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Machtspieler: Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution
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Machtspieler: Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution
eBook342 Seiten4 Stunden

Machtspieler: Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution

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Über dieses E-Book

Über den Fußball zu globaler Reichweite: Vereinsinvestoren aus China, Russland und den Golfstaaten sichern ihren Regierungen wirtschaftlichen Einfl uss in Europa. Ob einst in Jugoslawien, später in der Ukraine und in der arabischen Welt: Ultras kämpfen in Revolutionen an vorderster Front – und ziehen sogar in den Krieg.
Der Journalist Ronny Blaschke hat auf vier Kontinenten recherchiert, durch das Vergrößerungsglas Fußball blickt er auf Gesellschaft, Kultur und Religion. Das beliebteste Spiel zwischen Propaganda und Protest.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum10. März 2020
ISBN9783730705070
Machtspieler: Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution
Autor

Ronny Blaschke

Ronny Blaschke, Jahrgang 1981, beschäftigt sich als Journalist und Autor mit politischen Themen im Sport, u. a. für Deutschlandfunk, SZ und Deutsche Welle. Die Recherchen für seine Bücher lässt er in politische Bildung einfließen, in Vorträge, Moderationen und Konferenzen. Zudem entwickelt er unterschiedliche Informationsreihen. Blaschke wurde für seine Arbeit mehrfach ausgezeichnet.

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    Buchvorschau

    Machtspieler - Ronny Blaschke

    Quellen

    Aufbruch der Autokraten

    Einleitung

    Die Zukunft des Fußballs trägt den Namen Lusail. Am nördlichen Rand der katarischen Hauptstadt Doha soll das WM-Finale 2022 stattfinden, vor mehr als 80.000 Zuschauern im Lusail Iconic Stadium. Wassergräben und Säulen, Solaranlagen und Fassaden, die an traditionelle arabische Boote erinnern: das Stadion wird die Attraktion eines neuen Stadtviertels. Nach der WM wird die Arena verkleinert, sie macht dann Platz für Geschäfte, Schulen und eine Klinik. Katar arbeitet für den Bau mit chinesischen Unternehmen zusammen. Ein Meilenstein für Diplomatie und Handel zwischen beiden Ländern.

    Vor zwanzig Jahren stellten die westlichen Industriestaaten 44 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung, inzwischen sind es nur noch 30. Im selben Zeitraum erhöhte sich der Anteil der sogenannten BRICS-Staaten von 18 auf 30 Prozent. Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika verdeutlichen, wie sich Wirtschaftsmacht und in der Folge politische Netzwerke von Norden nach Süden verschieben, aber mehr noch: von Westen nach Osten.

    Seit bald anderthalb Jahrhunderten beansprucht Europa die Deutungshoheit über den Fußball. Wirklich angemessen war das nur in den ersten Jahrzehnten, doch spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts breitete sich das Spiel auf fast allen Kontinenten aus. Fußball prägte die Alltagskultur in Argentinien, Ägypten oder Iran – und wurde damit auch interessant für die politischen Machthaber.

    Die Fans der deutschen Vereine haben sich lange nicht für Entwicklungen außerhalb ihrer Bundesliga interessiert, das änderte sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Immer mehr große Wettbewerbe wurden nicht mehr nach Westeuropa und Nordamerika vergeben, sondern nach Südafrika, Brasilien oder Russland. Wahrscheinlich wird in den 2030er Jahren die erste WM in China stattfinden. Überdies sicherten sich Investoren aus Russland, China und den Golfstaaten Anteile an europäischen Vereinen – und erweiterten den politischen Einfluss ihrer Regierungen.

    Sportfunktionäre erklären gerne, dass die globale Aufmerksamkeit des Sports Gesellschaften öffnen könne. Mehrere Studien halten dagegen. So wurden in den vergangenen dreißig Jahren mehr als zwei Millionen Menschen für die Organisation von Olympischen Spielen vertrieben. In fast allen Austragungsorten von Weltmeisterschaften und Olympia sind Strukturen entstanden: Flughäfen und Straßen, Wohnviertel und Nahverkehr. Doch in den meisten Regionen profitiert eine Minderheit: Politiker, Funktionäre, Baukonzerne. Das Land, das darunter besonders leidet: Brasilien. Vor der WM 2014 wurde der Sicherheitsapparat hochgefahren, vor allem in den Favelas stieg die Polizeigewalt. Viele der Stadien und der Sportstätten für die Sommerspiele 2016 in Rio werden kaum noch angemessen genutzt. Zugleich leiden Bildung und Gesundheitswesen unter Finanzknappheit.

