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POLEN: Gott, Ehre, Vaterland
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eBook340 Seiten4 Stunden

POLEN: Gott, Ehre, Vaterland

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Über dieses E-Book

Was ist los mit den Polen?
Seit der Machtübernahme der PiS (die Partei für `Recht und Gerechtigkeit`) 2015 bläst ein eiskalter national-konservativer Wind durch Polen. Das Land weigert sich, Flüchtlinge aufzunehmen, reformiert die Justiz auf umstrittene Weise und brüskiert damit die EU. Zur gleichen Zeit floriert die Wirtschaft, und viele Wähler unterstützen den Kurs der Regierung.
Der niederländisch-deutsche Journalist Jeroen Kuiper reiste kreuz und quer durch sein geliebtes Polen und sprach mit dutzenden Politikern, Museumsdirektoren, Umweltaktivisten und Rechtsradikalen, um heraus zu finden, wieso die Polen dabei sind, ihr Land in eine illiberale Demokratie zu verwandeln.
Kuiper erklärt den tiefen Riss, der durch die polnische Gesellschaft geht. Wer das aktuelle, widersprüchliche Polen in all ihrer Aktualität verstehen will, muss dieses Buch lesen.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum11. Okt. 2019
ISBN9783749750207
POLEN: Gott, Ehre, Vaterland

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    Buchvorschau

    POLEN - Jeroen Kuiper

    Unterwegs

    Es ist noch dunkel, als ich in meinem Wohnort am östlichen Berliner Stadtrand die Tür hinter mir schließe, an diesem kalten Januarmorgen. In der morgendlichen Verkehrsspitze ist mein Bus zum Bahnhof verspätet, ich verpasse fast den Zug nach Frankfurt an der Oder. Im vollen Regionalexpress Richtung Grenze sitzen müde Gesichter um mich herum, Menschen, die am Rande der Nacht aufgestanden sind, um zur Arbeit zu gehen. Wohin reise ich?

    Nach einer halben Stunde erscheint Frankfurt an der Oder. Hier befindet sich die Viadrina, eine deutsch-polnische Universität, wo viele Studenten sich - wie könnte es anders sein - mit der Osteuropaforschung beschäftigen. Zu Beginn des neuen Jahrtausends war ich regelmäßig wegen meiner Arbeit in Frankfurt an der Oder. Damals war ich Koordinator einer internationalen Koalition von Umweltorganisationen, die sich für den Schutz der Oder eingesetzt hat. Zeit für die Oder, so der etwas seltsame Name unserer Koalition. Ich erinnere mich, dass einer der Ostdeutschen aus der Koalition mich überhaupt nicht mochte. Warum das so war, hat er mir nie erzählt, aber ich vermute, dass ich als Niederländer für ihn der Inbegriff des Wessis war.

    Ich sollte das Flussprojekt auf Polnisch leiten, was für mich als Holländer zwischen Deutschen, Polen und Tschechen eine ordentliche Herausforderung war. Hatte ich diese Position aus diplomatischen Gründen bekommen? Ein neutraler Niederländer zwischen drei anderen Nationalitäten? Ich weiß nicht, ich habe es nie erfahren. Schließlich verschwand ich nach einer Reihe von Konferenzen, Tagungen und Broschüren über nachhaltiges Flussmanagement, Deiche und Staudämme, Hochwasserschutz, Fahrradtourismus und ökologischen Landbau, aber auch nach Intrigen und Streitigkeiten geräuschlos aus dem Projekt.

    In Frankfurt kündigt die Schaffnerin die nächsten Reiseziele an: Eisenhüttenstadt, Cottbus, Städte im Osten Brandenburgs. Sie erwähnt Warschau nicht, wo ich gleich hinfahre. Warum sollte sie auch? Warschau mag zwar die Hauptstadt des Nachbarlandes sein, aber für die meisten Deutschen ist Polen immer noch ein so exotisches Ziel, dass kaum einer auf die Idee kommt, wirklich dorthin zu fahren. Polen, was willst du dort?, wird mir oft gesagt. Hüte dich vor Dieben! Viele Deutsche waren schon in Thailand oder auf Mallorca, aber in Polen, 80 Kilometer von Berlin entfernt, waren die meisten noch nicht, und wenn schon, dann höchstens zum Tanken oder um billige Zigaretten auf dem Grenzmarkt zu kaufen.

