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Das letzte Geheimnis: Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht: Eine Generationen-Saga: Roman
Das letzte Geheimnis: Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht: Eine Generationen-Saga: Roman
Das letzte Geheimnis: Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht: Eine Generationen-Saga: Roman
eBook1.031 Seiten14 Stunden

Das letzte Geheimnis: Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht: Eine Generationen-Saga: Roman

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Über dieses E-Book

Von der Geschichte einer Volksminderheit, die zwischen die Welten der Katharina der Großen und des Diktators Stalin geraten war und als Ethnie zugrunde ging. Aufgrund der Familien-Erinnerungen, der Recherchen im Familienstamm und der Weltgeschichte sowie eigenen Erfahrungen konnte der Autor die Jahre des relativ wohlhabenden Lebens der Deutschen im Russischen Reich schildern. Ebenso wird das traurige Schicksal ihrer Nachfahren in der Sowjetunion geschildert, das mit der Ausrottung des Deutschtums im heutigen Russland endet.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. Sept. 2014
ISBN9783837252088
Das letzte Geheimnis: Wenn die Hexe einmal die Wahrheit spricht: Eine Generationen-Saga: Roman

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    Buchvorschau

    Das letzte Geheimnis - Artur Grüner

    waren

    Prolog

    Was ist passiert mit der ca. dreieinhalb Millionen starken deutschen Minderheit in der vorigen UdSSR? Warum hat sie sich bis auf einige hundert Tausend Menschen mit der deutschen Abstammung, die zurzeit noch im Land geblieben sind, aufgelöst?

    Deutsche aus Russland oder einfach die „Russen", wie sie von den Einheimischen oft genannt werden, die in den letzten zwanzig – dreißig Jahren in die Bundesrepublik kamen und noch kommen: Wer sind sie, von wem stammen sie ab und warum flüchten sie aus der Sowjetunion und dem heutigen Russland oder den ehemaligen Sowjetrepubliken?

    Warum haben einige von ihnen Schwierigkeiten mit der eigenen Muttersprache, warum sprechen sie untereinander mehr Russisch, obwohl doch klar ist, dass dies der sehr erwünschten Integration nicht dienlich ist?

    Was ist mit den Nachkommen der einmal aus den deutschen Fürstentümern ausgereisten gottesfürchtigen Christen in den mehr als zweihundert Jahren an der Wolga oder an der Küste des Schwarzen Meeres geschehen? Warum ist vielen von ihnen der väterliche Glaube verloren gegangen?

    Aus welchen Gründen wurden sie aus den vor hundert Jahren bewohnten Gegenden, die sie von vorigen wilden Steppen zur Kornkammer des Landes umgewandelt haben, immer mehr nach Osten getrieben? Warum waren sie aus ihren Kolonien, in denen sie kompakt lebten, ihre Sprache, Kultur und Religion, ihre Sitten und Bräuche pflegen konnten, in dem riesengroßen Land unter den anderen Völkern „verstreut" und auf diese Art und Weise der Assimilation ausgesetzt worden?

    Wer hat für Tausende von ihnen als die letzte erbärmlichste Stätte auf der Erde die verschneiten, kahlen Ufer des großen Flusses Jenissei bestimmt, auf denen sie sterben mussten? Warum mussten sie in den „Arbeiterarmeen", die dem fürchterlichen GULAG unterstellt wurden, massenhaft sterben?

    Warum konnten die ersten Familien nach Deutschland nur nach dem Jahr 1961 kommen, und zwar nur Einzelne, und zwar nur im Rahmen der Familienzusammenführung, obwohl das Bundesvertriebenengesetz schon 1953 in der Bundesrepublik in Kraft trat, das auch die Aufnahme von Deutschen aus der UdSSR ermöglichte? Warum hatte dieses Gesetz damals für die in der Sowjetunion lebenden Deutschen keine praktische Bedeutung gehabt? Warum bedurfte es noch einiger Jahrzehnte, bis der Einwanderungsprozess in die Bundesrepublik seinen Lauf aufnehmen konnte?

    Warum haben die Deutschen in Russland den Kampf um ihre Staatlichkeit an der Wolga verloren? Aus welchen Gründen wurden sie noch zehn Jahre nach dem Krieg, als alle ausgesiedelten Völkergruppen zu ihren bewohnten Höfen zurückgekommen waren und ihre vorige Staatlichkeit bekommen hatten, immer noch unter der Spezialkommandantur in den Aussiedlungsorten zwangsansässig mit einem Freiheitsareal von fünf Kilometern gehalten?

    Man konnte die Maßnahmen der Regierung berücksichtigen, als in dem größten Kampf gegen das faschistische Deutschland die blutsverwandte Diaspora, die potenziellen Verräter, wie sie von dem kommunistischen Regime gehalten wurden, in die östlichen Gebiete umgesiedelt wurden. Nachdem ganze militärische Einheiten der Roten Armee auf die Seite der Deutschen übertraten, konnte die Regierung gewiss nicht sicher sein, dass es auch die zivilen Deutschen nicht machen werden.

    Was die Hurra-Patrioten der Sowjets aus der deutschen Diaspora in Russland jetzt von ihrer Treue zu dem kommunistischen Regime schreiben, ist sehr zu bezweifeln. Nach den unendlichen Repressalien, die mit dem Roten Terror schon gleich nach der Revolution angefangen und alle Jahre bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im Land stattgefunden haben, konnten die Kommunisten keine Treue von den Deutschen erwarten, vielleicht von Einzelnen, die selbst Kommunisten waren und in der kommunistischen Obrigkeit, im Geheimdienst und anderen staatlichen Strukturen beteiligt waren.

    Also, vonseiten der Regierung kann man die Deportation der Deutschen weiter weg von der Frontlinie gut verstehen. Es wurde in ähnlichen Situationen auch in vielen anderen Ländern gemacht. In den Vereinigten Staaten wurden die dort lebenden Japaner, obwohl sie Zigtausende Kilometer von dem Theater der Schlachten entfernt waren, auch in Reservate eingesperrt.

    Aber warum musste man alle Männer und auch viele Frauen in die Arbeitslager einschließen, wo fast die Hälfte von ihnen sterben musste? Als alle russischen Männer zum Wehrdienst einberufen waren, konnten die deutschen Männer gute Leistungen in der Wirtschaft erbringen, jeder dort, wohin er ausgesiedelt war, wo es an fleißigen Händen mangelte.

    Nein, sie mussten in die Lager, was ganz einfach war, sie in die Eisenbahnwaggons einzusperren und in die Arbeitslager zu bringen, aber die Verpflegung, für die, und nur für die, sie arbeiten mussten, war viel schwerer herzustellen. So mussten die Leute hinter dem Stacheldraht schon in den ersten Monaten einfach verhungern.

    Und mehr noch: Die umgesiedelten Deutschen wurden nach dem Krieg noch mehr an die angewiesenen Orte gebunden. Für sie wurde durch den Erlass aus dem Jahr 1948 die Strafe für das Verlassen (Fluchtversuch) des vorgeschriebenen Orts von fünf bis zwanzig Jahre Straflager erhoben.

    Nur in engem Zusammenhang mit der herrschenden Ideologie und der Staatspolitik, die von einem einzigen Menschen, dem damaligen Alleinherrscher des Landes – Josef Stalin – bestimmt war, kann man die tragische Geschichte des Volkes verstehen.

    Die politischen Prozesse gegen seine vorigen Mitstreiter, die später zu seinen Gegnern erklärt wurden, waren ein Präludium zu dem großen Groll und Donner, indem er alle unzuverlässigen Völker in die Verbannung geschickt hatte. Und für die Deutschen in der Sowjetunion hat er das größte Gefängnis der Welt aufgebaut. Das ganze Land östlich des Uralgebirges wurde nach seinen Plänen durch die verstärkte Spezialkommandantur in ein riesiges Gefängnis für die ehemaligen Bürger des Landes verwandelt.

    Und wozu? Hier liegt das größte Geheimnis des Diktators, das letzte Geheimnis. Das Geheimnis, das auch die besten Köpfe der Diaspora, die bis zuletzt für die Wiederherstellung der Wolgarepublik kämpften, nicht verstehen konnten. Das Geheimnis, das nur durch seinen plötzlichen Tod nicht in Erfüllung kommen konnte, aber viele schwere Folgen für die Deutschen in Russland gebracht hatte.

    Um die Grausamkeit der letzten siebzig Jahre zu erfassen, muss man am besten die ganze Geschichte des Volkes betrachten. Mit großer Wahrscheinlichkeit kann man dann das Schicksal des Volkes verstehen; des Volkes, das der Diktator als die „Fünfte Kolonne" betrachtete und das in seinen gierigen Bestrebungen zur Weltmacht eine potenzielle Schwierigkeit für ihn darstellen konnte.

    Einleitung

    Die „Parade" mit dem einzigen Zuschauer

    Am 16. September 1941, Siedlung Djiginka, Kaukasus

    Der Kleine wachte von einem ungewöhnlichen Lärm auf, der von der Straße kam. Er sprang auf und kleidete sich schnell an. Er zog ungeduldig die langen Strümpfe mit den Gummibändern an den Oberschenkeln an, das kurze, schwarze Höschen, ein weißes, kurzärmeliges Hemdchen, knöpfte ganz mechanisch die über die Schulter von hinten nach vorne geworfenen Hosenträger an den Gurt der Hosen an, schlüpfte schnell in die nagelneuen, vorige Woche gekauften Schuhe hinein und war fertig.

