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Rügener Albträume: Kommissarin Burmeisters fünfter Fall
Rügener Albträume: Kommissarin Burmeisters fünfter Fall
Rügener Albträume: Kommissarin Burmeisters fünfter Fall
eBook554 Seiten7 Stunden

Rügener Albträume: Kommissarin Burmeisters fünfter Fall

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Über dieses E-Book

Schlafstörungen, Panikattacken und Erschöpfung, die Mordfälle und die privaten Nebenschauplätze der letzten Monate haben Spuren bei Hauptkommissarin Jessica Burmeister hinterlassen. Deshalb kommt ihr die Meldung über das Verschwinden einiger Schaufensterpuppen aus einem Sassnitzer Privatkeller ganz recht. Doch kaum hat sich die Ermittlerin der Bagatelle angenommen, wird sie zu einem Tatort gerufen: In einem Friseursalon sitzt eine verschmorte Frauenleiche unter der Trockenhaube. Also gilt es, sich zusammenzureißen und die Kollegen Winterstein und Bollermann zu mobilisieren. Tempo ist gefragt, denn dieser Fund scheint nur der Auftakt einer Reihe mörderischer Inszenierungen zu sein, die eine andere Wahrheit ans Licht bringen sollen...

„Rügener Albträume“ und ein böses Erwachen: Die Insel wird zur Bühne eines perfiden Schauspiels, bei dem selbst der hartgesottenen Jessica Burmeister das Lachen im Halse stecken bleibt.

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum6. Nov. 2020
ISBN9783961522385
Rügener Albträume: Kommissarin Burmeisters fünfter Fall

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    Buchvorschau

    Rügener Albträume - Sylvia Voigt

    EINS

    Ich sitze seit gut einer halben Stunde Herrn Gunthau, meinem Psychotherapeuten, gegenüber, und wir haben tatsächlich schon tüchtig gelacht. Ein vermutlich eher seltener Umstand während einer Therapiesitzung. Obwohl ich genügend Gründe habe, um hemmungslos zu heulen, verspüre ich dazu keine Lust. Denn sobald ich die Praxis betrete, fühle ich mich geborgen. Die Ruhe meines Therapeuten strahlt auf mich aus. Und daher betrachte ich die bereitliegenden Papiertaschentücher jedes Mal nur als schmückenden Beiwerk.

    Wir haben bereits viele Themen angerissen. Zum Beispiel stand mein Hass gegen unsere Chefin, die Leitkuh Barbara Leitmeyer-Mummelthey, unangefochten auf Platz eins meiner Tagesordnung. Unsere Dienstvorgesetzte ist ein Paradebeispiel dafür, wie man es mit einem unterbelichteten Verstand bis weit nach oben schaffen kann. Vom ersten unheilvollen Tag an, an dem sie unser mausgraues DDR-Plattenbau-Präsidium betrat, befinde ich mich mit ihr im Krieg.

    Ihre Position verdankt sie mehreren glücklichen oder unglücklichen Umständen. Es kommt ganz auf die Betrachtungsweise an. Jedenfalls wurde sie mir und meinen Kollegen Willi Winterstein und Andy Bollermann vor die Nasen gesetzt, weil ich mich nicht auf die Stellenausschreibung beworben hatte. Ein Fehler. Und so nebenbei auch noch der größte meines Lebens.

    Sie ist meine Erzfeindin und seit Neuestem die beste Freundin meiner Mutter. Auch sie stand heute schon auf der Tagesordnung. In den letzten Jahren ist meine Mutter dazu übergegangen, mich anteilig in den Status einer Erwachsenen zu heben. Was nicht bedeutet, dass ich mich frei bewegen darf. Stünde meine Mutter mit jeglicher Technik nicht auf dem Kriegsfuß, würde schon längst eine Drohne über meinem Kopf schweben. Ihre Rundumbewachung unter dem Vorwand größtmöglicher Sorge um mein Wohlbefinden wird nur dann unterbrochen, wenn meine Mutter das Kriegsbeil ausgräbt und dumm tut. Dazu braucht es nicht unbedingt einen Anlass. Es gab schon eisige Schweigephasen von bis zu einem Vierteljahr, die meist von mir beendet wurden. Ich bin also den größten Teil meines Lebens von zwei sehr bösen Frauen umgeben, die eine innige Freundschaft verbindet.

