Tor zum Osten: Besuch in einer wilden Fußballwelt
Von Olaf Sundermeyer
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Buchvorschau
Tor zum Osten - Olaf Sundermeyer
Olaf Sundermeyer
Tor zum Osten
Besuch in einer
wilden
Fußballwelt
verlag die werkstatt
Copyright © 2012 Verlag Die Werkstatt GmbH
Lotzestraße 22a, D-37083 Göttingen
www.werkstatt-verlag.de
Alle Rechte vorbehalten.
Satz und Gestaltung: Verlag Die Werkstatt
ISBN 978-3-89533-854-0
Inhalt
Einleitung:
Osterweiterung
Teil 1:
Polnische Zustände
Zu viel Wo'dka in Posen
Verraten und verkauft
Na zdrowie, Trainer!
Der frisierte Fußball
Hass und Hämatome
Am Vorabend des inszenierten Fußballkriegs
Seit 2005 wird jetzt zurückgeschossen
Polnisch als Pflichtfach
Spurwechsel
Teil 2:
Abseits von Europa
Orange ist nur eine Trikotfarbe
Beim Vater der Konzepttrainer
Am Tisch des Oligarchen
Geil Gitler!
Meine Yacht, mein Stadion, meine Hooligans
Erfüllter Fünfjahresplan
Teil 3:
Gas schiesst Tore
Warum der Kreml mitspielt
Maden im russischen Speck
Pogrom in der Manege
Weiterführende Literatur
Danksagung
Der Autor
Fotocredits
Einleitung:
Ost--erweiterung
In den Zügen des Ostens ist es viel günstiger, ein bisschen langsamer, aber auch nicht unpünktlicher als in denen der Deutschen Bahn.
Früher war Osteuropa weit weg. Hinter Frankfurt/Oder war alles „bäh! und löste diffus bedrohliche Vorstellungen aus. Polen! Pooolen? War das Land, in das sich die Autoschieber mit ihren Nutten über die A2 flüchteten. Um auf der Rückreise Zigaretten zu schmuggeln, die sie dann im wachsenden Bekanntenkreis vertickt haben. Das war Polen, Polenbanden, Klaupolen, Polenwitze wie dieser: Wie geht ein polnischer Triathlon? Zu Fuß zum Schwimmbad – und mit dem Fahrrad zurück! Das Freibad meiner Jugend trug auch deshalb den Beinamen „Danziger Bucht
.
Und dann sind da noch die vagen Erinnerungen an Champions-League-Spiele bei Wuuutsch Lodsch oder Widzew Łódź, Kloppereien bei Auswärtsspielen der deutschen Nationalmannschaft im ramponierten Stadion von Zabsch…, Zabrze, wenn auch mit gehöriger Beteiligung eigener Problemfans, für die das hier ein Abenteuerspielplatz war. Im Osten gab’s immer nur Ärger. Und Reisestrapazen, wenn es noch weiter ging, in die Ukraine oder gar nach Russland. Zu Dnjepr Dnjepropetrowsk oder Spartak Moskau. Dorthin musste immer der Koch vorgeschickt werden, mit vakuumverpackten Lebensmitteln.
Aber auf einmal kam der Osten näher, vor allem durch die Erweiterung der Europäischen Union. Selbst die Ukraine hat seit der Orangenen Revolution ein Gesicht, dazu passten auch die orangefarbenen Trikots von UEFA-Cup-Gewinner Schachtar Donezk. Die standen zwar eher für die Konterrevolution, aber wen interessierte das schon? Und Russland kam mit Gazprom über die Bundesliga, schloss einen Pakt mit Schalke 04 und bandelte mit Bayern München an. Mit seiner Neuauflage der sowjetischen Sportpolitik kam Russland plötzlich wieder über die ganze Welt. Die Olympischen Winterspiele 2014 wurden an Sotschi vergeben, die Fußballweltmeisterschaft 2018 an Russland. Polen und die Ukraine wurden Gastgeber einer Europameisterschaft, dem dort wichtigsten gesellschaftlichen Ereignis seit dem Zusammenbruch des Ostblocks. Die beiden großen internationalen Fußballverbände, die UEFA, der europäische, und der Weltverband FIFA, öffneten mit ihren weitreichenden Entscheidungen einen gigantischen Markt, der von der deutsch-polnischen Grenze aus bis nach Wladiwostok, runter in die Krisenregion des Kaukasus und bis zur chinesischen Grenze reicht. Als Nächstes werden nun China selbst und Indien zu umsatzstarken Fußballmärkten gemacht. Es geht um Sportartikel, milliardenschwere Fernseh- und Markenrechte, um eine professionelle Erschließung der Champions und Europa League in eine Richtung, die vielen lange Zeit als nicht beachtenswert galt. Es geht um sehr viel Geld. Denn Fußball ist eine Konsumware, die jeder haben möchte, der in Europa mitmachen will. Längst wird die Hymne, die sich zu den Spielen der Champions League über Fernseher und Internet verbreitet, als verbindende europäische Hymne wahrgenommen. Das soll sie wohl auch. Freude schöner Götterfußball!
