Keine Nachricht von Kami
Von Magnhild Bruheim
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Buchvorschau
Keine Nachricht von Kami - Magnhild Bruheim
Saga
1
Das Model auf dem Bild starrte sie mit großen, stark geschminkten Augen an, die eine Hand hatte sie leicht auf der Hüfte liegen. Das Mädchen war super dünn. Die Stimmung von Bente Vessel trübte sich gleich noch etwas mehr. Sie beschloss, auf das Abendessen zu verzichten, und blätterte mutlos weiter.
Eine Sekunde nach dem ersten Klingelton hatte sie schon das Handy ergriffen, das neben ihr auf dem Bett lag.
»Hei, jetzt stehen wir draußen vor dem Kino«, sagte Kari-Marie in ihr Ohr.
»Wer ist alles dabei?«, fragte Bente.
»Gunn, Martine, Kristoffer, Benjamin und … Jonna.«
»Was macht ihr gerade?«
»Wir gehen gleich rein. Der Film fängt in zwei Minuten an.«
Ein störendes Klopfen an ihrer Tür unterbrach das Gespräch. Die Mutter steckte ihren Kopf herein: »Das Abendessen ist fertig.«
Eigentlich wollte Bente antworten, dass sie nichts essen würde, aber sie hatte jetzt keine Lust auf Diskussionen. Deshalb setzte sie nur eine ungeduldige Miene auf und zeigte auf das Telefon. Die Mutter sah doch, dass sie gerade mit Wichtigerem beschäftigt war.
»Komm, sobald du fertig bist«, meinte die Mutter, bevor sie die Tür hinter sich schloss.
»Geht ihr danach noch woanders hin?«, fragte Bente ihre Freundin.
»Vielleicht. Schade, dass du nicht dabei bist.«
»Total schade«, seufzte Bente, die über die neuen Familienregeln genervt war. Vor kurzer Zeit hatten die Eltern nämlich die grandiose Idee, dass alle den Mittwochabend gemeinsam verbringen sollten. Das würde den Zusammenhalt stärken, meinten sie, doch das war die dümmste Idee, die Bente seit langem gehört hatte. Es wäre ja in Ordnung, wenn sie diese Regel eingeführt hätten, als sie zehn oder zwölf war, aber nicht jetzt, wo sie bald fünfzehn wurde.
Ein Teil des Mittwochabends sollte damit verbracht werden, zusammen zu essen und zu reden. »Man kann ja noch andere nette Sachen machen«, meinten die Eltern. Sie wollten damit irgendwie zeigen, dass sie sich kümmerten. Bente verbrachte ja gerne ab und zu Zeit mit der Familie, das war nicht der Punkt. Aber wenn sie andere Pläne hatte, so wie heute Abend, machte es sie wütend. Ihre Eltern hatten ihr nicht erlaubt, mit der Clique ins Kino zu gehen, und es war ihnen ganz egal, ob sie den Abend lieber mit den Freunden verbringen wollte. Wenn das so weiterging, dann wurde sie ja immer mehr zur Außenseiterin!
»Du … jetzt gehen wir rein …« Bente hörte an der Stimme von Kami, dass sie lief. »Ich habe übrigens was Spannendes zu erzählen … ich schreibe dir ’ne SMS.« Dann legte sie auf. Bente war sich selbst und einem langweiligen Abend überlassen.
Ihr Bruder Sven war der Nächste, der störte. »Essen ist fertig.«
»Ich will nichts essen«, antwortete Bente, obwohl sie keine große Hoffnung hatte, dass es etwas nützen würde, nein zu sagen.
»Du musst aber«, sagte der Zwölfjährige überlegen. »Es ist Mittwochabend.«
»Ich komme gleich«, sagte Bente, um ihn loszuwerden.
J.A. will wieder mit dir zusammen sein, lautete die SMS auf ihrem Handy. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Mit Jon-Arne wieder zusammen zu sein kam nicht infrage. Das war für immer zu Ende. Vor allem nach dem, was vor ein paar Wochen passiert war. Aber im Grunde war es okay, dass er noch wollte.
Und weiter?, schrieb sie zurück, in der Hoffnung, ausführliche Informationen zu bekommen.
Es kam keine Antwort. Wahrscheinlich, weil der Film angefangen hatte. Der Film, den sie nicht sehen durfte. Lustlos griff sie wieder nach der Zeitschrift, in der sie gerade gelesen hatte.
Aber die Mutter gab nicht auf: »Bist du sauer, oder was ist los?«, fragte sie und kam wieder ins Zimmer.
»Ich habe keinen Hunger.«
»Das geht so nicht. Komm jetzt.« Die Mutter war manchmal unerträglich bestimmend.
Bente sagte nichts, dachte sich aber ihren Teil: Sie würde auf keinen Fall etwas essen. Niemand konnte sie zwingen.
Sven saß mit seinem breitesten Grinsen am Tisch. Für ihn war es ja auch in Ordnung, er verpasste nichts.