    Mein Sohn Sebastian hält sich seit ein paar Monaten in Norwegen auf und hat bereits vorsorglich angekündigt, nie wieder zurück nach Deutschland kommen zu wollen. Das war heute unser Tagesordnungspunkt drei. An diesem habe ich am meisten zu knabbern.

    Weniger interessant ist die Nebensächlichkeit, dass seine Freundin ebenfalls nicht zurückkommen will. Das vegane Schneewittchen, mit gutbürgerlichem Namen Franziska, arbeitet wie mein Sohn in einem Supermarkt und wird dort vermutlich versuchen, mit missionarischer Leidenschaft die gesamte norwegische Bevölkerung zu Veganern umzuerziehen. Ich glaube nicht, dass ihr das gelingen wird. Aber Schneewittchen kann, wenn es um ihre Ideale geht, sehr temperamentvoll und leidenschaftlich sein. Vielleicht überschreitet sie gewisse Grenzen und fliegt aus Norwegen raus. Sollte das der Fall sein, wird mein Sohn ihr hoffentlich folgen.

    Herr Gunthau wirft verstohlen einen Blick auf seine Uhr. Eine Stunde ist schnell vorbei, und es bleiben noch ein paar Themen, die ich gern mit ihm besprechen will. „Dann gehen wir doch einfach mal zu Punkt vier über", schlägt er vor.

    Ich wäge ab, was mir am wichtigsten erscheint, kann mich aber nicht entscheiden. „Ich werde verfolgt, und ich fühle mich einsam", sage ich daher.

    Herr Gunthau mustert mich mit seinem typisch nachdenklichen und freundlichen Blick. „Es kann aber nicht sein, dass wir in diesem Fall zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten?", fragt er.

    „Sie meinen, ich sollte mit meinem Verfolger eine Beziehung eingehen?", frage ich und lache laut los.

    Herr Gunthau lacht ebenfalls. „Ist wohl keine so gute Idee, meint er. Dann wird er ernst. „Wer verfolgt Sie?

    „Ein Mann. Ich nenne ihn den Bommelmützenmann. Er trägt immer eine ausgeleierte Bommelmütze. Ich bin ihm bisher vier- oder fünfmal begegnet. Zweimal nachts. Und einmal hat er mir ein paar auf die Glocke gehauen."

    Herr Gunthau macht große Augen. „Er hat Sie geschlagen?"

    Ich nicke nur und gehe schnell zu Punkt fünf über. „Seit mein Sohn ausgezogen ist, macht mir die Einsamkeit zu schaffen, sage ich leise. „Ich hätte das niemals für möglich gehalten. Aber es ist scheiße, wenn man abends nach Hause kommt und die Wohnung leer ist. Vor allem weil man weiß, dass sie leer bleiben wird.

    Herr Gunthau tut das, was er häufig macht: Er denkt über meine Worte nach und antwortet nicht sofort. „Sie sollten vielleicht ernsthaft einen Partner in Erwägung ziehen, schlägt er dann vor. „Warum wollen Sie allein bleiben?

    Ich starre auf meine Fußspitzen und antworte ebenfalls nicht gleich. „Ich habe einmal ordentlich danebengegriffen. Mein Ex-Mann war hochgradig cholerisch. Cholerische Menschen machen mich krank. Und fast jeder Mann ist Choleriker. Der eine mehr, der andere noch mehr. Aber cholerisch sind sie alle", behaupte ich.

    Herr Gunthau schmunzelt. „Es gibt doch auch Ausnahmen", meint er folgerichtig.

    „Aber die lerne ich nicht kennen", erwidere ich trotzig.

    „Haben Sie denn schon mal nach den Ausnahmen gesucht?", fragt mein Psychotherapeut und hat mal wieder den richtigen Riecher. Also schweige ich und ziehe nur eine Flunsch.