    Menschen nehmen immer Schaden

    Sportereignisse und Menschenrechte: Man denkt bei diesem Themenfeld an geldgierige Autokraten, an Zwangsarbeiter auf Baustellen, an soziale Gruppen, die auseinanderdriften. Doch auch jenseits der Gastgeberländer von Großereignissen hängt in der Milliardenindustrie Fußball alles mit allem zusammen. Unser wohltemperierter Stadionbesuch in Westeuropa ist mit der Ausbeutung asiatischer Trikotnäherinnen verknüpft. Fans empören sich, wenn der DFB eine Serie von Freundschaftsspielen mit einer chinesischen Jugendauswahl verabredet. Aber es fällt ihnen weniger auf, dass Sponsoren und Vermarkter ihrer Lieblingsklubs längst mit chinesischen, russischen oder arabischen Konzernen verflochten sind. Fans forderten einen Boykott der WM in Russland, aber viele gehörten dann doch wieder zum TV-Millionenpublikum. Laut Schätzungen sollen ARD und ZDF 150 Millionen Euro für die Übertragungsrechte gezahlt haben. Wie kritisch man als Fußballkonsument auch sein mag – man ist Teil eines Systems, in dem Menschen Schaden nehmen.

    Dieses Buch konzentriert sich auf den Fußball als politisches und ökonomisches Machtinstrument im 21. Jahrhundert. Es ist eine Art Fortsetzung von „Gesellschaftsspielchen, erschienen 2016, das den „Fußball zwischen Hilfsbereitschaft und Heuchelei in Deutschland beleuchtete. „Machtspieler" nimmt die Schaltzentralen der Zukunft ins Visier, insbesondere China, Russland und die Staaten am Persischen Golf. Es sind jene Länder, die den politischen Einfluss durch Fußball wohl am besten organisieren.

    Doch dieser Entwicklungsstufe in Eurasien ging ein Jahrhundert voraus, in dem Fußball mit Politik, Wirtschaft und Religion immer mehr verwachsen ist. Dieses Buch stellt das Spektrum der Interessen, Abhängigkeiten und Zwänge vor. Einige Beispiele: In instabilen Zeiten streben Regionen nach Autonomie, besonders in Spanien, wo Katalanen und Basken ihre Stadien als Kulisse für Separatismus nutzen. Auf dem Balkan begleitet der Fußball die ethnische und konfessionelle Identitätssuche, für viele Fans in Serbien und Kroatien gehört Nationalismus zur Folklore. In Argentinien entfaltet sich wohl die lebendigste Zivilgesellschaft – allerdings spielt der Fußball beim Gedenken an die Militärdiktatur, in der auch die WM 1978 stattfand, kaum eine Rolle.

    „Fußball in Propaganda, Krieg und Revolution." Der Untertitel verknüpft große, schwere Begriffe, die auch im Fußball oft im falschen Kontext verwendet werden. Nicht in diesem Fall: Das Buch zeichnet nach, wie Fans und Spieler sich gegen Autokraten auflehnten. Beim Arabischen Frühling in Ägypten 2011, bei den Gezi-Protesten 2013 in Istanbul oder beim Euromaidan 2014 in Kiew waren es rivalisierende Ultras, die sich im Straßenkampf gegen selbstherrliche Regime verbündeten. Viele starben oder werden nun von Geheimdiensten überwacht. Die Motivationen und Strukturen der jeweiligen Protestbewegungen werden getrennt voneinander beschrieben, auf Vergleiche zwischen völlig unterschiedlichen Gesellschaften und Epochen soll verzichtet werden.