»Was ist los mit dir?«, fragte der Vater gutmütig. »Geht’s dir nicht gut?«
»Sie wollte heute Abend ins Kino gehen«, antwortete die Mutter, bevor Bente ihre Version anbringen konnte.
»Wenn die Regeln so engstirnig befolgt werden müssen, bewirken sie genau das Gegenteil«, sagte Bente. »Ab und zu gibt es wichtigere Dinge.«
»Wie ins Kino zu gehen?«, fragte der Vater und versuchte so gut er konnte, witzig zu sein.
»Das ist ein verdammt guter Film.«
»In diesem Haus wird nicht geflucht«, warf die Mutter rasch ein.
»Man darf doch wohl noch seine Meinung sagen«, antwortete Bente wütend.
»Den Film kannst du doch auch an einem anderen Abend sehen«, wandte der Vater ein.
»Aber alle anderen sind heute Abend da«, beharrte Bente. Dass sie das nicht begreifen wollten!
Die Mutter öffnete die Tür vom Backofen, und der Geruch von überbackenen Broten wehte zu ihnen. Bente merkte, dass sie trotzdem ein bisschen hungrig war. Ein paar Extrakalorien waren bestimmt nicht so schlimm. Dann ließ sie lieber das Schulbrot am nächsten Tag weg. Ehe sie sich versah, hatte sie die beiden Brote gegessen, die ihr zugedacht waren.
»Gibt es etwas, was dich zurzeit bedrückt?«, fragte der Vater, nachdem sie fertig gegessen hatten.
Zeit für die Gesprächsrunde, dachte Bente. »Nur, dass ich nicht über mich selbst bestimmen darf«, sagte sie, stand auf und ging in ihr Zimmer.
Kari-Marie rief um Viertel nach elf an. Da saß sie im Bus und war auf dem Nachhauseweg.
»Cooler Film«, sagte sie. »Richtig unheimlich … ein Mädchen wurde gefangen gehalten …«
»Aha«, sagte Bente. Sie war nicht so sehr am Film interessiert.
»Was habt ihr danach gemacht?«
»Nichts Besonderes. Wir waren beim Kiosk und haben ein paar Süßigkeiten gekauft und die Video-Regale durchgesehen. Dann sind wir zur Haltestelle gegangen und haben auf den Bus gewartet.«
»Was du da von Jonna gesagt hast …?«
»Er hat nach dir gefragt. Ich hab mich erkundigt, ob er immer noch an dir interessiert ist, und er hat ja gesagt.«
»Aber ich bin nicht mehr an ihm interessiert.«
»Ist mir schon klar. Aber ich weiß nicht, wie ernst du es meinst.«
»Sehr ernst.«
»Stian war auch da.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Bente, während ihr Herz schneller schlug. Sie versuchte, nicht zu interessiert zu scheinen. Kami könnte misstrauisch werden.
»Er geht mir irgendwie aus dem Weg. Ich weiß nicht … ist mir aber auch egal.« Kami war ein paar Sekunden lang still. Dann sagte sie im Flüsterton: »Jetzt habe ich mehr Interesse an einem coolen Typen hier im Bus.«
»Kennst du ihn?«
»Nein, hab ihn noch nie gesehen. Dunkle, kurze Haare. Gut aussehender Typ. Etwas älter als wir. Ich hab gemerkt, dass er mich mehrmals angesehen hat.«
»Geh zu ihm und red mit ihm.«
»Bist du bescheuert?«
»Aber was du gesagt hast … Heißt das, dass mit Stian Schluss ist?«
»Time will show«, antwortete Kami abweisend. Ihre Stimme war ein paar Sekunden lang nicht zu hören. »Aber du …«
Bentes Herz machte einen kleinen Sprung, sie fürchtete sich vor dem, was kommen würde. Vielleicht wusste es Kami doch?
»Der Akku ist bald leer«, sagte Kami. »Jetzt sieht er übrigens zu mir her … der Typ. Ich rufe dich an, wenn ich aussteige. Hoffentlich reicht der Akku.«
»Okay«, sagte Bente und legte auf. Sie war erleichtert.
Sie telefonierten oft, wenn eine von ihnen allein im Dunkeln unterwegs war. Das nahm etwas die Angst und verscheuchte vielleicht eventuelle Vergewaltiger. Um von der Bushaltestelle nach Hause zu kommen, musste Kari-Marie durch eine Gegend, in der keine Häuser standen.
Zehn Minuten später ließ sich der melodische Klingelton wieder vernehmen.