    Während ich am östlichsten Rand Deutschlands auf den Zug nach Warschau warte, ist es draußen noch dunkel, aber in der Ferne wird es schon hell. Im Osten. Da muss ich hin. Der Intercity nach Warschau ist fast leer, auch an einem Montagmorgen. Die Zugtickets kosten einen Tag vorher 29,90 Euro für die 550 Kilometer zur polnischen Hauptstadt. Ein komfortabler Zug, mit einem Speisewagen, Steckdosen für Laptop und Internet, aber nur wenige Reisende. Es zeigt, wie wenig Austausch es anno 2018 noch immer gibt, zwischen Berlin mit seinen fast vier und Warschau mit seinen fast zwei Millionen Einwohnern.

    Kurz vor der Grenze passieren wir einige letzte deutsche Kleingärten, dann rollt der Zug langsam über die Oder. Der Fluss ist zugefroren, das Wasser fließt nach Norden, in Richtung Usedom, einer Ostseeinsel, die zwischen Polen und der ehemaligen DDR aufgeteilt ist. Uznam, so heißt die Insel auf Polnisch. Es ist die Insel, wo meine Ehefrau herkommt, die Insel, wo ihre Großeltern am Ende des Zweiten Weltkriegs mühsam ihr Leben wiederaufbauten, nachdem sie im schrecklichen Kriegswinter 1945 vor der Roten Armee aus Ostpommern geflohen waren. Nicht jeder aus ihrer Familie kam unversehrt aus dem Krieg: Einer ihrer Großeltern, der bei Kämpfen bei Stalingrad verletzt wurde, musste später sein zerbombtes Kaufhaus in Stettin aufgeben. Zwei Urgroßeltern wurden von russischen Soldaten erschossen, nach einem Streit um eine Wurst.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Oder zum Grenzfluss zwischen der DDR und Polen. Heute ist das Gras in den Flussauen weiß gefroren. Der Maschinist zieht den Hebel, der Zug pfeift und schreit. Auf der anderen Seite der Oder weiß ich: Ich bin wieder im Osten. Wie oft habe ich diese Grenzbrücke schon überquert? Vierzig Mal? Fünfzig?

    Auf der polnischen Seite der Grenze fahren wir durch Słubice, der Partnerstadt der Universität in Frankfurt an der Oder. Dann folgt die Haltestelle in Rzepin. Ich erinnere mich an eine Reise, Mitte der 90er Jahre, als ich mit meiner damaligen Freundin aus den Niederlanden nach Polen trampte. Von irgendwo in Berlin fuhr uns ein langhaariger Pole Richtung Grenze, in einem Auto, das er in den Niederlanden gekauft hatte. Er war einer der vielen, die damals als Autohändler hin und her pendelten. Polen war noch nicht Mitglied der Europäischen Union, und es gab einen riesigen Stau auf der Grenzbrücke. Wir beschlossen, auszusteigen und vor den Stau zu laufen. Schließlich landeten wir in Rzepin, wo wir in den Nachtzug nach Warschau einstiegen. Das heißt, das dachten wir. Zwanzig Minuten später waren wir wieder in Frankfurt: Wir hatten den Zug in die falsche Richtung genommen.

    Das polnische Land. Vor mir liegen 500 Kilometer weite Ebene, das polnische Tiefland, das endlos weiterrollt, bis zum Ural, wo Europa endet. Es ist ein landschaftlich unspektakuläres Gebiet, aber es ist das polnische Kernland, Wielkopolska. Hier hatten die Piasten ihre Festung, in der Nähe der heute unbedeutenden Stadt Gniezno, wo König Mieszko, der erste König der Piastendynastie, von 960 bis 992 regierte und 966 zum Christentum getauft wurde.