    Fußballer, die ihre Laufbahn für politische Kritik aufs Spiel setzen, sind selten. Wenn sie keine Regimekritiker sein wollen oder es aufgrund von Verträgen nicht sein dürfen – müssen sie dann der Propaganda dienen? Sie könnten schweigen, aber manche lassen eine Autokratie auch alltäglich erscheinen: Julian Draxler schrieb nach dem gewonnenen Confederations Cup 2017 einen offenen Dankesbrief an die russische Bevölkerung, er ließ deren Sorgen nicht mal zwischen den Zeilen durchscheinen. Lukas Podolski trat in einem Tourismusvideo für die Türkei auf. Mesut Özil lud Präsident Erdoğan zu seiner Hochzeit ein. Ronaldinho posierte mit dem tschetschenischen Autokraten Ramsan Kadyrow und half dem Rechtsextremen Jair Bolsonaro ins Präsidentenamt von Brasilien. Diese Spieler taten das aus einer privilegierten Position heraus. Etliche ihrer Kollegen in Syrien, Libyen oder im Irak hatten keine Wahl. Sie mussten den Herrschern ihre Aufwartung machen, sonst drohte der Rauswurf, manchmal sogar Folter und Gefängnis.

    Nicht nur die deutsche Brille

    Dieses Buch basiert auf Recherchen in 15 Ländern auf vier Kontinenten, in Europa, Asien, Afrika und Lateinamerika, mit insgesamt 180 Interviews in den Jahren 2017 bis 2019. Ein WM-Sommer in Russland oder ein zweiwöchiger Aufenthalt in Argentinien reichen jedoch nicht, um für dortige Entwicklungen Experte zu sein. Die Berichte und Analysen stützen sich auf Forscher, Fans, Journalisten oder Spieler, die über Jahre in den betreffenden Ländern und Regionen tätig waren. „Machtspieler" ist kein Reisebericht. Anekdoten, die den Autor im rostigen Taxi, auf staubigen Bolzplätzen, in verrauchten Ultrakneipen oder Luxusbüros katarischer Funktionäre beschreiben, sollen hier keinen Platz haben. Stattdessen: eine nüchterne, faktenorientierte Herleitung der Ursachen und Hintergründe. Informationen zur Meinungsbildung. Keine Kultur, so fremd sie uns auch erscheinen mag, soll als exotisch dargestellt werden.

    Die Berichterstattung über den Fußball in China oder Katar konzentriert sich meist auf die Verletzung der Menschenrechte. Es ist auch für dieses Buch ein zentrales Thema, aber es kann nicht das einzige sein. Ob Kosovo, Ruanda oder Iran: überall zählen die Nationalteams zu den seltenen Symbolen, mit denen sich konkurrierende Volksgruppen gleichermaßen identifizieren. Ob Türkei, Bosnien oder China: überall unterstützen Ultras ihre Klubs mit farbenfrohen Choreografien und landestypischen Gesängen. Ob Kroatien, Russland oder Afghanistan: überall heben sich Aktivisten mit kreativen Projekten von korrupten Eliten ab. Die historischen, politischen und religiösen Umstände sind komplex. Dieses Buch soll nicht durch die deutsche Brille auf andere Staaten blicken. Es ist ein Versuch, sich in andere Perspektiven hineinzuversetzen. Ein Beitrag zur Überwindung von Klischees, Entfremdung und Ängsten.

    Durch Globalisierung und Digitalisierung rücken Politik, Wirtschaft und Kultur weiter zusammen, daran werden auch nationalistische Regierungen in den USA, Brasilien oder Osteuropa wenig ändern. Der Fußball ist ein Vergrößerungsglas auf diese Entwicklung: mit WM-Gastgebern, Sponsoren und Entscheidern, die nicht aus Europa stammen, aber in Europa bestens vernetzt sind. Es reicht aber nicht mehr aus, sich über Trainingslager des FC Bayern in Katar zu empören. Solche Verbindungen werden zunehmen, zumal die Bundesliga zur Premier League aufschließen möchte und es auch in der arabischen Welt Dutzende gut organisierte Fanklubs des FC Bayern gibt.