    Von Ungeduld überfüllt, verzichtete er auf das Gesichts- und Händewaschen, was für ihn gar nicht gewöhnlich war. Er sah, dass Mama sich in der Küche mit dem Ernstele beschäftigte, und schlich sich unbemerkt auf den Hof. Er wollte keine Minute verlieren. Er rannte zum Tor, stolperte, sprang auf und blieb plötzlich stehen.

    Was sich seinen Augen jetzt präsentierte, wird zu der größten Überraschung seines Lebens gehören: Mitten auf der Hauptstraße marschierten Soldaten. Ganz richtige, ganz natürliche Soldaten gingen im Zug entlang der Straße. Keine aus Holz vom großen Bruder Harry geschnitzten Soldaten, mit denen er zu Hause spielte, sondern die richtigen, natürlichen, lebendigen Soldaten.

    Und diese Soldaten waren in grüne Uniform gekleidet, hatten richtige Soldatenstiefel an, trugen grüngefärbte Stahlhelme, hatten Gewehre und Maschinengewehre, die vor der Brust auf grünen Riemen hingen und, man konnte es merken, schwer auf die Schulter drückten. Die Soldaten gingen im schweren Marsch mit voller Ausrüstung, mit den Rucksäcken und gerollten Mänteln über den Schultern, in größter Ordnung, acht Mann in der Reihe, sodass die ganze Breite der Straße benutzt wurde.

    Am Kopf jeder Kompanie marschierten Offiziere in gleicher Müdigkeit wie die Soldaten und auch in den eigenen Gedanken versunken. Sie waren auch in der grünen Felduniform, aber mit den Offiziersabzeichen an den Zapfen der Halskragen. Sie trugen bessere Stiefel, hatten leichtere Ausrüstung, keine Rucksäcke und keine gerollten Militärmäntel. Jeder Offizier hatte eine Pistole an der rechten Seite und einen großen Säbel an der linken. Jede Kompanie wurde von zwei oder drei Offizieren geführt.

    Dieser Zug spiegelte sich in den Augen des Kleinen als eine richtige Parade wider. Aber warum haben alle so einen müden, schweren, so einen in sich versunkenen Ausdruck? Wovon haben die Soldaten und auch die Offiziere, die im Vergleich zu den Soldaten fast ohne Last marschieren, am Rücken zwischen den Schulterblättern so große Schweißflecken mit ausgetrockneten Rändern, die von Salzablagerungen wie silberne, landkartenähnliche Figuren in der Sonne glänzen?

    Der Kleine merkte gar nicht, dass er sich am Rande des Abwassergrabens auf den Boden setzte und beobachtete, wie diese in die Wehruniform eingesteckte Menschenmasse entlang der Straße strömte. Ihm wurde klar, dass sich die Soldaten schon viele Stunden auf solch einem Marsch befanden, sie waren einfach müde. Es war auch klar, dass jeder von ihnen in schweren Gedanken versunken war. Niemand hat einen Blick auf das Kind geworfen, von keinem kam ein Lächeln.

    Nur in einem Moment hat ein älterer Soldat eine Seite seines grauen Schnurrbarts etwas hochgezogen und die Pupille des linken Auges in Richtung des Jungen verlegt. Aber er hatte nichts gesagt, gar nicht gelächelt, er ging einfach großen, schweren Schrittes weiter. Die Hände hat er auf das Gewehr gestützt, das bei ihm wie auch bei den anderen vorne in der Brusthöhe an einem grünen Riemen hing. Er musste sich beeilen, um den Kameraden nachzukommen.

    Die Hauptstraße zog sich in einer flachen Kurve nach links und hoch, und in der ganzen Sichtweite konnte er diese Kolonne aus Hunderten gleichen, vom Schweiß durchnässten Uniformhemden und aus Hunderten grünen Stahlhelmen sehen. Und je weiter sich die Kolonne entfernte, desto weniger konnte er die Rücken der Soldaten sehen. Es kamen immer mehr nur die grünen Stahlhelme in den Schein, die wie Schuppen von einem riesigen Drachen, der auf die Anhöhe krabbelt, unter den Sonnenstrahlen glänzten.

    Aber jetzt kam noch eine größere Überraschung – riesige, kupferbraune Pferde, im Viergespann, schwer mit den Hufen auf die Pflaster der Straßenoberfläche schlagend, sodass Funken flogen, zogen schwere Kanonen auf zweirädrigen Gestellen; Kanonen mit geschirmten Laufgängen. Dass die Pferde wie auch die Leute von dem langen und schweren Marsch ermüdet waren, konnte man an ihren Rücken und den Seitenflächen sehen, die vom Schweißschaum bedeckt waren, der von ihnen in Strömen hinunterfloss.

    Der Treiber des ersten Viergespanns, der am Rande der Straße mit einer langen Leine ging, stimulierte die Pferde, indem er ständig die Zügel kurzerhand betätigte und das Ganze unter Kontrolle hielt. Das konnte man erkennen, als er blitzschnell auf ein Pferd schlug, welches auf dem Steinpflaster mit dem Hufen ausrutschte und fast aus dem Rhythmus der Bewegung kam.

    Nach den Viergespannen kamen von rechts Sechsgespanne mit einem Vorreiter auf einem der ersten Pferde auf die Straße und noch einem Soldat als Treiber auf dem vierrädrigen Gestell der noch viel größeren Kanone. Diese Kanonen hatten so lange Schießläufe, dass sie kaum in die Kurve der Straße passten.

    Nach diesen „Ungeheuern erblickte man noch mehr interessante Dinge: Ein starkes, braunes Pferd zog ein Zweiradgestell mit der Feldküche. Dieses Pferdegespann sah aus wie ein breites, eisernes Fass, das stehend auf zwei Rädern angebracht war. Dieses „Fass hatte unten einen Herd und oben einen großen Kessel. Der Herd wurde von hinten geheizt. Der Deckel des Kessels war offen, und aus ihm kam ein leichter, wolkenartiger Dampf heraus.

    Dieser fahrende Herd hatte ein Treppchen, auf dem der Koch stand. Er stand mit dem Gesicht zu dem Jungen. Es war ein Soldat mit einem weißen Rock über der Uniform. Er hatte auch die besonders hohe, weiße Kochmütze an. Er sagte etwas dem anderen Soldaten, dem Treiber, und fing an, mit einem großen Holzspaten energisch mit beiden Händen, wie mit einem Ruder, im Kessel zu rühren. Der andere Soldat befestigte die Leine an seinem Sitz, sprang herunter, öffnete den Herd, nahm von einem Haken einen eisernen Krückstock ab, klopfte auf die Kohle und löschte die Flamme.

    Der Brei darf nicht anbrennen, merkte sich der Kleine. Die Feldküche näherte sich dem Jungen, und er verspürte in der Nase diesen Geruch des besonderen Aromas von einem Gerstenbrei, der in einem großen Kessel mit echter Tafelbutter gekocht wird, wie Mama das macht, wenn sie für die ganze Familie kocht, nicht nur ein bisschen für den Kleinsten, den Ernstele, in einem kleinen Topf.

    Der Geruch aus dem Kessel erinnerte den Kleinen, dass er noch nicht gefrühstückt hatte, und Mama merkte auch schon vielleicht, dass der Kleine im Zimmer fehlt. Sie ist streng zu solchen unerlaubten Dingen, aber er konnte die Beobachtungen nicht unterbrechen. Es kamen immer neue und spannende Szenen vor. Der Feldküche folgte der Wagenzug. Die Zweigespannwagen waren vollgeladen und mit grünen Planen bedeckt. Auf jedem Wagen saß ein Treiber, und die Pferde schleppten die Wagen mit größter Anstrengung bergauf.

    Und wieder kam aus der Biegung der Straße von rechts eine neue Einheit von Soldaten mit den Offizieren an der Spitze, und wieder der schwere, rhythmische Schritt, ohne auf das Pflaster zu schlagen, wie es zu den Paraden gehört, aber ein gleichmäßiger Rausch vom gleichzeitigen Anschleifen des Straßenpflasters von einigen Hundert linken Füßen, dann einigen Hundert rechten, dann wieder linken, dann wieder rechten, ein rhythmisches Geräusch von Hunderten Galife-Hosen – schick-schick, schick-schick –, als ob es eine gewaltig große Maschine wäre, die von einer großen Not durch den gewaltigen Willen von jemandem in Bewegung gesetzt wurde.

    Und wieder ein Meer von sich entfernenden Rücken mit den salzigen Flecken und wieder ein Meer von den grünen, in der Sonne glänzenden Stahlhelmen. Und es fiel nie ein Befehl, es kam nie ein Wort von jemandem. Einfach Soldaten auf dem Marsch.

    Unglücklicherweise war niemand dabei, der das Erstaunen des Kleinen teilen könnte. Ach ja, alle sind doch zu dieser Zeit in der Schule, dachte er, die beiden großen Brüder, Harry und Leo, und auch der Helmut, der Onkel, der aber auch noch ein Junge ist, so wie Harry. Auch Papa ist in der Schule, er ist doch der Lehrer. Nur Mama mit dem Kleinsten ist zu Hause. Ich muss Mama rufen, sie muss das doch auch alles bewundern, kam dem Kleinen ein Gedanke, aber er konnte sich von diesem interessantesten Geschehen einfach nicht ablenken lassen.