    Nachdem die Piasten um 1370 von der Bildfläche verschwanden, kam Polen unter den Einfluss der Jagiellonen-Dynastie. Es war der Auftakt zur ersten großen Blütezeit des Polnischen Reiches, die 1569 zur Polnisch-Litauischen Union führte. Polen war damals ein riesiger, multikultureller Staat, der sich von der Ostsee bis fast zum Schwarzen Meer erstreckte. Polen, Deutsche, Juden, Weißrussen, Litauer, Kurländer, Tataren, Ukrainer, Russen, Roma und Sinti: Alle hatten ihren Platz im multiethnischen Staat. Etwa ein Drittel der Bevölkerung war nicht-polnisch, und in der Polnisch-Litauischen Union herrschte Religionsfreiheit. Damals war Polen eine sehr fortschrittliche Demokratie: Könige wurden gewählt, im polnischen Landtag (Sejm) hatte jedes Mitglied des Parlaments ein Vetorecht. Polen war 1791 das erste europäische Land überhaupt mit einer Verfassung.

    Das polnisch-litauische Reich verlor im Laufe der Jahrhunderte seine Stärke und brach schließlich Ende des achtzehnten Jahrhunderts zusammen, als die mächtigen Nachbarstaaten Preußen, das Habsburgische Reich und Russland das geschwächte Polen angriffen und das Land unter sich aufteilten. Ab 1795 verschwand Polen 123 Jahre lang vollständig von der europäischen Landkarte, bis das Land 1918, am Ende des Ersten Weltkriegs, seine Unabhängigkeit wiedererlangte.

    Es wurde ein Vergnügen von kurzer Dauer. Auch Polen konnte sich in der Zwischenkriegszeit nicht von der Wirtschaftskrise und den nationalistischen Tendenzen in Europa lösen. Unter der Führung des autokratischen Feldmarschalls Józef Piłsudski kämpfte Polen gegen die Deutschen in Schlesien und gegen die Russen im Osten. 1920 standen polnische Truppen sogar kurz vor den Toren Moskaus. Polen, damals geographisch viel weiter östlich gelegen, mit einer viel größeren Landesfläche als heute, hatte Ende der 1930er Jahre mehr als 30 Millionen Einwohner. Mehr als drei Millionen von ihnen, oder etwa zehn Prozent der Bevölkerung, waren Juden.

    Der Zweite Weltkrieg änderte alles. Kein Land litt so sehr unter der verheerenden Zerstörungswelle der Deutschen wie Polen. Etwa sechs Millionen Polen, also jeder fünfte Einwohner des Landes, wurden getötet. Nach dem Zweiten Weltkrieg teilten die Großmächte Europa während der Konferenzen in Jalta und Potsdam auf. Deutschland verlor einen Teil seiner Ostgebiete. Sie wurden polnisches Staatsgebiet. Die Sowjetunion bekam einen großen Teil Ostpolens. Nach dem Krieg wurde Polen kleiner. Das Land wurde sozusagen nach Westen verlagert. Trotzdem geriet das Land in den östlichen Einflussbereich, und Polen wurde kommunistisch. Die polnischen Juden waren während des Krieges fast vollständig ausgerottet. Die ehemaligen polnischen multiethnischen Regionen im Osten, die sogenannten Kresy, waren Teil der Sowjetunion geworden. Polen hatte sich verändert. Das Land war ethnisch homogen geworden. Heutzutage ist Polen sogar eines der ´weißesten´ Länder Europas.

    …………………..

    Während der Zug weiterfährt, denke ich an die kommenden Wochen, an den Plan, den ich habe. Ein Buch soll her, ein Buch über Polen, ein Land so nah, aber für viele Deutsche noch immer so unbekannt. Es ist ein Land, das mich seit einem Vierteljahrhundert fasziniert, mal weniger, mal mehr. Es ist ein Land, das mich seit meinem Studium 1992 nie losgelassen hat. Seit Beginn meines Studiums, Ende der 80er Jahre, als ich im niederländischen Utrecht Geographie studierte, war ich fasziniert vom Osten. Da, wo niemand hinwollte, da wollte ich hin: Rumänien, die Sowjetunion, die DDR, Polen. Es faszinierte mich, dass es hinter dem Eisernen Vorhang eine Welt gab, die so unbekannt war. Gab es noch mehr, das mich faszinierte? Die Utopie der machbaren Gesellschaft? Wahrscheinlich schon.