Denn die UEFA ist längst ein zentraler politischer Akteur auf dem Kontinent, der dort am meisten Macht hat, wo er eine greifbare Organisationsform für seine Mitglieder ist, die ansonsten in der Europäischen Union außen vor stehen. Wie in der Ukraine, wo UEFA-Präsident Michel Platini als eine Art europäischer Superstaatschef verstanden wird. Sein Verband wird dort in etwa so eingereiht: EU, UEFA, NATO. Und die prominenten Spieler aus den großen Ligen, wie beispielsweise Ronaldo, Messi, Rooney, sind europäische Identifikationsfiguren, selbst wenn sie aus Südamerika kommen. Die Champions League hat in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas längst die starke Anziehungskraft übernommen, die in früheren Zeiten von der US-amerikanischen Popkultur ausgegangen ist. Ronaldo hat Michael Jackson, Madonna und Sylvester Stallone verdrängt. Auch der junge Traceur, der auf dem Theatervorplatz im ostukrainischen Charkow akrobatisch über die Betonklippen der sowjetischen Architektur springt, lebt keine amerikanische Straßenkultur nach: Er steckt in einem stylischen ausgehfähigen Trainingsanzug aus dem fränkischen Herzogenaurach und bewegt sich in der aus Paris stammenden Sportart Parkour. Europa gilt hier als sexy.
Andersherum sollte der Osten nun auch über den Sport in die Wohnzimmer des Westens gelangen. Polen war uns ja schon näher gekommen. Die Grenzkontrollen waren weggefallen, das Land erlebte einen wirtschaftlichen Aufschwung und die Autoschieber hatten sich zu selbstständigen Handwerkern fortgebildet. Ihre Frauen zu Pflegekräften oder Zahnärztinnen. Die A2 ging bald bis nach Warschau, mit Mc Donald’s und sich selbst reinigenden Toiletten am Fahrbahnrand, Ikea und Media-Markt hinter den Ausfahrten. Aber wie hat sich der Fußball abseits der neuen polnischen Autobahnen in diesen Jahren entwickelt? Was ist mit all den verkauften Spielen, der korrupten Liga, mit den gewaltbereiten Hooligans, mit Rassismus und Antisemitismus in den Stadien? Warum stecken ukrainische Oligarchen auf einmal so viel Geld in Fußballklubs? Und wieso heißt es beim russischen Verband, dass „Fußball Teil unserer Außenpolitik" ist? Welche Ziele verfolgt der Kreml, wenn sich sein halbstaatlicher größter Erdgaskonzern der Welt, Gazprom, im Fußball einkauft? Und das nicht nur in Russland.
Ich bin in den vergangenen Jahren dem Fußball in Osteuropa hinterhergereist. Zunächst privat, wie Tausende anderer europäischer Fußballliebhaber auch. Nicht nur in Polen, der Ukraine und in Russland, auch in Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, Weißrussland und im Baltikum. Dann aber auch als Journalist, weil auf einmal ein Interesse am Fußball aus dieser Region aufkam. Vor allem in den drei hintereinanderliegenden größten Ländern Osteuropas wurden durch die Entscheidungen von UEFA und FIFA tiefgreifende Veränderungen ausgelöst, die den europäischen Fußball insgesamt verändern werden. Dieses Buch vermittelt einen Eindruck davon, in welche Richtung das geht.
