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Der Kopf von Ijsselmonde
Der Kopf von Ijsselmonde
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eBook275 Seiten3 Stunden

Der Kopf von Ijsselmonde

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Über dieses E-Book

Spannung pur! Ein Waldarbeiter des beschaulichen Ortes Ijsselmonde macht zufällig einen grausigen Fund: den abgetrennten Kopf eines jungen Mannes südländischer Herkunft. Der Rest des Körpers ist nirgends aufzufinden. Lange tappt das Team um Inspektor van Arkel im Dunkeln, doch dann erhält es einen Tipp von einem dem Schlachthofangestellten, der wenige Tage später selber tot aufgefunden wird... Die Jagd auf den unsichtbaren Mörder beginnt!-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum9. März 2020
ISBN9788726412420
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    Buchvorschau

    Der Kopf von Ijsselmonde - Jacob Vis

    www.egmont.com

    1

    Das Arbeitspferd ging rückwärts, bis es kurz vor dem gefällten Baum stand. Der Holzrücker befestigte die Kette um den Stamm, nahm die Zügel auf und schnalzte. Das Pferd trat gehorsam an und schleppte den Stamm aus dem Wald.

    Der Forstarbeiter blieb am Waldrand stehen und kontrollierte den Abschnitt, in dem sie an diesem Tag gearbeitet hatten. Der letzte Baum lag zehn Meter vom Weg entfernt, kaum sichtbar unter einer Schicht von Zweigen verborgen. Das Rückepferd zögerte. Der Mann erhob die Stimme und behutsam schritt es in das Gestrüpp hinein. Plötzlich sank das Tier mit dem rechten Vorderbein weg. Es kämpfte um sein Gleichgewicht. Der Holzrücker ließ die Zügel fallen und hakte blitzschnell die Kette los. Die Zügel bekam er jedoch nicht mehr rechtzeitig wieder zu fassen. Die Stute quälte sich aus dem Loch heraus und trabte zu ihrem Hänger, der hundert Meter weiter auf dem Waldweg stand. Der Forstarbeiter rannte ihr schimpfend hinterher.

    Keuchend stand die Stute neben dem Hänger. Über ihren rechten Vorderhuf zog sich ein Streifen Blut und oberhalb des Kötenhaars klebte eine gelbgraue Substanz. Der Holzrücker kniete sich hin, um die Wunde zu untersuchen. Doch er konnte keine Verletzung erkennen. Merkwürdig. Angeekelt betrachtete er die Masse, die zäh auf den Weg tropfte. Er stellte das Pferd in den Hänger, füllte das Heunetz und schloss die Klappe. Dann holte er einen Spaten aus dem Auto, ging zurück zu der Stelle, an der das Pferd eingesunken war, schob die Zweige beiseite und begann zu schaufeln. Er grub wie ein erfahrener Bauer: kein Spatenstich zu viel. Plötzlich unterbrach er seine Arbeit. Auf dem Boden des Lochs lag ein mit Sand beschmutzter Menschenkopf, die Schädeldecke vom Pferdehuf halb eingetreten. Einen Augenblick starrte der Holzrücker seinen Fund reglos an. Dann hob er den Kopf mit dem Spaten aus dem Loch und trug ihn zum Hänger.

    Die Polizeibeamtin am Schalter musterte den Mann, der mit einem zugebundenen Müllsack die Wache betrat. Er trug eine Wollmütze und ein altmodisches Jackett über einem Arbeitsoverall. Er sah müde und mitgenommen aus: ein Mann am Ende eines harten Arbeitstages. Er blieb an der Tür stehen und blickte sich um.

    »Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie freundlich.

    »Ich möchte mit dem obersten Chef sprechen«, sagte er.

    »Commissaris Klein hat Urlaub«, antwortete sie, »und Inspecteur van Arkel ist in Zwolle. Er wollte aber heute Nachmittag nochmal reinkommen. Ist es dringend?«

    »Ja«, sagte der Mann. Er wirkte angespannt, entschlossen und hilflos zugleich. Sie betrachtete ihn, wie sie es auf der Polizeischule gelernt hatte. Wenn er jetzt ginge, würde sie ihn später haargenau beschreiben können.