    „Na gut, bricht Herr Gunthau diese Thematik ab. „Darüber können wir uns gern in der nächsten Sitzung unterhalten. Ich würde lieber noch einmal auf den Mann zurückkommen, der Sie überfallen hat. Konnten Sie ihn verhaften?

    Ich schüttle den Kopf. „Er hat mir nicht einmal die Chance gegeben, ihm ebenfalls eine zu verpassen. Bevor ich mich aufgerappelt hatte, war er weg. Es ist … es ist so, dass mir der Kerl nicht mehr aus dem Kopf geht. Auch wenn ich ihn nicht sehe, fühle ich mich von ihm verfolgt. Seine Unsichtbarkeit verschlimmert sogar meine Ängste. Verstehen Sie das?"

    „Aber selbstverständlich."

    „Wenn es nicht sein muss, gehe ich nachts nicht mehr raus. Und dabei habe ich eine Dienstwaffe und müsste mich sicher fühlen."

    „Sie standen unter Schock, meint Herr Gunthau. „Überfallen und geschlagen zu werden ist auch für Polizistinnen zum Glück kein Alltag. Ihre Reaktion ist völlig normal. Erzählen Sie mir bitte, wie sich alles abgespielt hat.

    Also berichte ich von meiner nächtlichen und mysteriösen Begegnung mit diesem Fremden. Die ersten beiden Male habe ich mich kurz mit ihm unterhalten, wobei ich nicht einmal mehr weiß, worüber. Gemerkt habe ich mir nur, dass er wohl keine Wohnung hat. Er lebt nach seinen Worten freiwillig unter dem Himmel oder – bei schlechtem Wetter – unter unserer Hängebrücke in Sassnitz.

    Was mich gewaltig stört, ist die Tatsache, dass er weiß, wo ich wohne. Ich sah ihn einmal von meiner Wohnung aus unter einer Straßenlaterne stehen. Er starrte zu mir nach oben und löste ein Gefühl aus, das alles andere als angenehm war. Und unsere vorläufig letzte Begegnung endete für mich sehr schmerzvoll. Vielleicht hätte ich nicht mit gezogener Waffe auf ihn losmarschieren dürfen, aber er stand als dunkles Schattenwesen nur ein paar Schritte von mir entfernt. Sein viel zu großer Mantel flatterte im Wind. Es war kurz vor oder nach Mitternacht. Und die ganze Situation war nicht nur gruselig, sondern erschien mir fast surreal. Also verlor ich meine Ängste, pumpte mich voller Adrenalin, zog die Waffe und raste ungebremst auf ihn zu. Bis zu dem Faustschlag. Diesem verdankte ich eine aufgeplatzte Lippe, ein mächtiges Hämatom unterhalb des Auges, eine stark in Mitleidenschaft gezogene Augenbraue und einen wochenlang schmerzenden Rücken, auf dem ich mit voller Wucht zum Erliegen gekommen war. Seitdem hasse ich eine weitere Person in meinem Leben. Und zum ersten Mal auch eine Bommelmütze.

    Meine Zeit ist abgelaufen. Das ist das Schlimme an diesen Therapiestunden: Sie sind zu Ende, bevor man über alles sprechen konnte. Aber auch Therapeuten sind nur arbeitende Menschen und ziehen die Reißleine, wenn sechzig Minuten vorüber sind. Wir verabreden die nächste Sitzung für die kommende Woche. Während ich warte, bis Herr Gunthau den Termin notiert hat, schaue ich nach draußen. Es ist dunkel geworden. Na, ganz toll aber auch. Da kann ich gleich mal testen, ob die heutige Sitzung schon Fortschritte erzielt hat. Ich verabschiede mich von Herrn Gunthau und gehe hinaus in die Finsternis. Als Erstes presse ich mich an die Hauswand. Dann gucke ich vorsichtig nach links und dann nach rechts. Mit Argusaugen schiele ich zwischen Bäume und Büsche. Aber niemand wartet auf mich. Weder der Bommelmützenmann noch ein anderer Mann, der mein neuer friedvoller Partner werden will. Nun ja, da kann man nichts machen. Ich prüfe, ob meine Waffe richtig sitzt und gehe langsam nach Hause.