    Kurz nach dem Mauerfall veränderte sich Europa in rasantem Tempo. Ich bekam die Möglichkeit, für eine Weile in Polen zu studieren, eine Gelegenheit, die ich nicht ausließ. Später in meinem Berufsleben, als ich für Umweltorganisationen arbeitete, hatte ich viel mit Polen zu tun. Noch später war ich als Journalist regelmäßig in Polen unterwegs. Ich war fasziniert von den Menschen, der Geschichte, dem Unvollständigen, den Bruchlinien, ja, den Problemen. Im Laufe der 90er Jahre war ich ein starker Befürworter einer polnischen Mitgliedschaft in der Europäischen Union. In jenen Jahren, kurz nach dem Fall der Mauer, als ich wie ein Verrückter durch Osteuropa reiste, hatte ich für immer verstanden: Nie wieder Krieg. Kein anderes europäisches Land hatte so sehr unter den Deutschen gelitten wie Polen. Bis heute steht die Europäische Union für mich hauptsächlich für eines ihrer ursprünglichen Prinzipien: Frieden in Europa.

    Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes und dem Beitritt Polens zur NATO im Jahr 1999 war es 2004 dann endlich so weit: Polen wurde Mitglied der Europäischen Union. Die Integration in die europäische Gemeinschaft schien unwiderruflich; das Ende der Geschichte war nahe, um mit Francis Fukuyama zu sprechen. Nach einer heftigen Anlaufphase begann die polnische Wirtschaft zu wachsen, und im Laufe der Jahre sank die Zahl der Witze über Polen proportional zu diesem Wirtschaftswachstum. Die Polen selbst erschienen in zunehmender Zahl in Westeuropa, meist als Arbeitsmigranten. Im Jahr 2014 wurde der ehemalige polnische Regierungschef Donald Tusk Präsident des Europäischen Rates. Polen schien politisch und wirtschaftlich auf dem Zenit seiner Macht angekommen zu sein. Das osteuropäische Land befand sich nun inmitten der europäischen Gemeinschaft. Zumindest schien es so zu sein. Aber war es auch wirklich so?

    Journalisten suchen neue Entwicklungen, Trends. So sollte es zumindest sein. Aber: Journalisten und vor allem Redakteure sind oft auch konservativ. Sobald eine neue Erzählung gefunden wurde, halten wir gerne daran fest. So lange wie möglich. Das ist angenehm, einfach, bequem. Polen, ein erfolgreiches Mitglied der Europäischen Union, ein Wirtschaftstiger. Eine gute Geschichte! Wer will da noch andere Geräusche hören, wer will die komplexen Grautöne sehen, wer bekommt den Raum, darüber zu berichten?

    War man dafür offen, dann konnte man in den letzten Jahren schon Risse in der sogenannten polnischen Erfolgsgeschichte sehen. So profitierten beispielsweise nicht alle Polen vom Wirtschaftswachstum von drei, vier, fünf Prozent pro Jahr. Am unteren Ende der Gesellschaft wuchs die Unzufriedenheit mit der Politik der neoliberalen Regierung von Ministerpräsident Donald Tusk, der von 2007 bis 2015 regierte. Diese Unzufriedenheit bemerkte die Regierung jedoch kaum. Arbeite hart, du bist dein eigen Glückes Schmied, das war das Motto. Und wer im eigenen Land keine Arbeit finden kann, der gehe doch bitte auf die Suche nach Arbeit in anderen Teilen Europas! Seit 2004 sind schätzungsweise 2,5 Millionen der 38 Millionen Polen ins Ausland gegangen. Doch nicht für jeden war der Wohlstand erreichbar. Die Schaufenster der Läden sind heute zwar voll, aber immer noch lebt etwa ein Viertel der Bevölkerung in Armut.

    Außerdem waren viele Polen auch nicht daran interessiert, Ausländer aufzunehmen. Auf dem Höhepunkt der europäischen Flüchtlingskrise, im Sommer 2015, als hunderttausende Syrer, Iraker und Afghanen über die Balkanroute durch Österreich nach Deutschland reisten, erreichte gleichzeitig die Wahlkampagne für die polnischen Parlamentswahlen im Oktober 2015 seinen Höhepunkt. Ein wütender Jarosław Kaczyński, der Vorsitzende der PiS-Partei (Prawo i Sprawiedliwość) und faktisch Polens einflussreichster Politiker, verkündete damals, die Flüchtlinge brächten `Cholera, Parasiten und andere Krankheiten´ nach Europa. Kaczyńskis Äußerungen blieben nicht ohne Wirkung: Die vielen Polen, die in ihrem Leben noch nie einen Ausländer gesehen hatten, stimmten massenhaft für die national-konservative PiS, wonach diese Partei die neue Regierung bilden konnte.