    Die Bundesregierung und Zehntausende deutsche Unternehmen kooperieren mit autoritären Regierungen, die im Fußball nach Dominanz streben. Viele von ihnen zeigen: Zwischen Boykottaufrufen und der Verharmlosung von Despoten, also zwischen Schwarz und Weiß, liegen viele Graustufen. Es bleibt unrealistisch, den FC Bayern von Katar abzuhalten, zu lukrativ sind die Reisen für den Klub, dessen Anteilseigner und den Gastgeber. Aber der FC Bayern kann noch mehr für freiheitliche Werte eintreten, auch im Hintergrund. Ein Schwerpunkt dieses Buches fokussiert den Nahen und Mittleren Osten, jene Region, in der Katar ein mächtiger Fleck auf einer großen, komplizierten Karte ist. Die WM gibt uns den Anstoß, differenzierter auf die arabische Welt zu schauen.

    In den vergangenen Jahren sind Organisationen, Stiftungen und Netzwerke entstanden, die im Fußball Diplomatie und Soft Power methodisch begleiten. Das Wissen ist vorhanden, sollte aber in den Führungsgremien der Verbände und Klubs effektiver genutzt werden. Und auch Bundesministerien sollten ihren Einfluss geltend machen.

    Der DFB will mit der EM 2024 in Deutschland einen anderen Weg gehen. Die Zeit bis zum Turnier soll von Kampagnen begleitet werden: zum europäischen Gedanken, zu Vielfalt oder Gesundheitsförderung. Kann das dazu führen, dass die Skepsis hierzulande gegenüber Sportgroßereignissen wieder sinkt? Spannend ist auch die Frage, ob sich weitere Regierungen unter die Machtspieler im Fußball mischen, Aserbaidschan, Kasachstan oder Indien. Wie können Zivilgesellschaften in autoritär regierten Staaten gestärkt werden, ohne sich mit Überlegenheitsdenken in den Vordergrund zu stellen? Dieses Buch soll einen Beitrag zur Debatte leisten. Das Lusail Iconic Stadium in Doha ist in dieser Entwicklung nur eine Zwischenstation.

    Scharfschützen hinter der Tribüne

    Im Vielvölkerstaat Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber in den Fankurven brach er heraus. Hooligans aus Serbien und Kroatien zogen als Freiwillige in den Krieg, im bosnischen Sarajevo lag das Stadion direkt an der Front. Heute verharmlosen viele Fans die Verbrechen. Ob Gesänge, Choreografien oder eine Drohne über dem Rasen: Der Fußball begleitet die ethnische und konfessionelle Identitätssuche. Und manchmal hilft er wie im Kosovo beim Aufbau einer neuen Nation. Erkundungen auf dem Balkan.

    Auf dem Panzer ist nicht viel Platz zum Posieren, die Schlange wird länger und länger. Kinder warten aufgeregt, Väter halten ihre Handykameras bereit. Der Panzer wirkt frisch geputzt, die Vorderseite ist mit Streifen in Rot und Weiß bemalt, dazwischen das Logo von Roter Stern Belgrad, dem bekanntesten Klub Serbiens. Hinter dem Panzer dehnt sich Belgrad bis zum Horizont, aus dem Häusermeer ragt der fast achtzig Meter hohe Dom des Heiligen Sava hervor. Kinder klettern auf den Panzer, sie lachen, hüpfen und schwenken rote Schals. Einige Väter achten darauf, dass auf den Fotos auch die serbisch-orthodoxe Kirche zu sehen ist. Dann ziehen sie weiter zum Fanshop oder zur Imbissbude, viel Zeit bis zum Anpfiff bleibt nicht mehr.

    Im westlichen Nachbarland Kroatien wird der Panzer mit weniger Gelassenheit betrachtet. Der stillgelegte T55 soll Anfang der 1990er Jahre in Vukovar im Einsatz gewesen sein. Die Stadt im Osten Kroatiens war ein Hauptschauplatz während der Jugoslawien-Kriege zwischen Serben und Kroaten. Vukovar wurde von serbischen Einheiten weitgehend zerstört, Hunderte Menschen fielen Hinrichtungen zum Opfer. Roter Stern Belgrad bezeichnet den Panzer dennoch als „Attraktion. Fotos des Vereins wurden auf sozialen Medien tausendfach verbreitet. Der Panzer soll einige Jahre neben dem Stadion stehen bleiben, Stadtverwaltung und Fußballverbände sehen darin kein Problem, „solange nicht geschossen wird.