    Das in Stein gemeißelte Grundgesetz besagt, dass ich zunächst meine Mutter anzurufen habe, sobald ich meine Wohnung betrete. Trotz dreißig absolvierter Therapiestunden hat sich daran nichts geändert. Und es wird sich daran auch nie mehr etwas ändern.

    Das Telefonat dauert nicht lange. Meine Mutter fragt, was es Neues bei mir auf Arbeit gibt.

    „Na ja, sage ich. „Viel hat sich heute nicht ereignet. Wir haben …

    „Wenn du nicht darüber reden willst, dann lass es eben bleiben, erwidert meine Mutter. „Das kenne ich ja. Mit dir kann man selten mal ein vernünftiges Gespräch führen. Ich vermute, dich interessiert nicht, was ich erlebt habe.

    „Also, so kannst du …", erhebe ich Einspruch.

    „Dann können wir das Telefonat ja auch beenden", sagt meine Mutter und legt auf.

    Unmittelbar darauf klingelt das Telefon erneut. „Nervenklau zeigt mein Display an. „Was ich dir noch sagen wollte, faucht meine Mutter in den Hörer. „Deine Art, so herzlos mit mir umzugehen, wird mich frühzeitig ins Grab bringen. Aber mach ruhig weiter so. Tu dir bloß keinen Zwang an. Irgendwann stehst du vielleicht mal an meinem Grab. Oder auch nicht. Aber für Reue ist es dann zu spät."

    Damit legt sie erneut auf. Nachdenklich blicke ich mein Telefon an. Seinen Vorgänger habe ich auf dem Laminat zerschmettert. Auch eine Folge einer gestörten Konversation mit meiner Mutter.

    Wieder klingelt das Telefon. „Du machst mich waaaaaahnsinnig!, brülle ich entnervt. Erst dann fällt mein Blick auf das Display. „AA, lese ich.

    „Oh, rufe ich freudig aus. „Das ist aber mal eine schöne Überraschung! Wie geht es dir? Wir haben so lange nichts voneinander gehört. Erzähl, ich bin ganz Ohr.

    Ich flitze zu meiner Sitzlandschaft und krieche in meine Lieblingsecke. Dort höre ich meiner besten Freundin Andrea Andreas zu, die mal wieder mit ihren Nerven am Ende ist. Andrea hat vier erwachsene Söhne, die sie allesamt permanent auf Trab halten. Bei keinem ist das Leben geradlinig verlaufen. Schule schwänzen, Ausbildungen abbrechen, Studien hinschmeißen, Lebensgefährtinnen den Laufpass geben, Kinder in die Welt setzen und Dauergast bei verschiedenen Arbeitsagenturen – so sieht der Alltag von Lucas, Leo, Lars und Lutz aus. Der Mann meiner Freundin heißt Hans und ist das Gegenteil von Andrea. Während sie sich um alles und jeden sorgt, schottet sich Hans von seiner Umwelt gekonnt ab. Er ruht in sich. Mit den Söhnen hat er abgeschlossen. Vielleicht ist das richtig. Vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall ist er keine Stütze für meine Freundin.

    „Seit Wochen habe ich kein Lebenszeichen mehr von Lucas bekommen", sagt Andrea und schluchzt leise auf.

    „Aber das ist doch nichts Neues, werfe ich ein. „Lucas bricht doch manchmal jeglichen Kontakt über Monate hinweg ab.

    „Das stimmt schon, meint sie niedergeschlagen, „aber in letzter Zeit hatte sich unser Verhältnis gebessert. Er kam oft zu uns nach Hause. Und plötzlich antwortet er nicht mehr. Ich habe ihm auf die Mailbox gesprochen, und ich sende fast jeden Tag eine SMS. Aber nichts. Ich mache mir Sorgen, Jessica. Ich liege jede Nacht wach und fühle, dass etwas Schlimmes passiert ist. Ich fühle das.