In Polen verstärken die Veränderungen im Fußball die anhaltende Europäisierung und Demokratisierung einer dynamischen Gesellschaft. Denn der Fußball galt dort als letzte Bastion der ehemaligen sozialistischen Volksrepublik, durchdrungen von alten Seilschaften, Korruption, Vetternwirtschaft, Alkoholismus und Dilettantismus. Das ändert sich allmählich. In der Ukraine wirkt der Fußball ebenfalls als Verstärker – er manifestiert die herrschenden Verhältnisse. Dient als Machtmittel der Oligarchen, die das Land als ihre Privatangelegenheit behandeln und ausbeuten. Die großen Klubs Dynamo Kiew, Metallist Charkow, Dnjepr Dnjepropetrowsk, vor allem aber Schachtar Donezk sind reale Machtzentren. Unter ihren Wappen versammeln sich Politiker und Oligarchen zu privat geführten Clans, die den Staat korrumpieren und aushöhlen. Die Verbindung mit dem europäischen Fußball wirkt hier gleichermaßen den zarten Einflüssen einer demokratischen Kultur entgegen. Und Russland missbraucht den Fußball, wie den gesamten Sport, zu seiner weiteren Großmachtwerdung. Interessanterweise läuft die Professionalisierung des Spitzenfußballs genau in die gegenläufige Richtung. Am stärksten in Russland, danach in der Ukraine, aber schließlich auch in Polen. Stadien, Trainingsanlagen, das ganze sportliche Niveau ist in Russland längst mit West-Europa zu vergleichen, die Ausstattung der Klubs ist oftmals noch besser. Ebenso bei den Top-Klubs in der Ukraine – in Polen wurde erst ein Anfang zur Professionalisierung der Liga gemacht, als Teil der fortschreitenden Europäisierung dieses Landes. Aber vor allem Russland ist für ausländische Fußballer äußerst lukrativ: Transfersummen und Handgeld sind überdurchschnittlich hoch, Spielergehälter enorm und steuerfrei, das Leben luxuriös, die Liga stark und längst wettbewerbsfähig mit den großen Fußballnationen. Aber das Leistungsgefälle in Osteuropa steht dem Demokratiegefälle diametral entgegen: Der autoritäre Staat in Russland und die ukrainische Oligarchie treiben die sportlichen Leistungen an, weil sie dem Machterhalt der Eliten nutzen. Die Spieler werden als Leistungsdarsteller dieser Systeme instrumentalisiert. Damit muss jeder Fußballer leben, der sich für einen Wechsel zu Schachtar Donezk oder Rubin Kasan entscheidet.
Ich habe in den vergangenen Jahren für verschiedene Redaktionen Stadien in allen drei Ländern besucht, habe mit polnischen Hooligans gesprochen, mit korrupten Fußballtrainern, mit rechtsradikalen Ultras in der Ukraine und in Russland, mit schwerreichen Oligarchen, mit fürstlich bezahlten Fußballprofis, mit Funktionären und Politikern des Kremls. Dabei bin ich immer wieder durch jenen Teil Europas gereist, den sich nun auch viele andere über den Fußball erschließen. Tage, Nächte, Wochen, war ich mit Zügen unterwegs, die den dortigen Lebensrhythmus aufnehmen, bin Zehntausende Kilometer mit dem Auto abgefahren, bin geflogen und gelaufen, immer wieder durch das Tor zum Osten.
Olaf Sundermeyer
Berlin, im Winter 2012
Teil 1:
Polnische Zustände
Auch dieser Krakauer Hooligan ist zu Hause bei Mama bestimmt ein netter Kerl.
Zu viel Wo'dka in Posen
Das erste Fußballspiel, für das ich nach Polen fuhr, fand ohne mich statt. Es war ein Abendspiel von Lech Poznań*, an einem schönen Frühlingstag, der später aber empfindlich kühl wurde. Wir kamen zu dritt mit dem Zug, dem Berlin-Warszawa-Express, stiegen also auf halber Strecke aus. Der Weg in die Altstadt war ein fröhlich aufgekratzter Spieltagsspaziergang. Er führte meine beiden Kumpels und mich, alle drei ahnungslos und durstig, direkt in eine dunkle Studentenkneipe hinter dem Stary Rynek, dem historischen Markt im Zentrum. Von der Stadt wusste ich damals nur, dass es die reichste im Land ist. Es gab eine internationale Messe und einige große Fabriken. Ach ja, und dass die Leute hier von den übrigen Polen scherzhaft als Preußen beschimpft wurden, weil Posen lange Zeit deutsch war.