    Die PiS-Regierung von Kaczyński ist momentan sehr energisch dabei, die polnische Gesellschaft in eine völlig neue, konservative, nationalistische Richtung umzukrempeln. Mit beispielloser Energie und Geschwindigkeit führt die PiS ein Gesetz nach dem anderen ein und hinterlässt dabei eine Spur von wütenden Gegnern und marginalisierten sozialen Gruppen. Parteichef Kaczyński scheint davon nicht beeindruckt. Er ist ein Mann mit einer Mission. Er spricht von der Dobra Zmiana, dem so genannten Guten Wandel, der die Überreste der kommunistischen Ära beseitigt, die - laut Kaczyński - noch immer überall in der polnischen Gesellschaft zu finden sind und ihre Umwelt wie faulende Äpfel infizieren. Weg damit! Gleichzeitig wird auch alles, was mit der neoliberalen Regierung von Donald Tusk zu tun hat, in den Mülleimer geworfen. Und Lech Wałęsa, der Held der Solidarność-Ära, in den 1980er Jahren? Der war laut Kaczyński in Wahrheit ein Spion der Kommunisten, der kann also auch mit weg.

    Seit der Machtübernahme der PiS wird alles, was nicht in das Weltbild dieser Partei passt, zur Seite geschoben. Die PiS weiß, was gut für Polen ist und was nicht. Sie weiß, wie ein guter Pole auszusehen hat: Er ist ein katholischer Familienvater, der Polnisch spricht, verheiratet ist und stolz auf seine Heimat und ihre heroische Geschichte ist.

    Alles, was von dieser Norm abweicht, ist verdächtig, wie der frühere Außenminister Witold Waszczykowski in einem Interview mit der deutschen BILD-Zeitung im Jahr 2016 deutlich machte. Es scheint, als ob sich die Welt nach dem marxistischen Beispiel automatisch nur in eine Richtung bewegen kann - in Richtung einer Mischung aus verschiedenen Rassen und Kulturen, einer Welt von Radfahrern und Vegetariern, die sich nur auf nachhaltige Energie konzentriert und jede Form von Religion bekämpft. Das hat nichts mehr mit den traditionellen polnischen Werten zu tun, sagte er. Mit anderen Worten: kein alternatives Gedöns, bitte.

    Dass Waszczykowski mit seinen Aussagen regelmäßig daneben lag, zeigte sich zum Beispiel 2017, als er bei einer Pressekonferenz in New York nach einem Besuch bei den Vereinten Nationen stolz über seine Gespräche mit Diplomaten aus rund 20 Ländern über das Ziel Polens sprach, einen vorläufigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu erhalten. Laut Waszczykowski habe er auch mit Ländern gesprochen, mit denen Polen bis dahin noch nie diplomatische Kontakte gehabt habe, wie Belize und San Escobar. Die anwesenden Journalisten runzelten die Stirn: San Escobar? Tatsächlich musste der polnische Außenminister kurz darauf zerknirscht zugeben, dass San Escobar ein nicht existierendes Land ist, das dem kreativen Geist von Waszczykowski entsprungen war. Da war es jedoch schon zu spät. Der Hohn war groß, ebenso wie die Kreativität der polnischen Social Media Community. In kürzester Zeit erschienen Wikipedia-Seiten, Fan-Sites und ganze San Escobar-Ministerien im Internet, mit eigener Flagge, Währung, Hauptstadt und eigenem Staatsoberhaupt für das kleine Land, das für manche deshalb entstand, weil Waszczykowski wahrscheinlich zu oft die Netflix-Serie Narcos gesehen hatte, in der es um den kolumbianischen Drogenhändler Pablo Escobar geht.

    Inzwischen ist Minister Waszczykowski schon wieder von der Bildfläche verschwunden, wie so viele Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens in Polen, die mit rasender Geschwindigkeit kommen und gehen. Die polnische Gesellschaft verändert sich in einem atemberaubenden Tempo. Schnell, schnell, schnell. Für viele Polen geht der Wandel aber zu schnell.