    In der kroatischen Hauptstadt wollten sich Fans von Dinamo Zagreb das nicht gefallen lassen. Im August 2019 postierten sie neben ihrem Stadion „Maksimir" für kurze Zeit einen gusseisernen Traktor. Auch das ein Symbol: Während des Krieges waren viele Serben aus kroatischen Dörfern auch auf Traktoren über die Grenze geflohen. Familien, Freundeskreise und ganze Gemeinden zerbrachen.

    Der westliche Balkan hatte sich über Jahrhunderte zu einem Flickenteppich der Ethnien, Konfessionen und Traditionen herausgebildet. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt das sozialistische Jugoslawien als vielfältigster Staat Europas, mit sechs Teilrepubliken und vier Religionen, mit vier Sprachen und zwei Alphabeten. Doch Wirtschaftskrisen, Spannungen und Nationalismus führten ab den 1980er Jahren zu einer wachsenden Sehnsucht nach ethnisch reinen Einzelstaaten. In den Zerfallskriegen kamen in den 1990er Jahren rund 140.000 Menschen ums Leben, mehr als vier Millionen flohen oder wurden vertrieben.

    Aus der Erbmasse Jugoslawiens gingen sieben Staaten hervor: Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien und Kosovo. Noch immer gibt es Konflikte um Gebiete, Ideologien und Nationalbewusstsein, auch um Religionen und historische Deutungen. die Bevölkerungen stehen sich in einem komplexen Verhältnis gegenüber: die Serben, überwiegend christlich orthodox. Die Kroaten, mehrheitlich katholisch. Die muslimischen Bosniaken. Und die ethnischen Albaner im Kosovo. Der Fußball verdeutlicht die Identitätssuche besonders. Durch Provokationen zwischen Fans und Spielern, durch feindselige Banner und Graffitis im Stadion, sogar durch Ausschreitungen und die Verherrlichung von Verbrechen. Fußball als Teil des Krieges – auf dem Balkan ist das keine Übertreibung.

    Wer durch die serbische Hauptstadt Belgrad läuft, stößt schnell auf Markierungen von Fußballfans. Graffitis und Aufkleber an Häuserwänden, Brücken, Straßenschildern. Entweder in Schwarz und Weiß von den Anhängern des Vereins Partizan. Oder in Rot und Weiß, den Fans von Crvena Zvezda, Roter Stern. Es sind martialische Motive, die vermummte und kampfbereite Männer zeigen. Auch Jahreszahlen, die an Kluberfolge und historische Ereignisse der serbischen Geschichte erinnern, viele liegen Jahrhunderte zurück, andere erst drei Jahrzehnte. In der Nähe des Stadions von Roter Stern ist eine Gedenktafel den Opfern der Jugoslawienkriege gewidmet, daneben ein orthodoxes Kreuz und das Vereinslogo.

    Es war vor allem der Politiker Slobodan Milošević, der Ende der 1980er Jahre den serbischen Nationalismus schürte und den Zerfall Jugoslawiens mit seiner Kriegsrhetorik vorantrieb. Damals lebte mehr als ein Viertel der acht Millionen ethnischen Serben außerhalb der eigenen Teilrepublik: 1,4 Millionen in Bosnien und Herzegowina, 580.000 in Kroatien, 200.000 im Kosovo. Milošević und seine Gefolgschaft wünschten sich eine Vereinigung aller Serben in einem Staat. Sie schimpften über Wirtschaftsprobleme und betonten die Gegensätze der Ethnien. Bei vielen Serben kam das gut an. Ihre Einkommen waren nur noch halb so viel wert wie 1980. Die Arbeitslosigkeit wuchs, die Schulden im Ausland stiegen, der Warenaustausch zwischen den Teilrepubliken ging zurück. Im Frühjahr 1990 bewerteten neun von zehn Jugoslawen das Verhältnis der Bevölkerungsgruppen als schlecht oder sehr schlecht.

    Hooligans morden und vergewaltigen

    In jener Zeit entwickelten sich die Fanszenen im Fußball zu einer einflussreichen Subkultur, insbesondere in Belgrad. „Im sozialistischen Jugoslawien war Nationalismus offiziell verboten, aber im Stadion brach er heraus", sagt Krsto Lazarević, der als Korrespondent in Belgrad gearbeitet hat und an einem Podcast über den Balkan mitwirkt. Ab den 1980er Jahren versammelten sich auf den Tribünen von Roter Stern Mitglieder der Mafia, gewaltbereite Männer, die in Raubüberfälle, Schutzgelderpressungen und Morde verwickelt waren. Mit dabei: der mehrfach vorbestrafte Željko Ražnatović, genannt Arkan. Mit seiner Firma durfte Ražnatović Fanartikel von Roter Stern vertreiben, zudem übernahm er die Führung der Delije, der wichtigsten Fanvereinigung.