Nach zwei Bier schwenkten wir um – auf Wódka. Wir waren ja schließlich im polnischen Posen, wo sie den Wyborowa brennen, ho, ho, ho. Es war nett hier, ein paar kunstvolle Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden, die Kellnerin freundlich, aufmerksam und schnell. Den Namen der Kneipe weiß ich nicht mehr, bei späteren Besuchen in der Stadt habe ich sie aus Scham gemieden. Immer wieder blickte ich auf das Bild einer Tänzerin, bis die tatsächlich anfing, sich zum Groove von Virtual Insanity zu bewegen, das Jamiroquai aus den Boxen in den Kneipenraum streute. Es sind diese kleinen Details, die sich im Langzeitgedächtnis einprägen. Von der aufmerksamen Bedienung sah ich irgendwann nur noch die schnellen Hände, die kleine gefüllte Gläser auf unseren rustikalen Holztisch stellten. Meine eigenen Finger waren nass und schmeckten scharf, die Zunge brannte, dann war sie taub. Plötzlich kam der Gedanke an das Spiel. Das Spiehiil!
Zahlen, bitte! Draußen dann sackten wir schon eine Häuserecke weiter zusammen. Zu dritt auf einer Parkbank. Ich schlief ein, die anderen beiden auch. Das Spiel war vergessen, vielleicht längst schon angepfiffen. Es war jetzt stockdunkel. Seither ist Polen von Jahr zu Jahr heller geworden. Es gibt inzwischen sogar beleuchtete Autobahnabschnitte. Als Nächstes erinnere ich mich an einen blau-weißen Polonez, auf dessen kalte kunstlederne Rückbank ich gedrückt wurde. Zwischen mir und den beiden Polizisten auf den vorderen Sitzen war eine Plexiglasscheibe montiert, trübe und zerkratzt. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich Handschellen an meinen Handgelenken, auch die waren kalt auf der Haut. Was war geschehen? Zu der Zeit verstand ich noch kein Polnisch. Und meine Aussagen auf Deutsch und Englisch kamen hinter dem Plexiglas nicht an. Vielleicht doch? Ich war ein Gefangener der Staatsmacht, weil mir die Erfahrung fehlte, mit ihrem Nationalgetränk umzugehen. Möglicherweise war das hier die Rache für unsere mangelnde Demut vor dem Wódka. Der Polonez bretterte jetzt mit 90 Sachen über das Kopfsteinpflaster. Das Plexiglas klapperte, die Stoßdämpfer waren durch, die Fahrt war eine harte und laute Sache. Ich sehe noch die Tachoscheibe mit ihrem nervös zittrigen Zeiger. Warum der Polizist so schnell fuhr, habe ich nicht verstanden. Schließlich hielten wir an. Meine beiden Entführer zerrten mich von der Kunstlederrückbank. Betrunken und mit Handschellen kann man nur schwer die Balance halten. Und dann dieses grelle Licht am Ende der Straße.
Eine Nacht im Gefängnis
Wahnsinn! Das war der h-e-l-l-e Wahnsinn! Ich schaute direkt in 1.890 Lux. Nach ein paar Sekunden hatte ich mich an das grelle Licht gewöhnt und erkannte die psychedelisch geschwungenen Silhouetten der vier 56 Meter hohen Flutlichtmasten, von denen ich schon so viel gehört hatte. Wie Urzeittiere aus einer vergangenen Epoche, schwere eiserne Zeugen des Sozialismus, standen sie da und streckten sich in den dunklen polnischen Himmel. Auch ihretwegen war ich heute nach Polen gekommen. Unbedingt wollte ich unter diesen einzigartigen Ungetümen ein Flutlichtspiel erleben. Jetzt stand ich kurz vor diesem Stadion, aber der Weg dorthin war eine Unmöglichkeit. Das Spiel lief noch. Fetzen der Fangesänge wehten die Straße hoch zu uns. Aber mehr würde ich von diesem Spiel nicht mitkriegen. Die beiden Polizisten brachten mich in einen schäbigen Flachbau, in dem meine beiden Kumpels schon auf einer schmalen Bank hockten. Nach einem Übergabegespräch mit zwei kahlgeschorenen kräftigen Männern in Trainingsanzügen löste mir einer der beiden Polizisten die Handschellen – dann verschwanden beide grußlos. Die beiden Kahlgeschorenen packten mich mit festem Griff. Als Nächstes kam ein Mann im weißen Kittel, eine Spritze in der Hand.