    Der politische Rechtsruck in Polen wird daher unter anderem durch die Unzufriedenheit mit der ungerechten Verteilung des Wirtschaftswachstums, die Bedrohung durch angebliche Flüchtlingsmassen und die rapiden gesellschaftlichen Veränderungen verursacht. Polen ist damit natürlich keine Ausnahme in Europa, aber - mit Ausnahme von Ungarn – schon das Land, das am weitesten geht, wenn es um seine Abschottung, seine Rhetorik und seine Gegenmaßnahmen geht. Geht das Deutschland an? Na klar, denn Polen ist eines der größten Länder in Europa. Nach dem geplanten Brexit könnte Polen neben Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien zu den Big Five gehören, aber um einen wirklichen Einfluss auf die Politik innerhalb der Europäischen Union zu nehmen, muss das Land schon über eine gute Erfolgsbilanz verfügen. Die PiS-Regierung hat aber eine ganz andere Vision als die Europäische Kommission, wie ein Rechtsstaat funktioniert, um nur eines von vielen Konfliktgebieten zu nennen. Dies führt seit Jahren zu heftigen Auseinandersetzungen mit der Europäischen Kommission. Polen droht sogar der Entzug seines Stimmrechts. Außerdem könnte das Land Milliarden Euros aus europäischen Fonds verlieren.

    Auf der einen Seite ist Polen ein hypermodernes, proeuropäisches Land mit einer vielfältigen Kultur, gut ausgebildeten Menschen und einer schnell wachsenden Wirtschaft. Gerade in den Großstädten leben international orientierte, fortschrittliche Menschen, die Verbindungen zu Europa suchen. Dieser Teil Polens wird manchmal als Polska A bezeichnet. Andererseits besteht die polnische Bevölkerung aus einem mindestens ebenso großen Teil traditionell katholisch gebildeter Menschen, die überwiegend in ländlichen Gebieten und Kleinstädten leben und unsicher über die Zukunft sind: Polska B. Für diese Menschen ist der nationalistische, konservative und oft populistische Kurs der PiS-Regierung eine Erleichterung. Polen ist daher heute ein sozial und politisch bis auf die Knochen gespaltenes Land. Politische Trennlinien ziehen sich quer durch Familien. Nicht umsonst brachte die führende linksliberale Zeitung Gazeta Wyborcza kürzlich einen Artikel mit der Überschrift: ´Wie gehe ich mit meiner PiS-wählenden Freundin um?´

    Ist die polnische Entscheidung für eine konservative, nationalistische Regierung eine vorübergehende, und wird Polen bald wieder auf den liberalen, proeuropäischen Weg zurückkehren? Oder war das letzte Vierteljahrhundert, die Zeit der Demokratie in Polen, nur ein Zwischenspiel, eine Ausnahme in der langen polnischen Geschichte? Woher kommt genau der Drang nach rechts? Dies sind einige der Fragen, die ich gerne beantworten möchte. Ich sollte mich jedoch beeilen, denn das Tempo des Wandels in Polen ist so atemberaubend, dass ein schriftlicher Text innerhalb weniger Monate veraltet sein kann. Glücklicherweise ist Polen nicht weit weg. Wenn ich früh aufstehe und den Morgenzug aus Berlin nehme, kann ich mein erstes Gespräch um halb zwei nachmittags in Warschau führen. Ich bin übrigens mittlerweile in der polnischen Hauptstadt angekommen. Es ist Zeit, auszusteigen!

    Die 93. Smoleńska

    An einem winterlichen Mittwochmorgen laufe ich durch das Stadtzentrum von Warschau. Es ist noch früh, kurz nach acht, ein grauer, feuchter Morgen in der Krakowskie Przedmieście, einer der schönsten Straßen im historischen Zentrum Warschaus. Die Innenstadt ist noch bemerkenswert leer, einige Hipster eilen tief in ihren Wintermänteln versteckt Richtung Büro vorbei. Von der Silberpalme auf der Aleje Jerozolimskie, die an die jüdische Vergangenheit der polnischen Hauptstadt erinnert, gehe ich an der Kirche des Heiligen Kreuzes vorbei, wo in einer ihrer Säulen das Herz des polnischen Komponisten Friedrich Chopin ruht. Dann komme ich zum fin-de-siècle Hotel Bristol, wo die Rolling Stones 1967 übernachteten. Bei ihrem Konzert im riesigen Palast für Kultur und Wissenschaften im Zentrum der Stadt, der von Stalin gespendet wurde, kam es damals zu Unruhen. Die Stones selbst beschlossen, ihr Honorar, in wertlosen kommunistischen Złotys ausbezahlt, in einen Zugwagen voller Wodkaflaschen umzuwandeln, der dann nach England fuhr.