    Der Publizist Krsto Lazarević analysiert in einem Bericht für die Friedrich-Ebert-Stiftung die politischen Verbindungen der serbischen Fanszene. So brachte Željko Ražnatović die nationalistischen Anhänger in Absprache mit dem Geheimdienst auf die Linie von Milošević. Überdies gründete er im Oktober 1990 die Serbische Freiwilligengarde, eine paramilitärische Truppe, der sich Hunderte Hooligans anschlossen. Ihr Beiname: „Arkans Tiger. Für den Traum eines großserbischen Reiches zog Ražnatović in den Krieg, zunächst gegen kroatische, dann gegen bosnische Einheiten. Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen: Ražnatović und seine Kämpfer begingen Kriegsverbrechen. „Er hat Patienten aus einem Krankenhaus in Vukovar entführt und umbringen lassen, berichtet Krsto Lazarević.

    Roter Stern wurde zu einem Symbol des Serbentums. Als der Klub 1991 im italienischen Bari den Europapokal der Landesmeister gewann, schwenkten seine Fans kaum noch jugoslawische Fahnen. Auf dem Siegerfoto zeigten acht Spieler den serbischen Gruß, zwei gestreckte Finger und ein Daumen. Bei Heimspielen in den folgenden Monaten feierten Anhänger von Roter Stern auch den Krieg, einige Söldner präsentierten auf der Tribüne Straßenschilder aus dem zerstörten Vukovar.

    Das Abkommen von Dayton im US-Bundesstaat Ohio ließ die Kriegshandlungen 1995 zwischen Serbien, Kroatien und Bosnien zur Ruhe kommen. Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien mit Sitz in Den Haag sollte bald 161 Personen wegen schwerer Verbrechen anklagen, die Rede war aber auch von 15.000 bis 20.000 Unterstützern in Polizei, Militär oder Verwaltung.

    Viele Täter konnten sich einer Strafverfolgung entziehen. Željko Ražnatović stieg zu einer Heldenfigur auf. Seine Heirat mit der Sängerin Svetlana Veličković, genannt Ceca, wurde 1995 im serbischen Fernsehen übertragen. Ein Jahr später kaufte Ražnatović den Belgrader Verein FK Obilić, benannt nach einem serbischen Ritter aus dem 14. Jahrhundert. Auch mit kriminellen Geschäften führte Ražnatović den Klub 1998 zur Meisterschaft im schon stark geschrumpften Jugoslawien. Wegen eines internationalen Haftbefehls mied er Auswärtsspiele in europäischen Wettbewerben. Im Jahr 2000 wurde Ražnatović in einer Belgrader Hotellobby erschossen. War er Politikern mit seinem Wissen zu mächtig geworden? Die genauen Hintergründe sind bis heute unklar.

    Laut dem Publizisten Krsto Lazarević gehört die Verharmlosung von Kriegsverbrechen zur serbischen Fankultur. Ein Beispiel liefert der ehemalige General Ratko Mladić, der für Vertreibungen von Nicht-Serben aus Bosnien-Herzegowina verantwortlich war und für das Massaker von Srebrenica im Juli 1995, bei dem 8.200 bosnische Männer und Jugendliche ermordet wurden. Mladić wurde erst 2011 festgenommen und 2017 wegen Völkermordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Viele Serben sehen in Mladić jedoch einen Verteidiger ihrer Kultur. Nach seiner Verurteilung riefen Ultras von Roter Stern Belgrad seinen Namen. Fans des Rivalen Partizan bedankten sich bei der Mutter von Mladić und präsentierten Bilder jener Blumen, die während der Urteilsverkündung auf seinem Schoß gelegen hatten. Spieler des Klubs FK Kabel aus dem nordserbischen Novi Sad trugen weiße T-Shirts mit dem Konterfei von Mladić.