    „Wo wohnt Lucas denn derzeit?"

    „Keine Ahnung, haucht Andrea in die Leitung. „Irgendwo hier auf der Insel, schätze ich. Kannst du versuchen, ihn zu finden?, wimmert sie.

    „Ja klar", sage ich sofort, denn ein paar Möglichkeiten hat man dann doch bei der Polizei. Zugute kommt mir, dass wir derzeit nur Lappalien zu bearbeiten haben. Ein paar Kellereinbrüche, zwei Autodiebstähle, eine Schlägerei als Krönung eines Junggesellenabschieds – das warʼs dann auch schon.

    „Wie geht es denn den anderen Jungs?"

    Herr Gunthau würde jetzt sagen, dass meine Frage nicht gerade optimal war. Andrea erleidet einen schweren Weinkrampf. Ich verstehe nur so viel, dass Lars zu der Erkenntnis gelangt ist, in Bayern nicht dahoam zu sein. Der Rest geht im Schluchzen unter.

    „Gib mir mal Hans an den Apparat", sage ich mit energischer Stimme.

    „Der … trinkt sich … das Leben schön."

    „Dein Mann säuft!, rufe ich erstaunt aus. „Der hat doch früher kaum mal eine Flasche Bier angesehen, geschweige denn leergetrunken.

    „Das Leben besteht … aus Veränderungen. Andrea schnäuzt sich. „Entschuldige, dass ich dir den Feierabend versaut habe, sagt sie leise.

    „Red keinen Unsinn. Gleich morgen versuche ich, Lucas zu finden, verspreche ich. „Und wir müssen uns treffen, hörst du? Am besten auch gleich morgen.

    „Und was erzählst du deiner Mutter?"

    „Die Wahrheit. Ich erzähle ihr, dass wir uns treffen. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie mit mir dumm tut, liegt immerhin bei einhundert Prozent."

    „Da ist was dran, schnieft Andrea, sagt: „Gute Nacht und legt auf.

    Ich wühle in meinem Schrank und stelle enttäuscht fest, dass ich es versäumt habe, meinen französischen Lieblingslikör zu kaufen. Ohne die beruhigende Wirkung mehrerer Gläser Grand Marnier schlafe ich mehr schlecht als recht und werde von wilden Träumen geplagt: Ich renne der Leitkuh hinterher, die komischerweise eine Bommelmütze trägt, und jage sie durch unseren herrlichen Jasmunder Nationalpark. Am Hochuferweg habe ich sie beinahe eingeholt. Sie rutscht aus und kommt ins Straucheln. Während sie um Hilfe schreit, dreht sie ihren Kopf zu mir. Der Rest ihres Körpers bewegt sich nicht. Das macht mir Angst, und während ich die Augen aufreiße, stürzt die Leitkuh schreiend in den Abgrund. Damit hat die verstörende Nacht doch noch ein gutes Ende gefunden. Blinzelnd starre ich auf den Wecker. In fünf Minuten wird er unbarmherzig klingeln. Ich stelle ihn aus, setze mich auf die Bettkante und sehe nach draußen. Ein paar Flocken wirbeln herum. Die Nachboten des heftigen, kurzen Wintereinbruchs, den wir vor wenigen Tagen erleben durften. Jedes Flöckchen heiße ich grundsätzlich herzlich willkommen. Ich rede mir dann immer ein, dass die allgegenwärtige Klimakatastrophe vielleicht doch nicht ganz so nah ist, wie man uns glauben machen will.

    Jedenfalls hilft mir der leichte Schneefall, den Tag mit Elan zu beginnen. Nach der ausgiebigen Dusche genieße ich in Ruhe mein Frühstück. Eine Menge Mehrarbeitsstunden gilt es abzusetzen. Bevor ich meine Wohnung verlasse, rufe ich meine Mutter an.

    „Dein Anruf kommt ungünstig, sagt sie. Wobei ihre Stimme ausgesprochen freundlich klingt. „Ich mache mich gerade für die Schule fertig.