    »Ich könnte Adjutant Vermeer Bescheid sagen.«

    Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich will den obersten Chef sprechen.«

    Er hielt den Sack fest umklammert, und dennoch hatte man den Eindruck, als könne er ihn jeden Moment von sich wegschleudern.

    Sie zeigte auf den Sack. »Hat es etwas damit zu tun?«

    »Ja.«

    Die Polizistin war eine vernünftige junge Frau. Laut Vorschrift hätte sie die Sache genauer unter die Lupe nehmen müssen. Es hätte sich um einen Verrückten handeln können, der mit einer Bombe das Präsidium in die Luft jagen wollte. Aber der Mann sah nicht aus wie ein Verrückter. Er sah aus wie jemand, der mit etwas Grauenvollem konfrontiert worden war, und solche Menschen sollte man nicht mit Vorschriften belästigen.

    »Wenn Sie mir nur schon mal Ihren Namen nennen würden«, bat sie.

    »Jan Westerhof.«

    Sie schrieb den Namen auf und notierte sich die Uhrzeit. »Ich rufe den Inspecteur im Auto an. Er wird inzwischen unterwegs sein. Aber es kann eine Weile dauern, bis er hier ist.«

    »Ich warte solange.«

    »Gut.« Sie zeigte auf die steinerne Wartebank. »Wenn Sie dort Platz nehmen möchten?«

    »Ein Mann mit einem Sack?«, wiederholte Ben van Arkel. Die Stimme der Beamtin klang durch das Autotelefon leicht verzerrt. Er schaute hinüber zum Polizeipräsidium am anderen Ufer. »Sag Bescheid, dass ich gleich komme. Die Brücke wird gerade geöffnet.«

    Das Mittelteil der eisernen Brücke ging in die Höhe. Von Norden näherte sich ein Lastkahn. Van Arkel stellte den Motor ab und betrachtete die Silhouette von Ijsselmonde: eine Reihe weißer, monumentaler Gebäude, begrenzt von zwei mittelalterlichen Toren. Auf der Südseite eine riesige Kirche. Von der Brüstung des Kirchturms aus blickte man auf die Dächer der alten Stadt: eine Mischung verschiedenster Baustile, vierzehntes bis zwanzigstes Jahrhundert. Der Gedanke, dass er in einem jener hübsch restaurierten alten Häuser an der Ijsselkade wohnte, versöhnte ihn einigermaßen mit den Zweifeln, die ihn hinsichtlich seines Berufs manchmal plagten.

    Er fuhr auf die Brücke, hinter ihm eine Frau in einem Peugeot 205. Sie hatte ein hübsches Gesicht mit einer etwas zu forschen Nase. In dem Moment, als sie nach links in die Kade einbog, raste ein junger Mann in einem alten BMW über die rote Ampel auf der gegenüberliegenden Seite. Er sah die Frau im letzten Moment und reagierte mit einer Vollbremsung, sein Wagen geriet ins Schleudern und blieb quer auf der Kreuzung stehen. Ein Aufprall schien unvermeidlich, doch die Frau fuhr in einem unnachahmlich geschickten Manöver um den BMW herum. Van Arkel schaute ihr voller Bewunderung hinterher. Dann stieg er aus und verpasste dem Straßenrowdy einen Strafzettel.

    Vor dem Präsidium stand ein VW-Bus mit Pferdeanhänger. Über der Klappe des Hängers hing ein Pferdeschweif. Van Arkel zupfte kurz daran und sprang erschrocken auf den Bürgersteig, als das Pferd dröhnend gegen die Wand des Hängers ausschlug.

    Die Beamtin am Schalter wies mit einem Kopfnicken auf den Forstarbeiter.