Es kursierten ja damals schon diese Storys von der Organmafia aus dem Osten. Um Gottes willen, bloß keine Spritze!, dachte ich. Wo waren wir hier reingeraten? Dann stach der Mann mit dem Kittel in meinen Unterarm – und zog die Spritze auf. Eine Blutabnahme gegen meinen Willen. Weil ich in einer Studentenkneipe ein paar Gläser zu viel getrunken hatte und auf einer Parkbank eingenickt war. Was waren das für Zustände hier in Polen? Die beiden Kahlgeschorenen zerrten mich dann durch einen finsteren Gang in eine geflieste Zelle, warfen mich auf eine abgewetzte Kunststoffmatratze und schlossen unter Gelächter die von innen aufgepolsterte Tür. Mir würde bald ein langer Bart wachsen.
Zeitzeugen des Sozialismus: Die Flutlichtmasten aus Posen wurden abgebaut und stehen jetzt irgendwo in China.
Es stank nach Erbrochenem, altem Schweiß und sehr schmutziger Wäsche. Ich war der Fünfte in dem Raum. Meine beiden Kumpels waren auf andere Zellen verteilt worden. Es gab kein Wasser. Nur eine offene Kloschüssel in einer Ecke, von der ich mich fernhielt. Das Fenster war geschlossen und von außen vergittert. Eigentlich sollten wir jetzt entspannt das Stadion verlassen, in die Straßenbahn steigen und dann mit dem letzten Zug zurück nach Deutschland fahren. Vielleicht noch ein Zugbier, Passkontrolle hinter Rzepin (Reppen), dann über die Oder – und do widzenia Polska. Vom Stadion aus bis zum Berliner Ostbahnhof wäre das in etwa ein Drei-Stunden-Programm. Stattdessen lag ich nun auf einer grässlich quietschenden Matratze zwischen stinkenden fremden Kerlen. Innerlich total ausgetrocknet und ohne Wasser. Das war das Schlimmste. Ich rief nach Wasser, eines der polnischen Wörter, die ich damals schon kannte: „Woda! Woda!" Vergeblich. Irgendwann schlief ich erschöpft ein.
Mit einem breiten Grinsen händigte uns am nächsten Morgen ein Mann, den wir bis dahin nicht gesehen hatten, unsere persönlichen Gegenstände aus. In allen drei Geldbörsen, die uns die Kahlgeschorenen beim Empfang abgenommen hatten, fehlte das deutsche Bargeld. Den Schichtwechsel in der Ausnüchterungsanstalt hatten wir versäumt. Vor der Tür warf ich noch einen flüchtigen Blick auf die Flutlichtmasten, dann winkte ich ein Taxi ab und wir traten ein modifiziertes Drei-Stunden-Programm an. Aus dem Zugbier wurde ein Kaffee po turecku, also ein Kaffee türkischer Art. Kaffeemehl, heißes Wasser drauf, umrühren, fertig. Nie schmeckte mir der knirschende Prütt zwischen den Zähnen besser. Seither begegne ich Wódka stets mit einer gewissen Demut.
Verraten und verkauft
Den Besuch des Posener Stadions habe ich dann gleich mehrfach nachgeholt. Dort, an der ulica Bułgarska, wird übrigens ebenso wenig Alkohol ausgeschenkt wie in anderen polnischen Stadien. Wegen der Sicherheit. Hier herrscht absolutes Alkoholverbot, kein Bier, dafür Pepsi – häufig lauwarm und ohne Kohlensäure, Tee mit Zitrone und schön fettige Würste, für deren Verdauung es eigentlich einen Wódka bräuchte. Auch die liebgewonnene 2:1-Regel (pro Spiel zwei Bierchen, dazu eine Stadionwurst vom Grill) greift hier nicht. Zwar gehören die riesigen Silos der ultramodernen Brauerei Lech am Posener Stadtrand zu den lokalen Charakteristika und mit einer anderen Brauerei, Warka, hat der Klub Lech Poznań schon seit langer Zeit einen „strategischen Sponsor", wie es heißt – aber Bier ist im Stadion Miejski (städtisches Stadion) ein absolutes No-Go. Auch aus diesem Grund saufen die polnischen Fans vor dem Spiel, zu Hause schon, in den Kneipen, am liebsten aber versteckt hinter Mauern, auf Garagenhöfen und in Hauseingängen. Dabei übersäen sie Zufahrtwege und Plätze mit Flaschen, vor allem auch mit Bierdosen. Denn noch sind diese hier pfandfrei zu haben.