    Ich verspüre einen heftigen Stich und schließe die Augen. Schon einmal hat mich meine Mutter mit einer ähnlichen Aussage aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Die Hausärztin meiner Mutter ist jedoch der Meinung, dass weniger Demenz als vielmehr wohlüberlegte Gerissenheit meine Mutter zu derlei Äußerungen treibt. Sie weiß, dass sie mich damit noch mehr an sich binden kann. Ich hole tief Luft und höre meine Mutter lachen. „Brauchst dir keine Sorgen zu machen, sagt sie. „Das war doch nur Spaß.

    „Ja, schön, wenn das so ist", stottere ich. Ich lache trotzdem nicht.

    Meine Mutter erklärt, sie müsse jetzt einkaufen gehen und wünscht mir einen schönen Tag. Ich lege auf. Mein Vorhaben, mit meinem neuen Skoda zum Dienst zu fahren, verwerfe ich. Nachdenklich gehe ich durch den dichter werdenden Schneefall zum Präsidium.

    Als Erster läuft mir Wilfried Winterstein über den Weg. In letzter Zeit achtet er extrem auf sein Äußeres. Die Zeiten, in denen er als stinkende Vogelscheuche durch Sassnitz schlich, sind vorbei. Willi rasiert sich täglich, kämmt seine drei verbliebenen Haare und hat sich neu eingekleidet. Er ist sogar der Meinung, ein paar Kilogramm abgenommen zu haben. Vielleicht liegt es daran, dass ihn derzeit niemand bekocht und er mit seiner zu einem Werwolf mutierten Hündin namens Sally viel durch die Gegend läuft.

    „Heute ist mein großer Tag", sagt Willi und lädt mich zu einer Tasse Kaffee ein. In unserer Teeküche wird fast ausnahmslos Kaffee gekocht, wobei wir uns kollegial abwechseln. Winterstein, Bollermann, Olli Teichert und ich. Wenn unser Sachse kocht, schmeckt der Kaffee am besten.

    Ich trotte hinter Willi her und fläze mich auf einen der Besucherstühle in seinem kleinen Büro. „Was findet denn heute statt?", erkundige ich mich und nehme dankend eine Tasse dampfenden Kaffees entgegen.

    „Meine Scheidung."

    „Na, Gott sei Dank", stoße ich hervor. Ich bin heilfroh, dass Willi seiner russischen Edelnutte nun endlich den Laufpass gibt. Das kann für ihn nur gut sein. Ich würde mich freuen, wenn seine beiden Töchter die Verbindung zu ihrem Vater wieder aufnehmen würden, aber die scheinen fest zu ihrer Mutter zu halten und kein Bedürfnis zu haben, ihren Vater zu sehen.

    Willi guckt nachdenklich in seine Tasse. „Es ist doch richtig, dass ich mich scheiden lasse, oder?"

    „Ist das dein Ernst, oder verarschst du mich?"

    Willi hebt die Schultern. „Es ist immerhin endgültig."

    „Na, das soll es doch auch sein!, rufe ich leidenschaftlich aus. „Deine Elena hat dich jahrelang betrogen. Zuletzt mit eurem Therapeuten in deinem eigenen Bett. Der sollte eigentlich eure Ehe retten. Sei doch froh, dass jetzt endlich alles vorbei ist! Bekommst du tatsächlich Zweifel? Willi, du spinnst hochgradig. Notfalls prügele ich dich zum Richter.

    „Es wäre mir eine Ehre", murmelt Willi.

    „Und? Schaffst du es, oder soll ich dich begleiten?"

    „Ich bin ein echter Mann und schaffe das allein", behauptet Winterstein. Ich habe da so meine Bedenken, sage aber nichts Gegenteiliges.

