde mit chinesischer Förmlichkeit. Dieser folgte seinem Beispiel.
«Was habt ihr eigentlich in Nyborg vor?» fragte Jesper, als sie wieder saßen.
«Nichts Besonderes», erwiderte Jan. «Wollen bloß die Stadt ein bißchen ansehen. Dann kann die Reise gleich weitergehen. Ich dachte daran, die Südküste von Seeland zu umsegeln, wenn das Wetter günstig bleibt. Schade, daß du nicht mitfahren kannst!»
Jan hielt stetigen Kurs auf die Küste, die man schon erkennen konnte. Eine Eisenbahnfähre, die von Korsör herüberkam, hielt auf die Einfahrt des Nyborger Hafens zu.
«Hoffentlich kommen wir mit der Hafengebühr billig weg», meinte Carl. «Wir müssen sparen.»
«Die Hafengebühr?» lachte Jan. «Wenn es weiter nichts wäre! Viel schlimmer wird es über unser Geld hergehen, wenn Erling den Wagen mit den warmen Würstchen entdeckt.»
«Sagtest du warme Würstchen?» rief Erling aufgeregt. «Und wir sind noch nicht an Land? Ha! Warme Würstchen! Mit Brot und Senf! Munter, Käpt’n! Mehr Fahrt, wenn ich bitten darf!»
«Immer mit der Ruhe, Dicker!» lachte Jan. «Es sind genug warme Würstchen da!»
«Vergiß nicht, daß wir noch Ferien haben! Da pflegen immer viele Touristen an Bord der Fähre zu sein! Stelle dir vor, die esse alles auf!»
«Du hast Glück, Erling!» beruhigte ihn Carl. «Da kommt eine kleine Bö! Jetzt machen wir gute Fahrt. Soll ich das Ruder übernehmen, Jan?»
«Nicht nötig, Carl! Ich bin zwar kein Berufsseemann wie du. Aber der Nyborger Hafen bietet für einen Sportsegler kaum Schwierigkeiten.»
«So war es auch nicht gemeint, Jan!» entschuldigte sich der starke, aber gutmütige Carl, der sich auf das Steuermannsexamen vorbereitete. «Einem so tüchtigen Sportsegler, wie du es bist, dürfte es kaum passieren, daß er mit einer Boje kollidiert. Die Hauptsache ist: du bohrst das Fährschiff nicht in den Grund!»
Etwas später waren sie an Land und legten im Segelhafen an. Jesper ergriff seinen kleinen Koffer. Dann wanderten die vier Freunde nebeneinander am Kai entlang bis zur Liegestelle der Eisenbahnfähren, die die Inseln Fünen und Seeland miteinander verbinden.
An der Liegestelle waren zahlreiche Autos aufgefahren, die auf die Fähre warteten, und vor dem Wagen mit den warmen Würstchen hatte sich eine ziemlich lange Schlange gebildet. Aber es war keine Not. Ein jeder bekam seine Wurst.
Sie hatten noch nicht ganz aufgegessen — Erling schlug gerade vor, sie sollten zum Nachtisch noch eine Eiswaffel genehmigen — als die Fähre schon anlegte. Kurz darauf fuhren die ersten Autos an Land.
Die Buben betrachteten interessiert die vielen eleganten Wagen, die teilweise, wie man an den Nummernschildern sah, aus England, Deutschland, Frankreich, Holland und Belgien kamen, und spähten nach Typen aus, die sie vielleicht noch nicht kannten.
Das mächtige Fährschiff entlud sich schnell, und es waren nicht mehr viele Autos an Bord, als plötzlich eine Stockung eintrat. Ein gelber viersitziger Sportwagen, mit einer jungen Dame am Steuerrad und einer zweiten als Passagier, fuhr zu schnell von der Fähre herunter, und da der schwarze Chevrolet, der in der Reihe vor dem Sportwagen fuhr, im selben Augenblick bremsen mußte, prallte der Sportwagen auf das Heck des Vordermanns.
Es knirschte und krachte, und beide Wagen wurden ziemlich schwer beschädigt. Die Dame, die in dem Sportwagen neben der Fahrerin saß, hatte sich gerade etwas vorgebeugt. Bei dem Zusammenprall wurde sie gegen die Windschutzscheibe geschleudert und über dem linken Auge — glücklicherweise nur leicht — verletzt.
Jan und seine Freunde gingen hin, um sich die beiden beschädigten Wagen aus der Nähe anzuschauen. So wurden sie in ein Abenteuer verwickelt, das sie in der friedlichen Stadt Nyborg wirklich nicht erwartet hatten.
Zweites kapitel
Jan schöpft Verdacht
Als die Buben vor den beiden Autos standen, sahen sie sofort, daß der Sportwagen bei dem Zusammenstoß am schlimmsten gelitten hatte. Die vorderen Kotflügel waren stark verbeult, die Motorhaube war eingedrückt, und die Scheinwerfer waren zerbrochen.
Der Chevrolet — eine schwarze Limousine — hatte ebenfalls einige böse Schäden abbekommen; der Deckel des Kofferraums hatte sich verbogen, die hintere Stoßstange war abgerissen und die Schlußlichter waren zertrümmert.
Jan und seine Freunde waren nur aus Neugier hingegangen, um sich den Schaden anzusehen, und sie waren nicht die einzigen. Eine größere Zahl von Menschen, die auf dem Kai gestanden hatten, als die Fähre anlegte, hatte sich angesammelt. Sicherlich hatten sie aber nicht erwartet, Zeugen einer unerfreulichen Zankerei zu werden. Ein jüngerer blonder Mann stieg aus dem Chevrolet aus und ging schnell zu dem Sportwagen hinüber, wo die hübsche Fahrerin in hellgrauen weiten Hosen und einer karierten Bluse gerade dabei war, den Schaden zu besichtigen.
«Wie kann man nur so unvernünftig fahren!» rief der junge Mann. «Mein Wagen ist schön zugerichtet!»
Daß auch der Sportwagen Schaden genommen hatte, schien ihn nicht zu interessieren. Er schenkte ihm kaum einen flüchtigen Blick, betrachtete dagegen mit größter Aufmerksamkeit die Schäden, die sein eigener Wagen erlitten hatte.
«Es tut mir schrecklich leid», stammelte die junge Dame. «Ich begreife nicht ...»
«Begreife nicht ... Nein! Ich würde mich auch sehr wundern, wenn es eine vernünftige Erklärung dafür gäbe», fauchte der Mann und wandte sein Interesse wieder seinem Wagen zu.
Die junge Dame stand hilflos da. Es zitterte um ihren Mund, als wären ihr die Tränen nahe.
Ein Mann in einem hellgrauen eleganten Jackettanzug war inzwischen ebenfalls aus dem Chevrolet ausgestiegen, und auch die andere Dame, die im Sportwagen gesessen hatte, gesellte sich zu den übrigen. Sie trug wie ihre Freundin eine weite Hose und eine Bluse. «Typische Touristen!» dachte Jan, und seine Augen glitten über die vier Lederkoffer, die hinten in dem Sportwagen aufgestapelt waren. Es waren offenbar zwei wohlhabende junge Damen, die in die Ferien fuhren. Und nun war es zu diesem Zusammenstoß gekommen, der ihre Ferienfreude etwas zu trüben drohte. Aber schlimm war es doch eigentlich nicht. Die Wagen mußten für eine Weile in die Reparaturwerkstatt. Hinterher würden sie genau so elegant aussehen wie zuvor.
Der Mann, der zuletzt aus dem Chevrolet ausgestiegen war,