    »Das ist er.«

    »Ich nehme ihn mit in mein Büro«, sagte van Arkel. »War sonst noch etwas?«

    »Nein, Inspecteur.«

    Van Arkel streckte dem Mann die Hand hin und sagte: »Ich bin Inspecteur van Arkel. Sie wollten mich sprechen?«

    Der Forstarbeiter erwiderte schlaff seinen Händedruck. »Jan Westerhof, Holzrücker. Ich wollte den obersten Chef sprechen. Sind Sie das?«

    »Im Augenblick ja«, antwortete van Arkel. »Der Commissaris ist in Urlaub. Er kommt am Montag zurück. Wenn Sie ihn sprechen wollen, müssen Sie nächste Woche wiederkommen.«

    Westerhof zeigte auf den Sack. »So lange kann das nicht warten.«

    »Gehen wir in mein Büro«, sagte van Arkel. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee?«

    »Gern. Bestellen Sie gleich einen Schnaps dazu.«

    Van Arkel lächelte. »Ist es so schlimm?«

    Westerhof nickte. Van Arkel schaute ihn forschend an. Westerhof wirkte unnatürlich ruhig, als habe er etwas Schockierendes zu verkünden.

    Ein Mann im Arbeitskittel brachte ein Tablett mit Kaffee. Westerhof legte den Sack auf den Tisch und fing an, die Knoten aufzudröseln.

    »Setzen Sie sich lieber hin, Inspecteur.«

    »Ich sitze schon«, erwiderte van Arkel, erhob sich jedoch, als der Sack aufging. Auf dem Tisch stand der Kopf eines jungen Farbigen; das Plastik lag ihm wie eine Krause um den Hals. Die Schädeldecke war eingedrückt. In der linken Wange klaffte ein Loch. Das restliche Gesicht war unversehrt. Er konnte nicht länger als ein paar Tage tot sein. Van Arkel schaute Westerhof fassungslos an.

    »Woher haben Sie das?«

    »Aus dem Wald.«

    »Sie haben ihn heute Nachmittag gefunden?«

    »Ja. Ich bin danach sofort hergekommen.«

    »Meneer Westerhof, wo im Wald haben Sie das da gefunden?«

    »In Abschnitt 27, ein paar Meter neben dem Weg. Es war unser letzter Baum in diesem Abschnitt.«

    »Ich möchte gern, dass ein paar Kollegen sich das ansehen«, sagte van Arkel und wählte eine Nummer. »Jaap? Würdest du bitte rüber in mein Büro kommen? Ja, jetzt sofort. Bring Mirjam und Haydar mit.« Er schaute Westerhof an. »Jetzt erzählen Sie uns doch mal die ganze Geschichte. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, können Sie ruhig schon damit anfangen.«

    Westerhof nahm seine Mütze ab. »Das hätte ich beinahe vergessen ...« Er warf einen düsteren Blick auf den Kopf. »Meine Stute ist in ein Loch getreten. Als sie rauskam, war Blut an ihrem Huf. Sie hatte keine Verletzung, also musste es etwas anderes sein. Ich dachte an das, was wir Stinkgrube nennen, deshalb habe ich angefangen zu graben und ...«

    »Was ist eine Stinkgrube?«

    »Ein Loch mit Schlachtabfällen, um Füchse anzulocken.«

    Van Arkel öffnete das Fenster. »Wie kamen Sie darauf, dort zu graben?«

    »Es hätte ja auch was anderes sein können.«

    »Wie man sieht. Bitte fahren Sie fort.«

    »Unten in dem Loch fand ich den da und habe ihn mitgenommen.«

    »Und Ihnen ist nicht in den Sinn gekommen, ihn dort zu lassen und uns anzurufen?«

    »Nein. Wie Sie sehen, ist er schon angefressen.«

    »Augenblick«, sagte van Arkel. Er ließ Mirjam van Roon, Jaap Vermeer und Haydar Seyat herein. »Das ist Meneer Westerhof. Er hat uns das da mitgebracht.«

    Adjutant Vermeer schaute den Kopf an. Er war ein kräftiger Mann mit einem fleischigen Gesicht und Hornbrille. Er schüttelte Westerhof die Hand und fragte: »Wo haben Sie den gefunden, Westerhof?«

    »Im Wald.«

    »Mann, Mann, Mann ...« Vermeer zeigte auf die angefressene Wange. »Füchse?«

    »Glaub schon«, sagte Westerhof. »Deshalb habe ich ihn lieber mitgenommen.«

    »Gut gemacht«, sagte Vermeer.