»Hei«, sagte Kami außer Atem. »Jetzt bin ich auf dem Heimweg. Der Typ ist auch ausgestiegen. Er geht genau vor mir. Militärjacke und Boots. Ein erwachsener Mann ist auch ausgestiegen, aber den sehe ich jetzt gerade nicht. Vielleicht ist er hinter mir. Personenbeschreibung: Langer, dunkler Mantel. Kurze Haare. In den 30ern, vielleicht.« Durch das schnelle Gehen war ihre Stimme abgehackt. »Und was hast du heute Abend gemacht?«
»Das gewöhnliche Mittwochsprogramm«, seufzte Bente. »Lauter langweilige Sachen. Überbackene Brote … die waren übrigens gut.«
»Ich wünschte mir, Liv würde zwischendurch mal was Gutes machen.«
»Deine Mutter ist doch okay.«
»Aber sie hat nie Zeit, es mal gemütlich zu machen.« Kami war außer Atem, als ob sie schneller ginge. »Und sonst? Hast du mit Ingrid gesprochen?«
»War sie nicht mit im Kino?«
»Hast du vergessen, dass sie zum vierzigsten Geburtstag von ihrer Tante musste? Sie hat sich sicher zu Tode gelangweilt.«
»Hab ich nicht dran gedacht«, sagte Bente. Das stimmte nicht: Sie hatte schon an Ingrid gedacht. Das Problem war nur, dass sie zurzeit nicht gerade gut auf sie zu sprechen war. Das hatte sie Kami nicht erzählt.
Aber jetzt wurde die Verbindung durch ein seltsames Rauschen gestört. Danach hörte sie schwach die Stimme von Kami: »Hei. Ich spreche gerade mit einer Freundin.« Eine Männerstimme sagte etwas, was Bente nicht verstand. Kami antwortete: »Was?« Und danach: »Wart mal.«
Plötzlich hörte Bente ein dumpfes Geräusch, als ob das Handy auf den Boden gefallen wäre. Die Verbindung war unterbrochen.
»Hallo?«, sagte Bente, bekam aber keine Antwort. Dann ist wohl der Akku leer, dachte sie. Trotzdem rief sie noch mal an, erhielt aber nur die Ansage, dass der gewünschte Gesprächspartner zurzeit nicht erreichbar sei. Kami wird anrufen, sobald sie zu Hause ist, dachte Bente und blätterte in der Zeitschrift, während sie wartete.
Nach zwanzig Minuten versuchte sie wieder, die Freundin zu erreichen.
Niemand ging ran. Hatte sie sich einfach hingelegt, ohne anzurufen? Das sah Kami gar nicht ähnlich. Bente wartete weitere zwanzig Minuten ab, bevor sie es wieder versuchte. Doch diejenige, die sich dann meldete, war Kamis Mutter, Liv Eiker. »Ich bin gerade erst zur Tür reingekommen«, sagte sie. »Ich denke, Kari-Marie ist in ihrem Zimmer. Es ist ja fast zwölf Uhr. Sie schläft sicher schon.«
»Kannst du bitte nachsehen?«, bat Bente.
»Natürlich«, sagte Liv unsicher.
Bente sagte nichts weiter, und Liv legte auf. Ein paar Minuten später rief sie wieder zurück: »Nein, sie ist nicht da. Und ich sehe auch ihre Jacke nicht. Normalerweise ist sie sonst nicht mehr so spät unterwegs, jedenfalls nicht an einem Mittwochabend.« Sorge lag in ihrer Stimme. »Sie muss ja morgen wieder in die Schule.«
»Ich habe vor ungefähr einer Stunde mit ihr gesprochen«, sagte Bente, während sich etwas in ihr zusammenschnürte. »Da war sie aus dem Bus gestiegen. Sie müsste längst zu Hause sein.«
»Was sagst du da?«, fragte Liv mit zitternder Stimme.
Bente versuchte, die passenden Worte zu finden, um zu erklären, was sie wusste.
2
Der ganze Schulhof war wie ein summender Bienenstock. Die Schüler schwirrten außerhalb des niedrigen, grauen Steingebäudes hin und her. Alle redeten nur über eine Sache: Kari-Marie Eiker war verschwunden!
Bente bekam kaum etwas davon mit, was um sie herum geschah. Alles war unwirklich. Ein Gedanke schoss ihr die ganze Zeit durch den Kopf: Was war mit Kami geschehen? Bilder tauchten auf, die sie nicht sehen wollte. Kami im Schnee. Kami mit einem unbekannten Mann über sich. Es war wie ein böser Traum. Und sie selbst hatte zu spät reagiert.
Die Mitschüler umringten sie. Nachdem sie ein paar Mal das letzte Gespräch mit Kami wiedergegeben hatte, konnte sie nicht mehr. Sie zog sich in das Büro der Rektorin zurück. Dort wollte die Polizei noch einmal mit ihr sprechen. Im Büro saßen auch alle, die am Abend zuvor mit ins Kino gegangen waren. Sie hatten wenig Neues hinzuzufügen. Die Berichte waren alle gleich und endeten an der Bushaltestelle ungefähr um halb elf.
Die Polizei hatte um halb eins in derselben Nacht bei Bente angerufen und ihre ganze