    Über Jahrhunderte stand der westliche Balkan unter dem Einfluss von Großmächten: Österreich-Ungarn im Norden, das Osmanische Reich im Süden und das russische Zarenreich im Osten. Im Museum von Roter Stern Belgrad fallen neben Pokalen, Medaillen und Triumphbildern die religiösen Motive ins Auge. Gemälde, Figuren und Wappen der Serbisch-Orthodoxen Kirche in kyrillischer Schrift. Nach der Unterdrückung der Konfessionen im sozialistischen Jugoslawien erlebte die Orthodoxie in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten einen Aufbruch. Es sei nicht die einzige Entwicklung, die das Land mit Russland verbinde, sagt der frühere Belgrad-Korrespondent Krsto Lazarević: „Eine Verbundenheit mit Moskau ist ein wichtiges Merkmal des serbischen Nationalismus."

    Im Stadion von Roter Stern ist der blaue Sponsorenschriftzug von Gazprom allgegenwärtig. Vor dem Heimspiel gegen Zenit Sankt Petersburg 2011 traten Folkloregruppen in serbischen und russischen Trachten auf, Ehrengast Wladimir Putin wurde bejubelt. Für den Krieg um den östlichen Teil der Ukraine meldeten sich ab 2014 auch Freiwillige aus Serbien. Während ihrer Meisterfeier 2014 zeigten Fans von Roter Stern eine Fahne der selbsternannten „Volksrepublik Donezk, die ostukrainische Stadt war von prorussischen Separatisten besetzt worden. Bei einem anderen Spiel präsentierten sie ein Banner auf Russisch: „Älterer Bruder, sag mir, ob ich mir das nur einbilde oder ob unsere Mutter endlich erwacht. Heil Russland, Ukraine und Serbien.

    Staatspräsident aus der Fankurve

    Filip Vulović hat für diese Art von Fußball nichts übrig, trotzdem muss er sich damit beschäftigen. Der Student gehört zu den Organisatoren von „Belgrade Pride, einer Veranstaltungsreihe der LGBT-Gemeinde mit Workshops, Konzerten und einem Straßenumzug, die jährlich im September stattfindet. An einem Sonntagvormittag führt er durch das Infozentrum der Gruppe, das in der Nähe der Belgrader Fußgängerzone liegt. Zwischen Broschüren, Plakaten und Aktivistenfotos informieren Zeittafeln über die Geschichte ihrer Bewegung. Vulović geht nach links an den Anfang und zeigt auf die Abbildung eines blutüberströmten Mannes. „In Belgrad herrschte Ausnahmezustand, sagt er. „Hass und Gewalt überall, das hat bei uns tiefe Wunden hinterlassen."

    Vulović spricht von „Belgrade Pride 2010. Über Wochen hatten Hooligans, rechtsextreme Politiker und Vertreter der orthodoxen Kirche Stimmung dagegen gemacht. Patriarch Irinej, das kirchliche Oberhaupt, verglich Homosexuelle mit „Kinderschändern, Priester riefen zum Protest auf. Am Tag des Umzuges strömten rund 6.000 Hooligans aus allen Landesteilen in die Innenstadt von Belgrad. Sie griffen LGBT-Teilnehmer und Polizisten an, 150 Menschen wurden verletzt, der Schaden ging in die Millionen. „Die Stadt sah aus wie eine Kriegszone, die Polizei war völlig überfordert und brachte viele unserer Teilnehmer in ein Waldgebiet, sagt Filip Vulović. „Ich war damals in der Pubertät und fand allmählich heraus, dass ich auf Männer stehe. Diese Erfahrung hat uns sehr zurückgeworfen. In den Jahren danach verbot die serbische Regierung den Pride-Umzug, angeblich zum Schutz für deren Teilnehmer.

    Mirjana Jevtović sieht das anders. Seit fast 15 Jahren beobachtet die investigative Journalistin für das Fernsehmagazin Insajder die Belgrader Fanszenen. „Für manche Politiker übernehmen Hooligans die Drecksarbeit auf der Straße, sagt sie. „Die Ausschreitungen bei der Pride 2010 ließen die Regierung sehr schlecht dastehen. Von der Opposition kam viel Kritik. Vertreter der damaligen Opposition sind inzwischen an der Macht in Serbien: Aleksandar Vučić von der sogenannten Fortschrittpartei wurde 2012 Verteidigungsminister, 2014 Ministerpräsident und 2017 Präsident. Oft betonte Vučić seine frühere Zugehörigkeit zu Delije, der Fanvereinigung von Roter Stern. Seit 2014 ist der Umzug von „Belgrade Pride" wieder zugelassen. Mit Tausenden Polizisten – und ohne Vorkommnisse.