    »Wo ist der Rest?«, fragte Brigadier Mirjam van Roon, eine hübsche blonde Frau von zweiunddreißig Jahren, die als Einzige Uniform trug.

    »Den müssen wir suchen«, sagte van Arkel. Mirjam warf ihrem Vorgesetzten einen Blick zu. Ohne seine Blumenkohlohren wäre er ein attraktiver Mann gewesen. So wie der Farbige, dessen Kopf auf dem Tisch lag. Das Gesicht des Toten war von so auffallender Schönheit, dass nicht einmal die Verstümmelung und der Gestank diesen Eindruck zunichte machen konnten.

    »Hübscher Junge«, sagte sie.

    »Kennt ihn jemand?«, fragte van Arkel.

    Brigadier Haydar Seyat nickte. Eigentlich war er zu klein für einen Polizisten, drei Zentimeter unter der Mindestgröße, doch er war angenommen worden, weil die Justizbehörden einen höheren Ausländeranteil forderten. Jetzt, acht Jahre später, war Seyat Brigadier, eine ungewöhnlich steile Karriere für einen Kurden, der gegen einen Berg von Vorurteilen anzukämpfen hatte.

    »Das ist Ronnie van Splunter aus der Nieuwstraat. Alias Ronnie Calypso.«

    Vor zwei Jahren waren acht antillische Familien aus einer benachbarten Stadt in die Nieuwstraat gezogen. Man habe sie deportiert, behaupteten sie. Umgesiedelt im Rahmen der Verteilungspolitik, erwiderte die Stadtverwaltung. Uns aufgehalst, klagten die Anwohner der Nieuwstraat und legten massiven Protest ein, als die Antillianer bei ihnen ihre lautstarke Straßenkultur einführten, welche an ihrem früheren Wohnort zu einem Krieg mit den Nachbarn geführt hatte. Haydar Seyat saß als Vertreter der Polizei in der Begleitkommission, die nach zwei Jahren Arbeit einen halbwegs akzeptierten Status quo erreicht hatte. Die Antillianer blieben in der Nieuwstraat wohnen und feierten ihre Feste fortan im Haus.

    »Können Sie uns zeigen, wo Sie ihn gefunden haben?«, fragte van Arkel.

    »Jetzt noch?«, fragte Westerhof zurück. »Meine Frau wird sich schon wundern, wo ich bleibe.«

    »Sie können sie doch anrufen.«

    »Ich muss mein Pferd füttern. Und ich selbst muss auch was essen.«

    »Wie wär’s, wenn er vorher erst mal nach Hause ginge?«, schlug Vermeer vor. »Er füttert sein Pferd, isst zu Abend und in einer Stunde holen wir ihn ab.«

    »In einer Stunde ist es dunkel«, warf van Arkel ein.

    »Es ist jetzt schon dunkel. Mit der eigentlichen Arbeit können wir sowieso erst morgen früh anfangen.«

    »Gut«, sagte van Arkel. »Dann gehen Sie jetzt erst mal nach Hause und in einer Stunde kommen wir Sie abholen.«

    Westerhof griff nach seiner Mütze, murmelte einen Gruß und machte sich eilends auf den Weg.

    Vermeer zeigte auf den Kopf von Ronnie Calypso. »Und was machen wir mit dem da?«

    »Erst mal fotografieren«, antwortete van Arkel. »Mirjam, bitte sag du rasch Bunschoten Bescheid.«

    »Du könntest ihn wenigstens hier rausbringen«, sagte Seyat. »Dieser Gestank bleibt tagelang hängen.«

    Van Arkel wartete, bis Mirjam den Hörer aufgelegt hatte.