    Und da kam auch die Mama: Sie betrat nicht die Pforte, sie rief ihn über den Zaun: „Komm, Söhnele, du hast doch schon genug gesehen. Es ist Zeit, das Frühstück zu sich zu nehmen, danach kannst du noch weiter gucken, aber besser über den Zaun."

    Als sie über den Hof gingen, holten sie die Tante Rosa ein, die in den Kuhstall mit einem Eimer voll Viehgetränk eilte.

    „Tante Rosa, Tante Rosa, rief der Kleine, „hast du schon die Soldaten gesehen?

    „Ach ja, antwortete sie, „schon ganz früh am Morgen, noch vor dem Melken, da zogen sie schon vorbei.

    „Und Onkel Otto, gab der Kleine nicht nach, „hat er sie auch gesehen?

    „Na ja, gewiss doch, Onkel Otto steht doch ganz früh schon mit den Hühnern auf, er hat sie bestimmt schon gesehen."

    „Aber, Richard und Ottele, haben sie sie auch gesehen? Vor Entsetzen kamen dem Kleinen schon bald die Tränen aus den Augen. „Und Agathe?, rief er mit letzter Hoffnung aus.

    Tante Rosa hat endlich verstanden, wozu die Befragung des Kleinen führt, und antwortete mit leichtem Lächeln, das auch an Amilde, die Mutter des Kleinen, gerichtet war: „Nein, Agathe hat noch nichts gesehen."

    Sie hat den Eimer abgestellt, drehte sich dem Kleinen zu und sagte: „Sie schläft noch, aber bald wird sie aufstehen. Ich habe gehört, Mama hat dich zum Essen gerufen, geh ruhig herein. Nach dem Frühstück kannst du noch zuschauen und der Agathe auch alles zeigen und erklären. Ich denke, sie versteht von den Soldaten nicht so viel wie du."

    „Ja, komm jetzt, sagte Mama. „Du kannst noch lange Zeit diesen Zug beobachten, sie gehen schon die ganze Nacht und werden bestimmt noch eine Weile gehen müssen. Das ganze Dorf war heute Morgen auf der Straße, alle haben sich das schon genug angeschaut, aber jetzt sind die Leute zur Arbeit gegangen und die Kinder in die Schule.

    „Mama, aber wohin marschieren sie denn?", fragte er die Mutter, die ihn an der Hand leicht ziehen musste, weil er sich immer wieder zur Straße drehte.

    „Das können und dürfen wir nicht wissen, nur die Befehlshaber wissen das, und die Soldaten folgen den Befehlen, sie gehen dorthin, wohin sie geschickt werden."

    „Mama, hast du gesehen, dass ein Soldat im Zug gleich unterwegs den Ofen geheizt hat und der andere im großen Kessel Brei gekocht hat?"

    „Ja, ja, mein Lieber, auch das hat sich schon einmal wiederholt."

    Nach dem Frühstück hat Mama dem Kleinen nicht mehr erlaubt, auf die Straße zu gehen. Er musste sich mit dem Anschauen der Kolonnen durch die Gitter der Pforte begnügen, aber jetzt hatte er noch eine Zuschauerin, die kleine Cousine Agathe, die noch ganz klein war, ein ganzes Jahr jünger, also nur vier Jahre alt, und der er noch vieles erklären musste.

    Und noch lange Zeit, nachdem Agathe von Tante Rosa abgeholt war, träumte er und spielte jetzt mit „seinen" echten Soldaten, eben mit denen, die auf der Straße im Feldzug marschierten.

    In seinen Spielgedanken erteilte er der Infanterie und der Artillerie Befehle, er stellte einige von den großen Kanonen an dem hohen Ufer von Kuban auf, dem Fluss, der sich gleich hinter dem Dorf zwischen den Feldern und Hügeln schlängelte. Er richtete sie auf den Feind, der sich im Schilf der Flussniederung an dem anderen Ufer versteckt hatte, das wusste er genau.

    Endlich gab er einige Salven ab, nachdem der Feind ganz und gar erschlagen wurde. Nur einige Soldaten der feindlichen Armee konnten sich retten, aber sie hatten Angst und liefen und liefen in die unendlichen Weiten.

    Plötzlich erinnerte er sich, dass die Soldaten nach dem langen und schweren Marsch ermüdet und hungrig sind. Er verordnete einen Halt und befahl dem Koch, jedem Soldaten eine gute Portion von dem so schmackhaft duftenden Brei zuzuteilen. Nach seinem Befehl mussten die Treiber jedem Pferd ein Maß Hafer aus dem Wagenzug geben und auch die Pferde tränken.

    Mit dem Tränken gibt es eine Besonderheit: Sie müssen nicht gleich nach dem Marsch getränkt werden, sondern nachdem sie sich abgekühlt haben und mit dem Fressen des Hafers fertig sind. So wie das Onkel Otto jedes Mal macht, wenn er von der Feldarbeit zurückgekommen ist. Und Onkel Otto weiß Bescheid in diesen Sachen. Nicht umsonst ist er der Wirtschaftsleiter der Schule.

    Gewiss hat der Kleine nicht vergessen, die Wachposten für die Zeit der Rast aufzustellen, und er hat auch vorgesehen, dass der starke Dorfzaun aus den Backsteinen als ein gutes Versteck für die rastenden Soldaten dienen kann für den Fall, dass der Feind einen unerwarteten Überfall vornimmt. In Gedanken hat er die Schlachten wiederholt, die er mit den Brüdern gespielt hatte. Aber jetzt hat er nicht die von Harry aus Holz geschnitzten Soldaten, sondern die echten, ganz lebendigen Soldaten.

    Abends konnte sich der Kleine gar nicht mehr daran erinnern, wie der Vater und die Jungs aus der Schule zurückgekommen sind, wie das Mittagsessen und das Abendbrot eingenommen wurden und wie er zu Bett gegangen war. Er konnte lange nicht einschlafen, seine Gedanken kreisten um das, was er auf der mit Backstein gepflasterten Hauptstraße des deutschen Dorfes Djiginka gesehen hatte.

    Diese unendliche Flut von Infanterie, Artillerie und Wagenzug hat alle anderen Überraschungen in seinem noch so kurzen Leben übertroffen; alle Erlebnisse, die mit der Familie, dem Hof und dem Dorf verbunden waren.

    Das Gesehene und Erlebte waren so ungewöhnlich, so eindrucksvoll und stark, dass es sich in sein Gedächtnis für das ganze Leben lang eingeprägt hat. Jahre später kommt dem Jungen das Verständnis, dass die von ihm beobachtete „Parade" keine Parade in dem richtigen Sinne des Wortes war, sondern ein schwerer Marsch von Tausenden Soldaten und Offizieren zur Front, zum Krieg, zum Leiden, zum Tod.

    Für den Kleinen war es ein unvergessliches Schauspiel, aber in Wirklichkeit war es nur eine Vorbereitungsepisode zu der Schlacht, die sich auf der Hälfte der Erdkugel abspielen würde. Der Kleine sah nur einen Funken von der Bombe, die die Welt in ein Flammenmeer versetzte.

    Die Explosion dieser Bombe namens Zweiter Weltkrieg bringt noch so viel Entsetzen, Leid und Tod mit sich, wie es die Menschheit in der Weltgeschichte noch nie erleben musste. Dieser Krieg wird die Menschen Millionen Leben und denen, die die Plage überstehen werden, viele qualvolle Leiden kosten.

    Die Veränderungen, die mit dem Ausbruch des Krieges auf die Familie des Kleinen und auch auf die ganze deutsche Volksminderheit der Sowjetunion, die den Sammelnamen „Russlanddeutsche" bekommen hatte, zukamen, förderte später den Kleinen, nein, nicht den Kleinen, aber den erwachsenen Mann, sich an die Quellen seiner Diaspora zu wenden und die Geschichte und das Schicksal dieser zu erforschen.

    Aber das kommt später, das kommt viel später, und jetzt wird das Jahr 1941 geschrieben, und der Krieg hat schon eine dreimonatige Tragödie ausgeübt. Der Krieg hat sich auch im Hinterland, in dem deutschen Dorf in Russland, gemeldet, zuerst in Form der Verlegung der berühmten Taman-Division näher zu der Frontlinie und schon bald in der Evakuierung der Familie und aller Deutschen aus dem Dorf nach Osten.

    Noch zu Hause

    Und wieder musste die Mutter den Kleinen an der Hand nehmen, ihn von dem Zuschauen weg überreden und durch den Hof ins Haus führen. Der Kleine liebt diesen Hof, in dem es ihm auch ohne heutiges Geschehen schon immer sehr schön und bequem war. Und das Leben des Kleinen wie auch der anderen Kinder und Erwachsenen schien in diesem Hof sehr gut und glücklich zu sein. Er wurde von allen geliebt, von Mama, von Papa und auch den Brüdern.

    Hier, in diesem Hof, spielt er mit den anderen Kindern und am meisten mit der Agathe, der er heute die Parade erklärte. Wie immer ist auch heute Vormittag Mama in den Hof mit dem Kleinsten gekommen, mit dem Ernstele. Sie breitete auf dem Gras eine Decke aus, und er krabbelte dann wie immer da herum, und der Kleine muss dann auf ihn aufzupassen.