    Vom Hotel Bristol aus ist die Krakowskie Przedmieście in Richtung des Präsidentenpalastes gesperrt. Grimmig aussehende Polizisten versperren den Durchgang. Über einen Umweg gelange ich in die Nähe der Karmeliterkirche neben dem Präsidentenpalast, wo ich hinter Zäunen eine Menge schwarz gekleideter Menschen sehe, vor allem ältere Menschen, viele Männer, mit Mützen und langen Mänteln. Es ist ein ausgewähltes Publikum von PiS-Anhängern, die an diesem eisigen Morgen mit Bussen aus dem ganzen Land hierher gebracht wurden. Einige Männer schwingen rot-weiße polnische Flaggen. Auch der PiS-Parteivorsitzende Jarosław Kaczyński scheint anwesend zu sein, aber der kleine Politiker ist von hier aus nicht zu sehen. Ein älterer Mann mit einem Plakat, das auf die Ermordung polnischer Offiziere bei Katyn 1940 hinweist, steht am Zaun und ruft Antoni! Wir vergessen dich nicht! Er bezieht sich auf Antoni Macierewicz, der am Vortag vom Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki als Verteidigungsminister entlassen wurde.

    Plötzlich fangen Kirchenglocken an zu läuten. Es ist 8.41 Uhr. Genau in diesem Moment, vor 93 Monaten, wurde Polen von einer Katastrophe heimgesucht. Am 10. April 2010 traf das polnische Präsidentenflugzeug mit einem schweren Schlag den Boden eines Militärflugplatzes in der Nähe der russischen Stadt Smoleńsk. Das Flugzeug zerbrach, alle 96 polnischen Insassen wurden getötet, darunter auch Präsident Lech Kaczyński. Eine polnische Tragödie war geboren, eine Tragödie, die sich mittlerweile in einen Mythos verwandelt hat.

    Was genau an diesem katastrophalen Morgen des 10. April 2010 passiert ist, wird wohl nie ganz klar werden. Es ist jedoch eine Tatsache, dass bei Tagesanbruch in Warschau eine Tupolev TU-154 mit dem polnischen Präsidenten, seiner Frau Maria, dem Präsidenten der polnischen Zentralbank, den Fraktionsvorsitzenden der beiden größten politischen Parteien, mehreren Generälen und Dutzenden anderer Würdenträger der polnischen Elite an Bord abhob. An diesem Morgen startete das Präsidentenflugzeug, um ihre Passagiere nach Katyn zu bringen, einem Ort in den riesigen sumpfigen Wäldern Russlands, wo 1940 eine Katastrophe stattgefunden hatte. Eine polnische Katastrophe. Nach dem Angriff durch Nazi-Deutschland auf Polen am 1. September 1939 griffen sowjetische Truppen Polen am 17. September von Osten an. Es war der Beginn des Zweiten Weltkriegs, und fast sechs Jahre später würde Polen aus dem Krieg hervorgehen, als ein völlig zerstörtes, ruiniertes, vernichtetes, reduziertes und faktisch von den Sowjets dominiertes Land. Vor dieser Zeit, Anfang 1940, transportierte die sowjetische Armee nach Überfällen im ganzen Land einen großen Teil der polnischen Intelligenz in Richtung Osten. Tausende von Offizieren, Ärzten und Intellektuellen wurden aufgegriffen. Zehntausende von Polen wurden 1940 nach Kasachstan und Sibirien deportiert. Stalin konnte diese polnische Intelligenz nicht gebrauchen, er sah sie als potenzielle Feinde. Deshalb wurden neben den Deportationen rund 22.000 Mitglieder der polnischen Bourgeoisie an verschiedenen Orten in der Sowjetunion erschossen. Mindestens 4.400 von ihnen, hauptsächlich Offiziere der polnischen Armee, wurden im Auftrag des russischen Geheimdienstes NKVD in den Wäldern um Katyn hingerichtet. Die Leichen wurden in Massengräbern verscharrt. Sand darüber. Weg damit. Ende der Geschichte.