    »Wann kommt er?«

    »In zehn Minuten.«

    »Dieser Gestank!«, sagte Vermeer und öffnete die Tür. »Wie kommt es, dass er jetzt schon riecht? Der Mann kann nicht länger als ein paar Tage tot sein.«

    »Er hat eine Weile unter der Erde gelegen«, gab van Arkel zu bedenken. »Mach die Tür zu, Jaap, es zieht.«

    Vermeer schloss die Tür und fragte: »Wer, was, wie, wo?«

    »Und warum?«, ergänzte Seyat.

    »Gute Frage«, sagte van Arkel. »Ihr stellt immer gute Fragen. Jetzt brauchen wir nur noch die passenden Antworten.«

    Mirjam schaute Vermeer an, der den Sack wieder zuband. »Rache«, sagte sie.

    »Wie kommst du auf Rache?«, fragte Vermeer. »Du kennst ihn doch gar nicht.«

    »Nein, aber wenn ein so gut aussehender Junge derart grausam ermordet und zur Schau gestellt wird ...« Sie zögerte einen Moment.

    »Ist Rache ein logisches Motiv«, fuhr van Arkel fort. »Du sagtest ›zur Schau gestellt‹. Dabei lag er einen halben Meter unter der Erde!«

    »Aber er wurde doch gefunden, oder?«

    »Zufällig.«

    »In der Tat, zufällig. Wie sollen wir vorgehen, Ben?«

    »Wenn Bunschoten fertig ist, essen wir was und danach holen wir Westerhof ab.«

    »Ich habe keinen Hunger«, erklärte Mirjam.

    »Ich schon«, sagte Vermeer. »Und du kommst mit. Wird dir gut tun. Es kann spät werden heute Abend.«

    »Müssen wir das Waldstück nicht absperren?«, fragte Seyat. »Der Rest der Leiche kann zwar irgendwo anders liegen, aber auch direkt daneben.«

    »Haben wir eine Detailkarte vom Haafterveen?«, fragte van Arkel.

    »Im Archiv«, antwortete Vermeer. »Willst du wirklich jetzt sofort dahin?«

    »Ja«, sagte van Arkel. »Haydar kommt mit mir. Du gehst mit Mirjam etwas essen und anschließend holt ihr Meneer Westerhof ab.«

    »Wollt ihr nichts essen?«

    »Wir holen uns schon irgendwo ein Brötchen. Wenn Bunschoten fertig ist, legt ihr Ronnie in den Kühlschrank. Nehmt zehn Mann und einen Krankenwagen mit. Und fordert die Hundestaffel an.«

    »Ben, die ganze Stadt schwärmt aus, wenn wir mit so einem Riesenaufgebot in den Wald einfallen.«

    »Ihr müsst’s ja wissen, ihr seid die Einheimischen«, sagte van Arkel. »Na gut, dann eben kein Krankenwagen. Aber die zehn Mann und ein Hundeführer. Wenn die sich auf zwei Wagen verteilen und sich unauffällig verhalten, merkt kein Mensch was.«

    »Hier bleibt nichts unbemerkt«, erwiderte Vermeer. »Hier braucht man nur an eine andere Frau zu denken und schon steht’s morgen in der Zeitung.« Er zeigte auf den Kopf. »Ob der Mörder den Rest mitgenommen hat? Als eine Art Gummipuppe?«

    »Warum müsst ihr im Angesicht des Todes immer solche ekligen Witze machen?«, fragte Mirjam böse.

    »Gockelgehabe«, meinte van Arkel.

    Es klopfte. Seyat öffnete dem Fotografen die Tür. Bunschoten war ein magerer Mann mit einer beeindruckenden Fototasche. Er blickte mit unergründlichem Gesichtsausdruck Ronnies Kopf an und begann, eine Fotoserie zu schießen.

    Andrea lag im Dunkeln und wartete. Sie kannte jedes Geräusch in dem alten Haus, doch das, worauf sie wartete, blieb aus. Sie hörte nur das Rascheln der Mäuse hinter den Holzlatten und das Knacken der Dachbalken im Spitzboden. Wohl bekannte, vertraute Geräusche.