Auch der schäbige Flachbau mit den Ausnüchterungszellen steht in Posen noch. Dafür mussten die eisernen leuchtenden Urzeittiere weichen – auf dem Weg zu einem Fußballstandort nach europäischen Maßstäben. Mit ihnen schwand die Erinnerung an jene weit zurückliegende Zeit in der Volksrepublik Polen, als die Spieler von Lech Poznań noch Helden der Arbeit waren, Kicker des Werksklubs der polnischen Staatsbahn PKP. Denn früher wurden in der Stadt Waggons gebaut. Heute ist Volkswagen der wichtigste Arbeitgeber in Posen, das Werk liegt direkt an der neuen Autobahn nach Berlin, eine Abfahrt hinter Ikea. Der deutsche Fußballtrainer Felix Magath hatte einst für den Kleintransporter Caddy geworben, den sie hier bauen. Zur Eröffnung des an alter Stätte neu errichteten Stadions zuckten bunte Laser zu Technorhythmen über die Tribünen und an Spieltagen werden seither die Außenseiten in der dominierenden Vereinsfarbe von Lech Poznań – blau – illuminiert, wie man ja inzwischen zu „beleuchtet" sagt. Ein paar Monate nach der Lasershow wurde Lech nach langer Zeit prompt wieder Polnischer Meister, 2010 – und immer mehr Leute kamen hierher. Schon vor dem Umbau hatte der Klub den größten Zuschauerschnitt der Liga, was allerdings eine relative Größe ist. Immer noch bleibt bei den meisten Heimspielen mehr als die Hälfte der blauen Plastiksitzschalen frei. Wenngleich 20.000 Besucher für polnische Verhältnisse schon eine Wucht sind.
Auch darauf, dass in Polen manche Ergebnisse schon vor dem Anpfiff feststehen, kann man wetten.
Die Baustelle hatte ich im Jahr vor der Eröffnung noch mit einem frierenden Kamerateam aus Köln besucht. Auf meine Frage, wo denn die besonderen Flutlichtmasten geblieben sind, kam von der ansonsten sehr eloquenten Pressesprecherin die knappe Antwort: „In China." Die Entsorgung der Masten hatte unter vielen Anhängern des Traditionsklubs für Unmut gesorgt. Ob sie in China nun in einem Hochofen eingeschmolzen oder in irgendeinem Stadion der aufsteigenden China Super League wieder aufgerichtet wurden, um erneut den Fußball im real existierenden Sozialismus zu beleuchten, habe ich bislang nicht in Erfahrung bringen können.
Polen in Dortmund
Zu den größten Gewinnern des Posener Wandels gehörte übrigens der junge Mittelstürmer Robert Lewandowski. Als bester Torschütze der 1. Liga, so heißt die tatsächlich zweite Liga in Polen, kam er von Znicz Pruszków aus einer masowischen Kleinstadt nach Posen und wurde mit Lech gleich Pokalsieger. Pruszków hatte 5.000 Żłoty (1.250 Euro) für Lewy an Legia Warszawa gezahlt, um ihn aus der dortigen Reservemannschaft loszukaufen. Sein Trainer in Posen war Franciszek Smuda, der wie Lewandowski in einer Phase des Aufbruchs hierhergekommen war. Auf Anhieb wurde Lewy, so sein Spitzname, von Sportjournalisten zur Entdeckung des Jahres in Polen gewählt.
Anfang der neunziger Jahre war der Klub bereits dreimal Polnischer Meister. Aber das war eine andere Zeit. Smuda wechselte jedenfalls