    Das war wenigstens der Plan. Nach dem Zweiten Weltkrieg schoben die Sowjets den Massenmord in Katyn den Nazis in die Schuhe. Schließlich waren es doch die Deutschen, die den Zweiten Weltkrieg begonnen waren, die die Polen so brutal ermordet hatten? Der kommunistische Propagandaapparat gab sein Bestes: Es waren die Nazis gewesen, und damit Schluss. Kein Pole jedoch, der diese Geschichte aus Stalins Propagandamaschinerie glaubte. Im Jahr 1940 waren die Deutschen ja noch gar nicht in die Sowjetunion vorgedrungen, jeder Pole wusste das. Die sowjetische Lüge über Katyn ist einer der Gründe, warum viele Polen auch heute noch viel Hass auf Russland haben. Es ist nicht der einzige Grund: Die Teilung Polens am Ende des achtzehnten Jahrhunderts, zwischen Preußen, dem Habsburgerreich und Russland ist ein weiterer Grund für die schwierigen Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Und so gibt es noch viel mehr…..

    Nach der politischen Revolution von 1989 tauten die Beziehungen zwischen Polen und Russland auf. Anfang der 90er Jahre war es endlich soweit: Der russische Präsident Boris Jelzin gab zu, dass nicht die Deutschen, sondern die Russen für die Morde in Katyn verantwortlich waren. Eine Phase der Entspannung, der Versöhnung begann. Zwei Jahrzehnte später, im Jahr 2010, waren die Beziehungen zwischen Polen und Russland besser denn je: auch Präsident Putin räumte die Schuld der Russen für die Morde in Katyn ein.

    Es war ein nebliger Morgen, der 10. April 2010, als das polnische Präsidentenflugzeug auf die Landebahn des Militärflughafens bei Smoleńsk absank. Der Flughafen wurde normalerweise nicht genutzt, aber es war die nächste Start- und Landebahn, um nach Katyn zu gelangen. Der Fluglotse riet von der Landung ab. Die Sicht war schlecht, die Beleuchtungsanlage funktionierte nicht richtig. An Bord des polnischen Regierungsflugzeugs galt jedoch: eine Rückkehr kommt nicht in Frage, wir müssen unbedingt zur Trauerfeier nach Katyn. Das Flugzeug versuchte zu landen, traf mit einem Flügel eine der Birken entlang der Landebahn, woraufhin der Pilot die Kontrolle über das Flugzeug verlor. Die Maschine stürzte ab und brach in Stücke. Alle Insassen starben, es gab 96 Tote. Der polnische Präsident war gestorben. Auf russischem Boden. Bei einem Versuch, anderer Polen zu gedenken, die auf russischem Boden ermordet wurden. Polen hatte eine neue Tragödie, neue Helden, einen neuen Mythos.

    ……………………

    Der Absturz des Präsidentenflugzeugs war ein Schlag, der Polen noch Jahrzehnte lang beschäftigen wird. Sie beeinflusst nach wie vor die polnische Politik. Es gab eine Zeit vor und eine Zeit nach der Flugzeugkatastrophe. Polen ist die Smoleńsk-Nation geworden.

    Lech Kaczyński, Polens gestorbener Präsident, hat einen Zwillingsbruder, Jarosław. Zum Zeitpunkt des Absturzes war er Vorsitzender der wichtigsten politischen Partei Polens, der PiS, was er heute noch immer ist. Jarosław Kaczyński, zerrissen durch den Schmerz über seinen verstorbenen Zwillingsbruder Lech, forderte monatliche Trauerfeiern nach der Flugzeugkatastrophe. Diese Trauerfeiern sollten mindestens 96 Monate hintereinander stattfinden, ein monatliches Gedenken für die 96 Opfer der Katastrophe. Die Trauerfeiern werden mittlerweile als Smoleńska's bezeichnet. Nach Ansicht polnischer Wissenschaftler haben die Treffen mittlerweile starke Ähnlichkeiten mit religiösen

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