    Insajder ist in Serbien eines der wenigen Medien, die unabhängig über die Verbrechen der Hooligans berichten, über Tötungsdelikte, Menschenhandel, Drogenverkauf. Das hat Folgen: Fans von Partizan Belgrad erstachen bei einem Heimspiel eine aufblasbare Puppe, die das Redaktionsmitglied Brankica Stanković darstellen sollte, dazu der Ruf: „Du wirst enden wie Ćuruvija. Der Journalist Slavko Ć uruvija war 1999 vor seinem Haus erschossen worden. Brankica Stanković erhielt Polizeischutz, doch sie recherchierte weiter, zum Beispiel über Hooligans, die zu Unternehmern und Sicherheitskräften aufstiegen. Und die in den Fankurven Proteste gegen die Regierung verhinderten. „Unsere Recherchen haben leider selten Konsequenzen, sagt Mirjana Jevtović und listet auf, wer bei Roter Stern Belgrad ein und ausgehe: Polizisten, Anwälte, Beamte. Der Fußball sei ein Symptom für die Korruption und die Machtkonzentration bei Präsident Aleksandar Vučić. Seit 2012 ist Serbien Beitrittskandidat für die Europäische Union, doch ist eine zeitnahe Aufnahme realistisch? Mirjana Jevtović ist skeptisch, auch wegen der schlechten Beziehungen zu den Nachbarstaaten.

    Der Beginn eines modernen Mythos

    Wer auf dem Balkan von Land zu Land reist, merkt schnell, wie tief die Abneigung zwischen den Menschen vielerorts noch verwurzelt ist. In Gesprächen kommt das nicht immer often zum Ausdruck. Und auch die Symbolik ist subtil und hintergründig: in historischen Museen, bei Devotionalien oder an Gedenkorten, zum Beispiel in Zagreb. Das fußballerische Zentrum der kroatischen Hauptstadt ist das Maksimir, das Stadion von Dinamo. Die Außenfassade der Westtribüne ist mit einer Malerei verziert, die schon aus hundert Metern Entfernung zu erkennen ist. Darauf ein reitender Feldherr mit blauer Fahne, daneben das Vereinslogo, im Hintergrund katholische Kirchtürme. Fünfzig Meter weiter steht eine Gedenktafel. Das Motiv zeigt Soldaten mit Gewehren, umgeben von wütenden Fans im Stadion, ergänzt durch einen Schriftzug: „Für alle Dinamo-Fans, für die der Krieg am 13. Mai 1990 im Maksimir begann und mit der Hingabe ihrer Leben auf dem Altar ihrer Heimat Kroatien endete."

    Die Tafel wurde von den Bad Blue Boys gestiftet, der einflussreichsten Fangruppe bei Dinamo, gegründet 1986, benannt nach dem USFilm Bad Boys mit Sean Penn. Wie viele andere Gruppen trugen die Bad Blue Boys ihr Nationalbewusstsein ins Stadion und bestärkten damit den Auflösungsprozess Jugoslawiens, mit Bannern, Gesängen und Gewalt. Sie unterstützten den Wahlkampf des früheren Offiziers Franjo Tuđman. Dessen antijugoslawische Partei, die Kroatische Demokratische Union, kurz HDZ, gewann im April 1990 die erste freie Parlamentswahl in Kroatien. Wenige Tage später, am 13. Mai, sollte Dinamo Zagreb im Maksimir auf Roter Stern Belgrad treffen. Für den US-Sender CNN war es bald eines von „fünf Fußballspielen, die die Welt veränderten".

    Schon Stunden vor dem Spiel kam es in der Stadt zu Hassgesängen und Schlägereien. Im Stadion durchbrachen die verfeindeten Fangruppen Zäune, warfen Steine, zerstörten Sitzschalen. Treibende Kraft

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