    Es klopft, und Bollermann und unser IT-Experte Oliver Teichert betreten das Büro. Olli Teichert ist derzeit nicht annähernd ausgelastet. Seine Ideen, unser Präsidium sozial in allen Netzen zu vernetzen, damit Opfer und Verbrecher oder auch nur stinknormale Personen unsere Tweets retweeten können, finden bei unserem Staatsanwalt Dr. Richard Vogel nicht mehr so recht Gehör. Im Gegenteil. Teicherts letzter Vorschlag sorgte für einen geradezu beeindruckenden Anschiss seitens unseres Staatsanwaltes. Das war gut. Denn so musste ich Teichert nicht verbal zur Sau machen. Unser Schwergewicht hatte den glorreichen Einfall, verschiedenfarbige Klebezettel im Foyer auszulegen, damit der wartende Bürger seine Zeit mit entspannenden Übungen überbrücken kann. „Man könnte beispielsweise aus grünen Klebezetteln einen Tannenbaum kreieren", schlug Teichert vor. Er war schon mal mit gutem Beispiel vorangegangen und hatte an eines der Fenster einen aus Millionen roten Zetteln bestehenden großen Pfeil aufgeklebt, der in Richtung Eingang zeigte. Dafür wurde er zunächst von unserer passiven Putzfrau Anne-Marie Dänzel-Trentzsch zur Brust genommen. Es war das erste Mal, dass ich mit ihr einer Meinung war.

    In unserer anschließenden Besprechung erntete Teichert dann zuerst fragende Blicke, danach Skepsis ob der Ernsthaftigkeit seines Vorschlages. Und zuletzt entlud sich ein heftiges Gewitter über den Kopf von Hasi-Mausi, wie er von seinem Lebenspartner Dr. Henning Wahlberg liebevoll genannt wird. Winterstein brüllte, ob Teichert nichts Besseres zu tun habe und ob ihm eigentlich bewusst sei, wofür er sein Geld bekomme. Vogel wurde noch deutlicher. Er wies Teichert an, seine Tätigkeitsdarstellung zu lesen und sich an den dort aufgeführten Aufgaben zu orientieren. Er verbot ihm mit sofortiger Wirkung alle weiteren sinnfreien Kindereien.

    Seitdem ist es um Teichert sehr ruhig geworden.

    „… euch alle ein", sagt er gerade.

    „Mach das bloß nicht", rät Willi. Bollermann meint, dass das jeder für sich allein entscheiden muss.

    „Ich kann nur abraten", beharrt Winterstein.

    Ich gucke mal wieder dumm aus der Wäsche, da ich von Teicherts Rede nichts mitbekommen habe.

    „Der Kerl will heiraten, erklärt Willi und winkt ab. „Sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Teichert. Heiraten! Und dann noch den Wahlberg. Mensch, wie kann man nur so blöd sein? Unser Rechtsmediziner liebt höchstens seine Leichen. Das müsstest du doch mittlerweile gemerkt haben.

    Teichert wird dunkelrot. „Ich möchte nicht, dass über meinen Schatz derart gesprochen wird. Henning ist ein liebevoller und einfühlsamer Mensch, der …" An dieser Stelle erntet er ein dreistimmiges kollegiales Gelächter.

    „Wir sprechen aber schon von ein und derselben Person, oder?, frage ich Teichert. „Wissen Sie, wir kennen Dr. Wahlberg schon seit Jahren. Und er ist uns allen ausnahmslos nur als gefühlloses Mons… äh, schlechter Mensch über den Weg gelaufen.

    Teichert guckt griesgrämig drein. „Henning ist der Beste, behauptet er und nimmt den Faden wieder auf. „Die Vorbereitungen für unsere Wedding laufen seit Wochen auf Hochtouren. Wir planen einen gewaltigen Polterabend mit allem Drum und Dran. Und die Wedding wird pompös. Und ihr seid alle ganz herzlich eingeladen.

    Teichert strahlt uns erwartungsvoll an. Was soll ich da machen? Ich strahle spärlich zurück und bedanke mich artig. Winterstein bleibt ehrlich. „Du rennst voll in die Katastrophe, murmelt er. „Aber trotzdem danke.

    Bolle erklärt, dass er für solche Feiern eigentlich nichts übrighat. Aber für Teichert mache er mal eine Ausnahme. „Nur für dich, sagt er. „Nicht für Dr. Wahlberg.