    Nur heute wollte er es nicht machen, das ewige Aufpassen, aber der Zug der Soldaten ist zu Ende gegangen, und dem Kleinen ist nichts übrig geblieben, als seine übliche Pflicht wieder aufzunehmen. Also aufpassen, dass der Kleinste nicht von der Decke herunterrutscht. Das frische Gras macht Flecken auf seinen Kleidern, die sich schlecht abwaschen lassen, sagt Mama.

    Aber das richtige Leben im Hof fängt erst am Nachmittag an, wenn alle aus der Schule gekommen sind. Dann kommen in den Hof die Brüder Harry und Leo, Onkel Helmut, der so groß wie Harry ist und gar nicht wie ein Onkel aussieht, dann noch die Kinder von Onkel Otto. Ein echter Onkel, wie er auch sein muss, größer als Papa, und Tante Rosa, dann Richard und der Ottele, der kleine Otto, den alle „Ottele" nennen, damit man doch verstehen kann, von welchem Otto die Rede ist, dem Vater oder dem Sohn. Ja, und noch die Agathe, aber von der war ja schon die Rede.

    Ehrlich gesagt, gibt es noch Spielkameraden, eben die zwei Kinder aus dem Nachbarhof: den Petja und die Anja. Sie heißen so, weil sie Russen sind, aber sprechen so wie er, Mama sagt, Deutsch. Diese zwei kommen öfters vormittags, und nicht durch die Pforte, sondern durch den Bretterzaun, der die Höfe trennt. Die Mama von diesen Kindern hat ein Brett gelockert, sodass man das untere Ende zur Seite wegschieben kann. Dann öffnet sich ein Loch, durch das ein Kind auf die andere Seite krabbeln kann. Wenn man das Brett loslässt, hängt es wieder an seinem Platz, und niemand weiß, dass es hier so ein Pförtchen gibt. Gewiss ist dieser Durchgang nur für die kleinen Kinder vorgesehen, die Erwachsenen können hier nicht durchkommen.

    Und die Kinder kommen fast jeden Tag, weil es ihnen in ihrem Hof langweilig ist. Hauptsächlich kommen sie hierher, weil dieser Hof viel größer ist als ihrer und da auch eine kleine Wiese mit grünem Rasen ist und auch die großen Steine, auf die man hinaufklettern und hinter denen man sich auch verstecken kann, und Obstbäume und ein großer, viereckiger Tisch mit Bänken an allen vier Seiten und eine Schaukel und auch ein Sandkasten.

    Daher kommen in dieses Haus und Hof ab und zu auch Gäste, so wie das letzte Mal Oma Wilhelmine mit dem Helmut. Oma ist nach einer Zeit wieder weggefahren, aber Helmut ist geblieben. Er ist auch sehr freundlich, und der Kleine hat Spaß, mit ihm zu spielen.

    Noch früher war auch noch eine Oma zu Gast, die Oma Berta mit ihrem Sohn Johann. Ein ganz großer Junge, noch größer als Harry. Der war immer sehr ernst und hat gar nicht mit dem Kleinen gespielt. Sie waren auch nur eine Weile da, dann sind sie nach Hause, wie Mama gesagt hat, zurückgefahren.

    Und einmal kam zu uns die Tante Helma mit einem Jungen, der auch so heißt wie unser Leo und auch so alt ist, beide sind sie neun Jahre alt. Sie kamen von ganz weit, Mama hat gesagt, aus Sibirien. Es ist schrecklich weit und dort auch sehr kalt, weil überall Schnee liegt. Sie waren auch nicht so lange da und dann sind sie auch weggefahren.

    Als sie noch bei uns waren, hatten wir sehr warmes Wetter. Alle waren im Hof, und Papa hat von uns allen ein Foto gemacht. Alle wollten sich auf den großen, runden Stein setzen, aber sie sind immer wieder abgerutscht, so haben alle gelacht. Endlich waren alle auf dem Stein, und Papa hat uns geknipst, und so sind wir auch auf dem Bild, alle sind lustig und lachen aus vollem Gesicht. Und einmal sind wir alle zum Fluss Kuban gegangen.

    Ja, das muss man doch erklären: Dieser Hof, der zu der Welt des Kleinen gehört, ist der Hof von dem Lehrerhaus, weil der Vater des Kleinen doch der Lehrer ist. Das Lehrerhaus ist sehr groß, und da wohnen zwei Familien, zwei ganz eng verwandte Familien, weil Papa Reinhold und Tante Rosa leibliche Geschwister sind.

    In diesem großen Hof hat der Kleine sein ganzes Leben verbracht, mit Ausnahme der vielleicht ersten anderthalb Jahre, als er doch noch nichts verstanden hat und ihm es egal war, wie und wo er dann lebte. Aber jetzt ist er hier der Wichtigste, und alle, die in den Hof kommen, möchten mit ihm spielen.

    So fließt sein Leben zwischen seinem Haus und dem Haus von Tante Rosa und Onkel Otto, das auch in diesem Hof ist, unter den vielen Verwandten, die den Hof beleben, dann noch die Kinder von dem Nachbarhof und die wenigen Ausflüge in das Dorf, wenn Mama mit ihm und dem Ernstele in dem Kinderwagen zum Einkaufen geht.

    Besonders interessant ist der Hinterhof, weil da die Ställe für das Vieh und die Pferde gleich in der Nähe stehen und die Felder und die Gemüsegärten schon weiter weg liegen. Der Kleine sieht hier jeden Tag die Tante Rosa und den Onkel Otto, die in dem hinteren Teil des Hauses leben und sich jeden Tag mit dem Vieh und dem Garten beschäftigen. Und es ist doch auch verständlich, sie sind für den Wirtschaftshof der Schule zuständig.

    Tante Rosa bringt die kleine Agathe in den Hof und übergibt die Verantwortung dem Kleinen, der auch auf sie gut aufpassen muss. Und jedes Mal hat sie etwas Leckeres in den großen Taschen ihrer Schürze. Jedes Mal bekommt er von ihr ein Gebäck oder eine Praline oder noch etwas Schmackhaftes. Gewiss muss man dann auch auf das Schwesterle, die noch nichts versteht und überall läuft, wo man gar nicht darf, gut aufpassen. Mit dem eigenen Bruder Ernstele sind es schon zwei Schützlinge, und so jeden Tag.

    Aber wenn die beiden schlafen oder noch irgendwo sind, dann geht der Kleine ganz nah zu dem hohen Bretterzaun, der seinen Hof von dem wirtschaftlichen Bereich trennt, und guckt zwischen den Brettern, wie Onkel Otto sich mit den Pferden beschäftigt. Er füttert sie, er tränkt sie, er putzt ihnen die Hufe und kämmt sie mit einer großen, ovalen Bürste. Er spricht leise mit ihnen und glättet ihnen das Fell, das dann wie Feuer in den Sonnenstrahlen glänzt. Die Pferde gehorchen ihm, und es scheint, dass es ihnen gefällt.

    Papa ist Lehrer und deshalb ist er auch so streng. Er schimpft oft mit Harry und Leo, und dem Kleinen tut es leid, dass er sie beschimpft. Manchmal ist er auch selbst an der Reihe, man kann nicht sagen, dass es Spaß macht. Besonders tut es dem Kleinen leid, wenn Papa mit der Mama schimpft. Mama ist die Beste, sie ist zu allen freundlich und sie schimpft auf niemanden, nicht auf die älteren Kinder, auch nicht auf die kleinen.

    Wenn Papa guter Laune ist, bringt er das Grammofon in den Hof, und es werden Platten gespielt. Dann versammeln sich alle Bewohner des Hofes und auch einige Nachbarn. Sie kommen weniger zum Zuhören, sondern mehr zum Karten- oder Dominospielen. Der Kleine kennt alle Platten und kann auch die Platten auf Wunsch auflegen, nur das Aufziehen kann er nicht, weil die Feder zu stark ist, so erklärt es der Vater.

    Papa, Onkel Otto und noch einige Männer haben nur am Sonntag oder an den Feiertagen Zeit, die Platten im Hof zu hören. Ansonsten werden die Platten im Zimmer gespielt und nur selten im Hof, wenn Mama sich dort mit der Wäsche beschäftigt. Sie bestellt die Musik, und der Kleine sucht die Platten und legt sie auf. Nicht, dass er lesen könnte, er kennt die Platten nach den farbigen Aufklebern. Er holt aus dem großen Stapel die richtige Platte ohne Fehler heraus.

    Nach vielen Jahren erinnert sich der Junge, dass oft „Kukaratscha und „Im Park von Tschair gespielt wurde.

    In „Kukaratscha" hat eine Frau im wilden Tempo eines argentinischen Tanzes ihrem Geliebten versprochen, die Augen ihrer Rivalin auszukratzen, wenn er sie nur noch einmal berühren würde. In dem anderen Lied wurde im Walzertempo von den blühenden Rosen und den Blüten des Mandelbaums gesungen.

    Aber das liebste Lied war „Suliko", ein georgisches Lied, das einigen Gerüchten nach auch das beliebteste Lied von Stalin war. In diesem Lied wurde von dem Grab der Geliebten geträumt, und das Lied wurde im ganzen Land als das traurigste Lied angesehen. Vielleicht weil es so viele verschollene Gräber gab, jede Familie hatte zu dieser Zeit einen oder auch mehrere vermisste Verwandten, deren Gräber nicht bekannt waren.