    Da war es! Die knarzende erste Stufe, gefolgt von der unverkennbaren Art, wie ER die Speichertreppe hinaufstieg.

    Andrea faltete die Hände. Bitte mach, dass er fällt! Mach, dass er hintenüberkippt und sich auf der Treppe den Hals bricht. Du kannst das, lieber Gott! Wenn du willst, kannst du alles! Sie betete lautlos und lauschte zugleich den Schritten des Mannes, der den Eingang zum Speicher betrat. Ich schlafe! Lieber Gott, mach, dass er weggeht! Er darf nicht kommen, du siehst doch, dass ich schlafe!

    »Andrea?«

    Sie blieb mucksmäuschenstill liegen. Sie hatte gelernt, ihre Atmung so zu beherrschen, dass sie natürlich ruhig wirkte: ein schlafendes Kind, das kein Erwachsener wecken würde. Kein Erwachsener, außer ihm. Der Mann legte ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie sanft.

    »Andrea!«

    Der Mann lächelte im Dunkeln. Ihr war kalt, doch sie tat überzeugend so, als erwache sie aus einem tiefen Schlaf. Kleine Andrea.

    »Wir müssen noch beten.«

    »Ja, Onkel.«

    Noch lange nachdem er weggegangen war, blieb sie vor dem Bett hocken. Wenn sie still sitzen blieb, war das Brennen nicht ganz so schlimm, doch sobald sie sich bewegte, flammte der Schmerz auf. Ich will tot sein, dachte sie. Tot, tot, tot! All ihre Gedanken drehten sich um dieses eine Wort.

    Sie stand auf. Jeder Schritt tat entsetzlich weh, doch sie hielt durch und wankte zur Tür. Einen Stock tiefer schnarchte ihr Onkel. Sie blieb an der Treppe stehen und schaute hinunter. Der Mond, der durch das Speicherfenster schien, erleuchtete den Treppenflur. Sechzehn Stufen weiter unten glänzte die Kupferrundung der Kanonenkugel, die ihr Onkel benutzte, um die Tür zur Speichertreppe offen zu halten. Der Geländerknauf, der genau in ihre Hand passte, vermittelte ihr ein merkwürdig vertrautes Gefühl.

    Plötzlich fing sie unkontrollierbar an zu zittern. Die Schmerzen waren unerträglich. Ein paar Sekunden später hörte das Zittern genauso plötzlich wieder auf. Andrea holte tief Luft. Sie ließ das Geländer los und sprang.

    2

    Sechs Halogenlampen beleuchteten die Grube, in der Westerhof den Kopf gefunden hatte. Sie war rundum mit rotweißem Flatterband abgesperrt. Bunschoten hockte neben der Absperrung und erteilte einem Polizisten Anweisungen, der eine Lampe in das Loch richtete. Westerhof stand bei Jan van Dijk, dem Förster des Haafterveen. Van Arkel, Vermeer und Jules Berveas, der Staatsanwalt, sprachen mit einem Hundeführer, der einen Mecheler Schäferhund an der Leine hielt.

    »Meinen Sie, dass es etwas nützt?«, fragte Berveas.

    Der Hundeführer verzog skeptisch das Gesicht. »Für eine erfolgreiche Suchaktion braucht man Regen. Und Helligkeit. Eigentlich ist es schon zu dunkel. Aber wir werden es versuchen. Wenn Ihr Mann hier in der Nähe liegt, findet er ihn. Garantiert.«

    »Gut«, sagte van Arkel. »Worauf warten Sie?«

    »Dass Sie weggehen«, sagte der Beamte. »Sie stehen auf seiner Spur.«

    Vermeer feixte. Van Arkel trat beiseite. Der Hund rannte los, an ihm vorbei. Er trabte einmal im Kreis um die Fundstelle herum und verschwand in der Dunkelheit.

    »Es ist sinnlos«, bemerkte Vermeer. »Er sieht ja gar nichts.«

    »Der Hund braucht nur seinen Geruchssinn«, erwiderte van Arkel.

    »Aber sein Herrchen muss ihm hinterherrennen. Was

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