    In späteren Veröffentlichungen, die dem erwachsenen Kleinen, jetzt schon „Albert genannt, zum Lesen zukamen, wurden Meinungen geäußert, nach denen Stalin dieses Lied bis an sein Lebensende schätzte. Es gab Augenzeugen, seine Bewacher, die berichteten, dass er dieses Lied in seiner „Blishnaja Datscha, wenn er allein im Park spazierte, leise gesungen hat, aber statt der „Liebsten" die Namen seiner ermordeten Opfer in den Text eingeflochten hat. Ein kleines Stückchen von seinem schwarzen Humor, dem er bis zu seinem Tod treu blieb.

    Mama hatte am liebsten die neapolitanischen Lieder wie „Sorrento oder „Komm zurück nach Sorrento. Die wahren damaligen Bezeichnungen der Lieder haben sich schon aus dem Gedächtnis gelöscht, die von dem berühmten italienischen Tenor Enrico Caruso gesungen wurden.

    Mit Kriegsausbruch konnte man das Plattenspielen vergessen. Das Grammofon, zu Hause auch „Patefon genannt, blieb mit dem Stapel Platten auf der Plattform des Bahnhofs „im Regen liegen, weil man nicht alles, was man von zu Hause mitgenommen hatte, in die Waggons laden durfte. Die Mutter hat sich für die Nähmaschine entschieden, was sich später als richtig erwiesen hatte.

    Noch kennt der Kleine das Dorf, das nach dem Ukrainischen auch „Staniza" heißt, so ein schönes Dorf, mit den sauberen, weiß gestrichenen Häusern, mit den Obstgärten in jedem Hof. Er kennt den Laden, in dem Mama Lebensmittel und viele Sachen wie diese neuen Schuhe kaufte. Hier hat er auch den guten Onkel Jakob, den Verkäufer, kennengelernt, der dem Kleinen immer etwas Leckeres anbietet.

    Noch kennt er den großen Park im Dorf, wohin sie manchmal mit Mama und wiederum mit dem ganz kleinen Ernstele im Kinderwagen spazieren gehen, und auch noch einen ganz großen und noch schöneren Park mit vielen Skulpturen in der Stadt Anapa, wohin sie manchmal mit der ganzen Familie mit dem Bus fahren.

    Zu der Welt des Kleinen gehören auch einige ganz erstaunliche Geschichten, die sich im Dorf oder in der Umgebung hin und wieder abspielen. Von einer, in der es über Papa geht, kann er mit großem Stolz erzählen, aber an die anderen möchte er sich gar nicht erinnern, nur dass Leo nicht nachgibt und sie jedem und jedes Mal erzählt, schon tausendmal und immer mit neuen Einzelheiten, obwohl der Kleine ihn schon mehrmals gebeten hat, sie nie mehr zu erzählen. Aber Leo, den kann man nicht überreden …

    Also, die erste Geschichte: Es war doch ein schöner, sonniger Tag, als am frühen Nachmittag auf einmal der halbe Himmel von vielen niedrigen, schweren und ganz schwarzen Wolken dunkel wurde. Es war erstaunlich, weil der Himmel vom Osten hell blieb, nur weiße Wolken, zwischen denen einige freundliche Sonnenstrahlen durchschauten, und zur selben Zeit kamen von der anderen Seite, vom Westen, solche unfreundlichen, schwarzen Wolken, die auf die Leute eine ganz bedrückende Wirkung ausübten, sogar Unruhe und Angst.

    Es waren stürmische Regenwolken, die die schweren Gedanken der Einwohner noch mehr verschlimmerten. Denn sie lebten seit den letzten drei Monaten unter dem Druck der bevorstehenden Gefahren. Den Gefahren, die der Krieg verursacht hat; der Krieg, der sich dort im Westen, woher jetzt die dunklen Wolken kommen, schon drei Monate mit den Bombenanschlägen, mit dem streuenden Feuer der Maschinenpistolen, mit Leid und Tod manifestierte.

    Was kommt auf uns zu?, dachten die Menschen im Dorf.

    Zwei von den dunklen Wolken, die nebeneinander schwebten, sind zusammengeprallt, und in diesem Moment hat ein mächtiger Blitz den Himmel mit der Erde verbunden. Gleich danach hat ein Donner, wie von tausend Kanonen, die Luft erschüttert und noch und noch ein weiteres Mal. Und ein Regen, nicht ein üblicher Regen, sondern ein Wasserfall, wie aus einem riesigen Eimer, ist auf die Erde heruntergekommen. Auf den Boden, nicht auf das Dorf und auf die Leute, die sich im Hof des Kleinen zufällig versammelt haben und auf den Himmel schauten, sondern auf die Felder an der Anhöhe, gleich hinter dem Dorf.

    Der Vater hat dem Kleinen erklärt, dass es ein elektrischer Strom war, der die Wolken zusammengezogen und die Blitze, den Donner und den Regen verursacht hatte. Er wollte Papa noch fragen, wo in dem Himmel ein elektrischer Strom sein kann, es gibt doch so hoch keine Leitungen, aber was plötzlich kam, hat ihn von dieser Frage ganz abgelenkt.

    Eine Wasserflut, so hoch, dass sie bis an die Knie eines Erwachsenen reichte, hat die gepflasterte Straße überflutet, und nicht nur die Straße mit den Abwassergräben an den beiden Seiten, sondern auch die Bürgersteige und auch die Höfe, von dem Kleinen aber nur ein bisschen. Es war noch gut, dass die Flut mit den Zäunen begrenzt war, die von unten einen halben Meter hoch dicht gebaut waren. Nur durch die Pforten konnte das Wasser in den Hof herein strömen.

    An dem trockenen Platz im Hof haben sich Papa, Mama und der Onkel Weber, der Vorsitzende der Kollektivwirtschaft, der gerade die Straße vorbeiging und in dem letzten Moment sich noch auf den hohen Platz vor dem Wasser retten konnte, versammelt. Er und Papa haben über etwas geredet, was der Kleine überhaupt nicht verstand.

    Kaum hat Onkel Weber die Eltern des Kleinen begrüßt, sagte er: „Guck mal, das ist wieder die verfluchte Zauberin!"

    „Ach, lass es doch, erwiderte Papa, „das ist nur ein Naturgeschehen, das hat nichts mit dem Fluch der Alten zu tun. Dieser Fluch, wenn es ihn auch in der Wirklichkeit nicht gibt, kommt schon bald, und auch aus dieser Richtung. Es wird nicht ein Wasserfall, sondern ein Feuerfall werden.

    Wieder wollte der Kleine den Vater nach etwas fragen, er wollte wissen, was das heißt, „der Fluch der Alten", wie Papa gesagt hatte. Aber er konnte es wieder nicht machen, weil wieder etwas dazwischenkam.

    Plötzlich haben alle gesehen, dass auf der anderen Seite der Straße ein Kalb, noch ganz klein, genauso groß wie eine Ziege, an einem Pfosten mit einem Strick am Hals gefesselt war. Das arme Vieh konnte dem Strom kaum widerstehen, und der Strick würgte das Kalb, das von dem Strom gezogen wurde. Und Papa hat eben das geschafft, was wirklich nötig war. Er ist blitzschnell, so wie er war, mit Schuhen und Hosen über die Straße und durch den Strom gelaufen, hat das arme Kalb von dem Strick befreit und es in den Hof geschoben.

    Die arme Kreatur war so froh, dass sie endlich in ihrem Hof war, sodass sie mit den hinteren Beinen ein paar Mal hochsprang, dann, auf dem trockenen Platz stehend, auf die Straße und das Wasser schauend, einen spezifischen Kuhlaut produzierte. Vielleicht hat sie ihre Mama gerufen, dachte der Kleine.

    Papa kam wieder zurück, und alle waren froh über die Rettung des Kälbchens, der Kleine war überhaupt ganz stolz auf den Vater, und es schien, dass auch Mama zufrieden war. Sie hat den Vater wegen der verschmutzten Hosen gar nicht ausgeschimpft. Sie hat nur zu Papa gesagt: „Komm, zieh dich um, die Hose und Schuhe werde ich schon wieder in Ordnung bringen. Die Müllers werden dir dankbar sein für das Kalb."

    Aber das Spektakel, das auch die noch ankommenden Bewohner da beobachten konnten, ging weiter mit noch größeren Überraschungen: Der Strom wurde ganz schmutzig, und es wurde schnell klar, warum. Mit großer Geschwindigkeit strömten die in diesem Jahr so gut gewachsenen Melonen und Kürbisse, mit den Wurzeln aus dem Boden gerissene Sonnenblumenstöcke, Weinreben und noch andere Gewächse zusammen mit Erde an den Wurzeln und Lehmklumpen vorbei.

    Die Leute waren überrascht von der Naturkatastrophe, diesem Platzregen, der nicht nur die erwartete Ernte vernichtete, sondern auch noch viel ertragreichen Boden von den Feldern wegschwemmte.

    „Sehr schlechte Zeichen, sagten die älteren Leute im Dorf, „man ist schon den schlimmsten Gefahren wegen dieses Krieges ausgesetzt, und noch so ein schreckliches Zeichen vom Himmel. Bereitet euch, Leute, auf das Schlimmste vor, es kommt noch und vielleicht noch schneller, als wir denken.

    Ach, wie hatten doch diese Greise recht, sie konnten die Zukunft von dem Himmel ablesen und konnten die Ereignisse so deuten, dass alles Schlechte eine Vergeltung Gottes für die menschlichen Sünden sei.

    Der Wasserstrom ging genauso plötzlich zu Ende, wie er auch ankam. Der Himmel wurde klar, und es schien wieder die Sonne. Die Einwohner rannten ungeduldig zu den Feldern, um festzustellen, was beschädigt worden war. Der Schaden war aber gar nicht so groß, weil nur ein Teil der Felder unter den Platzregen kam.

    Unter den warmen Sonnenstrahlen wurden bald die Straße und die Bürgersteige wieder getrocknet. Die Abwassergräben wurden gesäubert, und die nachfolgenden „normalen" Regengüsse haben die gepflasterte Straße wieder bis zum Glänzen abgewaschen.

    Die gepflasterte Straße wie auch die Zäune waren nicht nur ein Stolz der Einwohner, sondern auch eine Baukunst. Die ganze Hauptstraße war mit den gebrannten Ziegeln, nicht Bauziegeln, aber speziellen gerillten, viereckigen Plättchen gepflastert. Nicht viele deutsche Dörfer hatten solche schönen Straßenoberflächen.

    Der Kleine hatte damals keine Ahnung von der Baukunst. Er hatte seine Freude an der Sonne, die wieder so freundlich auf die Erde schaute, aber immer wieder standen ihm der schmutzige Wasserfluss und das arme Kälbchen vor den Augen, das von der Flut gezogen und von dem Strick fast erwürgt wurde. Und Papa, der mutige Papa, ein richtiger Held, der die Straße durch das Wasser überquert und das arme Kälbchen, so ein schönes Ding, gerettet hatte.

    In das Gedächtnis des Kleinen kam immer wieder eine Episode aus seinem eigenen Leben, an die er gar nicht denken wollte, aber von der öfters im Hause gesprochen und durch die auch seine Freiheit manchmal begrenzt wurde: Es geschah, als der Kleine noch ganz klein war, vielleicht erst drei Jahre alt, als er es mit Tränen durchsetzte, dass die großen Brüder ihn ans Ufer zum Baden mitnahmen.

    Es wäre auch besser, wenn es das Foto überhaupt nicht gäbe, auf dem der Anfang dieser Geschichte abgebildet ist. Es zeigt den weinenden Kleinen mit den bittersten Tränen, die über das ganze Gesicht in Strömen fließen, sitzend auf dem Rahmen von Harry‘s Fahrrad.

    Der Fluss Kuban machte in fünf Kilometer Entfernung vom Dorf einen Bogen, wo der Strom das hohe Ufer immer mehr abgetragen hatte. Aber an anderen Stellen bildete er viele mit Schilf bewachsene, bei Hochwasser überschwemmende Flussniederungen. Der Kleine konnte sich noch erinnern, als während des Laichens der ganze männliche Bestand des Dorfes zum Ufer strömte, um Fische zu fangen, die man mit „bloßen Händen" aus dem Wasser herausholen konnte. Gewiss haben die Leute auch vielerlei Netze und andere Vorrichtungen benutzt, um sich für den ganzen Winter mit Fisch und Kaviar zu versorgen.

    Diesmal sind die Brüder nur zum Baden gefahren. Es ist doch bekannt, dass es nichts Besseres gibt, als an einem heißen Sommertag einen Ausflug mit den Fahrrädern zu machen, um im Fluss zu baden. Durch die bitteren Tränen hat der Kleine sich durchgesetzt: Er wurde mitgenommen.

    Mit dem Versprechen, dass er allein nicht ins Wasser geht, saß der Kleine auf dem weichen Teppich aus dem frischen Gras am Ufer und hat geduldig gewartet, bis die Großen sich gebadet hätten und ihn dann wie immer mit ins Wasser nehmen werden.

    Aber er hat gar nicht gemerkt, dass er sich langsam und unwillkürlich immer mehr der Steilwand des Ufers näherte. Dann kam er ganz an den Rand, ließ die Beine herunter und dann, „bull-bull, war er im Wasser und sank gleich in die Tiefe, und nicht nur in die Tiefe, sondern auch mit dem Kopf nach unten. Wie Leo immer betonte, mit dem schwersten Teil. Also wie ein Beil, das zum Boden auch immer mit dem schwersten Teil fällt. „So ist auch unser Kleiner in die Tiefe gesunken, erzählte Leo.

    Der Vergleich mit einem Beil hätte dem Kleinen nicht viel ausgemacht, wenn er ihn auch gerettet hätte. Nur lachen konnte er, aber aus dem Wasser hat ihn doch Harry gerettet, nicht der ewig lachende Leo. Harry hat ihn an dem „Beilstiel", ach, es war wieder aus Leos Scherzen, an den Beinchen gefasst und auf das weiche Gras geschleudert.

    Der Kleine hat fast kein Wasser geschluckt, so eine gute Reaktion hatte Harry, der die Rettung durchgeführt, aber gar nicht geprahlt hat, im Gegensatz zu dem „Lachmann" Leo, der immer noch nicht diese unerwünschte Geschichte vergessen kann.

    Es gab auch noch viele gute Sachen im Leben des Kleinen: Nicht nur von diesem schönen Hof wurde sein Leben geprägt. Er erinnert sich an ein großes Fest, als alle zusammen, Papa und Mama, er und die Brüder Harry, Leo und auch der Ernstele, einmal mit dem Bus in die große Stadt Anapa gefahren sind, dort spazieren gingen, Eis und noch vieles Leckeres aßen und zum Schluss ein Foto bestellten, das ihnen ein Mann mit dem Fotoapparat auf einem dreifüßigen Ständer angeboten hatte.

    Der Fotograf bat sie, sich auf die Platte eines aus Beton gegossenen Postaments zu setzen, und der Kleine kann sich noch erinnern, wie die scharfe Kante des Betons ihm in das Bein drückte und der Fotograf sie trotzdem ermahnte, ruhig zu sitzen, um das Bild nicht zu beschädigen. Dem Kleinen macht es immer sehr großen Spaß, dieses Foto zu betrachten.

    Papa ist noch ganz jung und schön mit seinen lockigen Haaren. Er trägt einen weißen Anzug, ein weißes Hemd mit einem passenden Halstuch. Mama sieht man auch in einem weißen Kleid, mit glatt gekämmten Haaren. Dann Harry und Leo, beide in schwarzen Hemden aus Satin mit bestickten Stehkragen. Zu den Hemden, wie es sich versteht, auch dunkle Hosen.

    Dann sitzt selbst der Kleine und stehend, zwischen ihm und der Mama, der Ernstele. Er ist noch so klein, dass er gar nicht auf die Betonplatte hochkommen konnte. So blieb er bei Mama stehen, und der Fotograf, der die Familie aufstellte, war auch mit dieser Komposition zufrieden.

    Die beiden kleinsten Kinder haben kurze, schwarze Höschen und weiße Hemdchen mit großen, schwarzen Halsbändern an, sie sind also alle sehr festlich gekleidet. Der Kleine hat noch in den beiden Händen eine schwarze Handtasche der Mama aus lackiertem Leder, die ihm sehr gefällt und die er ihr öfters wegnimmt, obwohl Mama mit solch einem Benehmen meistens unzufrieden ist.

    Und jetzt hört er noch, wie Mama auch diesmal gesagt hatte: „Ach, bist du doch ein frecher Kerl!" Aber es wurde ohne Ärger gesagt, das sah er in ihren Augen, so blieb die Tasche bei ihm, und so ist er auf dem Bild mit Mamas Tasche in beiden Händen. Nach der Aufnahme hat er sie der Mama abgegeben, weil er doch nicht ewig die Tasche herumschleppen konnte.

    Solche und ähnliche Erinnerungen kommen dem damaligen Kleinen immer wieder in den Sinn. Aber die „Parade oder der schwere Marsch der Soldaten an die Front hat sich am tiefsten in das Gedächtnis eingeprägt, weil wahrscheinlich nicht lange danach die anderen folgenschweren Ereignisse eintrafen. Aber um ehrlich zu sein, muss man zugeben, dass diese Ereignisse nicht direkt nach der „Parade stattgefunden haben, sondern erst ein paar Tage später, nachdem er sich mit dem Nachbar Petja, aber nicht Petja, sondern mit dem frechen Petjka, endgültig auseinandergesetzt hatte.

    Eine wunderbare Begegnung mit der Vergangenheit oder das lebensrettende kirchliche Singen

    Oktober 1991, Jekaterinburg, Russland

    Als Gorbatschows Reformen, die Glasnost und die Perestroika, in der Sowjetunion schon etwas ihren Lauf genommen hatten, haben im Leben des ehemaligen Kleinen, dem Albert, sich drei Ereignisse abgespielt, die er annehmen musste, wie sie eben gekommen waren. Er war der dritte Sohn der Lehrerfamilie von Reinhold und Amilde Gruber, den Deutschen in Russland, die in der siebten Generation als Nachfahren der aus Deutschland ausgewanderten Bauern vor dem Krieg in der Ukraine und später im Kaukasus beheimatet waren.

    Das Erste Ereignis war, dass er von dem Gelehrten Rat der Medizinischen Akademie endlich zum Inhaber der Chirurgischen Klinik gewählt wurde und so auch zum Chef der Herzchirurgie aufgestiegen ist. Zu dieser Berufsstelle war er schon einen langen Weg gegangen, er war auf diesen Beruf gut vorbereitet und hatte schon zwei Jahre die Klinik stellvertretend geführt, bis die kommunistische Führung sich entschieden hatte, den Deutschen und Parteilosen zu den Wahlen zuzulassen.

    Das zweite Ereignis drang in sein Leben ganz unerwartet und überraschend wie ein wilder Wirbelsturm ein, dem er aber nicht widerstehen konnte. Dieses Ereignis kam auf ihn zu in der Gestalt der „Kupferbraunen Bestie, wie er sie später „getauft hatte. Sie war die Sprecherin der Gruppe von Krankenhausärzten, die zu selbstständig arbeitenden Hausärzten umgeschult werden mussten.

    Sie kam zu ihm, um sich in dem Namen der Gruppe für den Kursus mit einer Flasche Cognac und einer Schachtel Schokoladenpralinen zu bedanken, den üblichen Zeichen der Zufriedenheit vonseiten der Patienten gegenüber den Ärzten in der damaligen Zeit. Aber was danach passierte, hat ihn überrascht und unwiderstehlich gemacht.

    Die wunderschöne, dunkelrote Frau mit ihrem rundlichen, von feinsten Sprossen übersäten Gesicht und gekräuselten Haaren, die das Gesicht dicht umrahmten und auf die Schultern fielen, hat ihren teuren Fuchspelzmantel auf einmal auf den Boden geworfen, sich mit einer schnellen Bewegung das Kleid vom Leib gerissen und da stand sie vor ihm, ohne jegliche Unterwäsche, nur noch in ihre schicken, ledernen Winterstiefel „gekleidet". Vor Überraschung konnte er kein Wort sagen, und sie hat ihn am Hals umschlungen und auf den Pelzmantel fallend auf sich gezogen. Die Zeit ist stehen geblieben …

    Dann stand er auf, ging zu der Tür und drehte den Schlüssel, um die Tür doch abzuschließen. Der Gedanke, dass jemand in dieser Zeit zu ihm kommen und das alles sehen konnte, den neuen Chef der Klinik mit einer fremden Frau, hatte ihn für einen Moment mit Schüttelfrost überzogen, und er hat beschlossen, dass es unzulässig sei.

    Aber stattdessen kam er zu der wunderschönen „Bestie, legte sich zu ihr auf den Pelzmantel und streichelte sie über die wunderschönen Haare, den Hals, die Brüste und die Warzen, die unter seinen Fingern steif wurden, den flachen, etwas angespannten Bauch bis zu den am Sonnenstrahl braunrot leuchtenden, gekräuselten Haaren am Venusdreieck und weiter über die starken Oberschenkel, die hinten von den wunderbaren Rundungen ihren Anfang nahmen. Sie erwiderte seine Zärtlichkeit, indem sie auch ihn am Gesicht und dann an den intimen Stellen ganz flüchtig mit den Fingerspitzen berührte, bis sie beide wieder in „Bewusstlosigkeit fielen.

    Dann standen sie beide auf, und er musste sehen, dass sie doch Unterwäsche trug. Sie nahm die feinen Konfektionsstücke aus ihrer ziemlich großen Handtasche heraus, kleidete sich an, schmückte sich und da war sie weg. Eine richtige Bestie, dachte Albert, es war kein Zufall, sie hat alles bedacht und vorbereitet.

    Aus der Liste der Teilnehmer kannte er nur ihren Namen und dass sie aus einer kleinen Stadt kommt. Aus den Lehrstunden konnte er sie als eine starke und selbstbewusste Persönlichkeit bewerten, die die meisten Fragen stellte und der Sache immer auf den Grund ging. Im Unterschied zu den anderen Teilnehmerinnen hielt sie sich in den persönlichen Fragen geschlossen. Auch jetzt hat sie ihm nichts aus ihrem Leben erzählt, obwohl er sie fragte, ob sie einen Mann oder eine Familie hätte.

    Sie kam zu ihm noch einige Male, bis er endlich verstanden hatte, dass sie von ihm nur eines will, was ihm in der Beziehung aber zu wenig war. Er fragte sie, warum sie zu ihm kommt, konnte aber keine bestimmte Antwort von ihr bekommen.

    Einmal hatte sie ihn wie einen Hund an der Wange erwischt und sagte: „Ach, hast doch du eine vornehme Fresse!"

    „Aber bitte ohne Lüge, erwiderte er, „noch niemand hat gesagt, dass ich schön aussehe.

    „Ja, das ist wahr, aber du bist mein Typ, und dagegen kann ich nichts machen."

    Das war alles, was er von ihr wusste.

    Endlich hatte die Vernunft gewonnen. Oder hatte die schöne Bestie sich ein anderes Objekt für ihre Begierde ausgewählt? Aber die Beziehung hat sich zu Alberts Erleichterung aufgelöst.

    Aber das wichtigste Ereignis in diesem Jahr war, dass die geschlossene Stadt an der geografischen Grenze „Europa – Asien wieder in ihrem vorigen Namen „Jekaterinburg umbenannt und für Besucher aus dem Ausland geöffnet wurde. Und mehr noch: Die Lufthansa hat ihre Flüge dahin und noch weiter nach Osten verlängert. Ein Mitarbeiter des Medizinischen Dienstes der Luftfahrtgesellschaft hat den deutschstämmigen Chef der örtlichen Herz-Chirurgischen Klinik aufgesucht und ihn als Vertragsarzt eingestellt.

    Eben diese Umstände haben den Arzt mit einer alten Frau zusammengeführt, die ihm eine mündliche Überlieferung von Geschehnissen übermittelte, die vor ungefähr zweihundert Jahren stattgefunden haben sollten.

    Wie schon vorher erwähnt, war er der ehemalige Kleine, der mit seinen fünf Jahren der „Parade" beiwohnen konnte. Ihm ist es gelungen, während der Verbannung der Familie nach Osten trotz aller Strapazen der schweren Kriegsjahre zu überleben, was nur dank der starken Willenskraft der Mutter geschehen konnte. Nach Stalins Tod und gutem Abschluss der Schule konnte er die aufgezwungene Siedlung in Sibirien verlassen und zum Studium fahren. Er studierte Medizin und hat den Beruf eines Chirurgen für sich ausgewählt.

    Aber schon als Jugendlicher interessierte ihn die Geschichte seiner Vorfahren wie auch das gesamte Schicksal der Deutschen in Russland, für deren Spurensuche er sich immer mehr einsetzte. Es bestätigte sich, dass man auf der von einem Ziel bestrebten und intensiven Suche manchmal ganz zufällig auf undenkbare Ereignisse stoßen kann. So auch jetzt bei dieser Begegnung, aus der in wunderbarer Art und Weise eine Brücke zwischen den jetzt in Russland lebenden Deutschen und deren Verwandten aus der Zeit der ersten deutschen Auswanderer nach Russland entstand.

    Also musste er nach seinem Arbeitstag in der Klinik einer alten Frau einen Besuch abstatten, um festzustellen, ob sie aufgrund ihres gesundheitlichen Zustands flugtauglich für die Ausreise nach Deutschland wäre.

    Er war überzeugt, dass er die Begutachtung in einer halben Stunde durchführen würde, weil sich keine besonderen Krankheiten aus dem Telefongespräch mit der Tochter der Frau ergaben, nur dass sie hochbetagt sei, sie wäre in ihrem siebenundneunzigsten Lebensjahr. Also, dachte er, geht es nur um Formalitäten, weil die Luftfahrt auch für eine ältere Person ohne schwere Herz- oder Lungenerkrankungen die beste Reisemöglichkeit darstellt. In diesem Fall dauert die Reise nicht mehrere Tage, sondern nur einige Stunden, und in den heutigen Maschinen sind die Bedingungen den natürlichen fast gleich.

    Als er die Dame ansah, bestätigten sich seine vorläufigen Vermutungen, dass der Flug gut verlaufen müsse. Frau Amalie saß bequem in einem Sessel und schaute den Arzt mit einem freundlichen Lächeln an, als ob sie sagen möchte: „Sehen Sie, Herr Doktor, wie gut ich in meinem Alter, Gott sei Dank, noch aussehe. Und das nach all dem Grausamen und Schweren, was ich in meinem langen Leben aushalten musste."

    Der Arzt hatte gleich ein Gefühl, dass in ihrer besonderen Haltung und dem Augenausdruck ein Geheimnis liegen könnte, etwas Wichtiges, was sie den Menschen oder jetzt ihm noch zu sagen hat. Dieser Eindruck hat sich schon bald bestens bestätigt.

    Albert hatte schon immer während seiner Besuche von Landsleuten gerne die Muttersprache gesprochen, und als er sie auf Deutsch begrüßte, konnte er sehen, dass sie sich darüber freute. Sie antwortete in einem schwäbischen Dialekt, in dem sie ihm auch von ihren nicht so vielen und nicht so schlimmen Krankheiten berichtete. Na ja, die Beine dienen nicht mehr so gut, hin und wieder hat sie Sorgen mit dem Kreislauf, ja, ja, auch der Herzschlag mit einigen Aussetzern. Wie bitte? Schwierigkeiten mit der Atmung? Nein, Gott sei Dank, von dieser Seite ist noch alles gut. Man wird vergesslich, auch einmal schläfrig, obwohl sie gar nicht gewöhnt sei, tagsüber zu ruhen. Sie hatte es immer für ein Unrecht gehalten, bei Sonnenstrahlen zu schlafen, so war es doch im ganzen Leben.

    Nach der körperlichen Untersuchung, der Nachprüfung einiger vorheriger EKG-Aufnahmen und der vorhandenen Laborwerte hat sich der positive Befund bestätigt. Noch einige Minuten, und da war auch schon das Gutachten fertig.

    Albert hat der Dame versichert, dass die Reise in Begleitung von mehreren erwachsenen Verwandten keine Schwierigkeiten verursachen dürfe und dass der vierstündige Flug viel leichter zu ertragen sei als eine andere Art von Reisen. Damit war das Programm des Besuchs abgeschlossen, er raffte seine Sachen zusammen in der Absicht zu gehen.

    Aber zum Schluss wollte die Frau noch wissen, woher die Vorfahren des Arztes stammen, und zwar aus welchem Dorf des Wolgagebiets. Er hatte schon mehrmals beobachtet, dass es zu einer Tradition in Russland geworden war, dass, wenn zwei deutschstämmige Personen zusammenkommen, es die erste Sache ist festzustellen, in welcher Beziehung sie zueinanderstehen. Und zwar, ob sie oder ihre Vorfahren nicht aus demselben Ort kommen.

    Es ist gut zu verstehen. Einst mehrere Jahrzehnte lang kompakt gelebt, wurden sie mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in das große Land östlich des Uralgebirges zerstreut, sodass viele von ihnen auch von den engsten Verwandten Tausende Kilometer weit getrennt leben mussten.

    Unter diesen Umständen hatten sie sich immer mit einer gewissen Sehnsucht nach einer verwandten Seele umgesehen. Diese Leute hatten einfach Bedarf, ein Gespräch mit dem möglichen Landsmann zu führen. Und wenn ein ähnliches Schicksal festgestellt wurde, führte es dazu, dass sie sich schon nach einigen Minuten befreundet fühlten, und bald kamen auch schon die Erinnerungen an das Leben im Heimatdorf hoch.

    Albert musste der Gesprächspartnerin mitteilen, dass seine Vorfahren nicht aus dem Wolgagebiet stammen, wie sie von ihren Ahnen vorgab. Seine Vorfahren kamen viel später aus Deutschland, als das Wolgagebiet schon gut angesiedelt war, und sie durften sich in dem sogenannten „Schwarzmeergebiet", also in der Ukraine, niederlassen. Aber er konnte berichten, dass in seiner Familie von einigen Vorfahren aus dem Wolgagebiet gesprochen wurde.

    Alberts Kenntnisse über die Geschichte der Deutschen in Russland begeisterten Frau Amalie, und sie hat ihm einen Vorschlag gemacht: „Vielleicht wollen Sie, Doktor, dass ich Ihnen eine Geschichte aus der Zeit der ersten deutschen Einwanderer nach Russland erzähle, die mir meine Oma erzählt hatte, als ich erst zwölf oder dreizehn Jahre alt war? Die Geschichte steht mir immer noch vor den Augen, als ob ich sie selbst einmal erlebt hätte. Eine Geschichte darüber, wie meine Vorfahren durch das kirchliche Singen ihr Leben retten konnten."

    Nach solch einer Einführung in das Thema konnte Albert nur zustimmen, und sie fing an zu erzählen: „Mein Urgroßvater Josef Schieber, sagte sie, „kam zusammen mit seinem Bruder Alois nach Russland aus dem kleinen Dorf Hoffnungstal in Bayern. Das war die erste große Welle der Auswanderung nach Russland von Bauern und Handwerkern, also nicht der Adeligen, die zum Dienste am russischen Hof schon vor Jahrhunderten gekommen waren. Diesmal waren es die einfachen Leute, die die Not und die Gefahr des Aussterbens in den schweren Jahren der deutschen Königreiche und Fürstentümer in den wilden Osten trieben.

    „Also war das die Zeit, ist der Arzt in das Gespräch eingefallen, „als die junge russische Herrscherin die einfachen Bürger aus den westlichen Staaten zur Ansiedlung in die unendlichen und nicht besiedelten Steppen an den beiden Ufern der Wolga eingeladen hatte. Ich erinnere mich, dass es die Jahre 1762 oder 1763 sein mussten.

    „Den Jahrgang der Ausreise meiner Vorfahren kenne ich nicht, fuhr die Dame fort, „aber es scheint klar zu sein, dass sie unter den Ersten waren. Ihnen erging es so, dass sie nicht an dem bergischen rechten und weniger von den Nomaden gefährdeten Ufer, sondern an dem flachen linken Ufer der Wolga angesiedelt wurden.

    Aus der allgemeinen Geschichte und dem, was er recherchieren konnte, wusste Albert, dass sich damals von diesem Ufer der Wolga nach Osten eine mehrere Hundert Kilometer weite Steppe ausbreitete, die die Steppenleute als ihr eigenes Land ansahen und den Neuansiedlern ständig drohten. Die Siedlungen an diesem Ufer, von der Steppe nicht durch den Fluss getrennt, waren am wenigsten vor den Überfällen der „Kirgisen", wie die Steppenleute damals genannt wurden, gesichert.

    Die russischen Zaren waren die Herrscher des ganzen Reiches mehrerer Nationen und Völkergruppen. Aber von einer einheitlichen Gesinnung und Freundschaft der vielen Völker konnten die Herrscher nur träumen. Die Steppe hinter der Wolga war schon jahrhundertelang das Stammgut der Nomaden. Sie waren gewohnt, ihr Vieh abhängig von den Jahreszeiten im Bereich zwischen dem Uralgebirge und dem großen Fluss Wolga auf die Weide zu treiben. Die Ansiedlung der fremden Ankömmlinge behinderte immer mehr ihre gewohnte Viehzucht.

    Einige der Nomaden unterwarfen sich dem Zarenerlass bezüglich der Besiedlung der Steppenregion und lebten friedlich mit den Neuankömmlingen. Aber es gab auch solche, die aus Ärger und Zorn nicht nachgeben wollten. Hin und wieder kamen Nachrichten, dass die deutschen Dörfer von den Steppenleuten überfallen und geplündert wurden. Leute wurden getötet oder in die Sklaverei entführt.

    Die ersten Ansiedler hatten mit solchen Gefahren nicht gerechnet, aber jetzt mussten sie sich so gut wie möglich wehren. In fast jeder Familie gab es Waffen, aber gegen den blitzschnellen Angriff einer Horde, die mit Pferden ins Dorf eindrang, konnten die Leute keinen effektiven Widerstand leisten. Die Rebellen kamen wie ein flächendeckendes Feuer und nach der Untat verschwanden sie wieder irgendwo in der Steppe.

    „Also, zu dieser Zeit ereignete sich die Geschichte, die ich Ihnen übermitteln will. Meine Vorfahren lebten schon nicht das erste Jahr hier, erzählte Frau Amalie. „Im Dorf gab es gut sechzig Bauernhöfe, eine Mühle, eine Schmiede, eine Ziegelei. Und der besondere Stolz der Einwohner war die neu erbaute Kirche. Die Leute hatten sich eingelebt und für die erste Zeit einen relativen Wohlstand erreicht.

    Die Frau hat sich bequemer im Sessel aufgesetzt und berichtete weiter: „An diesem Oktobersonntag waren schon alle frühmorgendlichen Arbeiten verrichtet. Die Kühe waren aus den Höfen getrieben und dem Hirten Michael Grohmajer und dessen Sohn Peter überlassen, die sie auf die Weide getrieben haben. Die Pferde weideten hinter den Höfen. Ein Junge, es war Andreas Bruck, führte die Aufsicht. Um halb zehn Uhr morgens waren fast alle Bewohner in der Kirche, und da kam das Schlimmste."

    Schon schaut die Tochter der alten Frau den Arzt mit bedauerlichen Augen an, als wolle sie sagen: „Verzeihen Sie, Doktor, der Alten, aber die Geschichte muss sie Ihnen unbedingt erzählen, mit dieser Geschichte lebt sie. Diese Geschichte ist so wie ihr halbes Leben, obgleich sie für uns schon längst langweilig geworden ist."

    Ein Blick des Arztes zu der jungen Frau, und ein kurzes Zeichen: „Bitte nicht stören, für mich ist es sehr interessant."

    Und die gute Erzählerin fährt fort: „Die ersten Zeichen der Gefahr hatte, wie man später feststellen konnte, der Hirte Michael Grohmajer entdeckt – eine kleine, dunkle Wolke am Horizont im Osten, die sich vergrößerte und näherte.

    Als Bauer wusste er, dass die Regenwolken doch immer aus Westen kommen, warum jetzt aus Osten? Als sich die Wolke näherte, erkannte Michael, dass es sich nicht um eine Wolke handelte, sondern um einen riesigen Staubwirbel, der in der trockenen Steppe nur von einer Horde Reiter verursacht sein konnte.

    ‚Peter, schnell aufs Pferd‘, rief er dem Jungen zu, ‚und jage ins Dorf, melde die Gefahr, da kommt eine große Horde von Kirgisen, die haben bestimmt die Absicht, unser Dorf zu überfallen. Lass die Leute Alarm schlagen, vielleicht kann sich noch jemand verstecken. Zu dieser Zeit müssen alle

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