    Teichert klatscht vor Freude in die Hände und erzählt uns schon mal vorab, was alles geplant ist. „Eine Livekapelle ist schon arrangiert. Und das Buffet wird gewaltig, schwärmt er. „Ich sammle schon Ideen für Gesellschaftsspiele, und vielleicht gibt es sogar ein kleines Feuerwerk.

    „Um Gottes willen, sagt Winterstein theatralisch. „Denkt mal einer an das Klima? Und was soll denn die ganze Scheiße kosten? Warum glauben die Leute heutzutage, dass sie mit überdimensionalen Feiern ihre Mitmenschen beeindrucken müssen? Da wird Hinz und Kunz eingeladen, bloß, um auf einhundert Personen verweisen zu können. Ich begreife das alles nicht mehr.

    „Mit wie vielen Gästen rechnen Sie denn zu Ihrem Polterabend?", frage ich, obwohl mich das eigentlich nicht interessiert. Ich habe nur etwas Mitleid mit Teichert, der immer kleiner geworden ist. Wenn ich Teichert wäre, würde ich auf einen Polterabend verzichten. Wer soll da kommen? Wahlberg hat keine Freunde. Ob er eine Familie hat, ist mir nicht bekannt. Vielleicht hat er nicht mal eine Mutter. Denn ich hege schon lange den Verdacht, dass Wahlberg ein Roboter sein könnte. Teicherts Privatleben ist mir ebenfalls ein Buch mit sieben Siegeln. Nachdenklich kratze ich mich am Kinn. Früher, als Dieter Oertel noch unser Dienstvorgesetzter war, war alles anders. Ich weiß nicht, ob das ein Verdienst des Vorgängers unserer dämlichen Leitkuh war, auf jeden Fall wussten wir alle voneinander alles. Und das war schön. Heute habe ich nur noch zu Winterstein so ein Verhältnis.

    „Hat die Leitkuh eigentlich einen Mann oder Kinder?", frage ich in die Runde. Die drei Herren gucken mich verständnislos an.

    „Wie kommst du plötzlich auf die hohle Kuh?", erkundigt sich Winterstein, der sie noch mehr hasst als ich. Was eigentlich nicht möglich ist.

    „Vergesst es", sage ich und winke ab.

    „Fünfzig", sagt Teichert.

    „Die Leitkuh hat fünfzig Kinder?", frage ich dümmlich nach. Denn ich habe den Faden verloren.

    „Wir rechnen mit fünfzig Gästen zu unserem Polterabend."

    „Wo sollen die denn herkommen?, frage ich fassungslos. „Haben Sie die Top-Einhundert Ihrer fünf Millionen Social-Media-Freunde angeschrieben?

    Teichert nimmt es gelassen. „Natürlich habe ich es überall gepostet, erklärt er. „Da kommt bestimmt eine große Meute zusammen.

    „Aber da ist niemand dabei, den Sie wirklich kennen, oder?"

    Teichert ist heute nicht aus der Ruhe zu bringen. „Ein paar von denen kenne ich schon. Und es kommen ja auch einige vom Schachverein. Und mein Henning rechnet mit vielen seiner Studienfreunde."

    Wir sagen nichts mehr. Warum sollen wir Teicherts Optimismus mit aller Macht kaputt machen? „Ich habe eine Aufgabe für Sie, sage ich stattdessen. Olli Teichert sieht mich erwartungsvoll an. „Versuchen Sie mal, über Ihre Kanäle nach einem Lucas Andreas zu suchen. Lucas ist der Vorname.

    „Und wer ist das?", erkundigt sich Teichert.

    „Der Sohn meiner Freundin, gebe ich ehrlich Auskunft. „Sie macht sich Sorgen. Er ist wohl mal wieder verschwunden. Und sie glaubt, es könne etwas Schlimmes passiert sein.

    „Logisch", sagt Teichert und watschelt in sein Büro.

    Den Rest des langen Tags versuchen wir uns nützlich zu machen. Ich habe mir die verschiedenen Kellereinbrüche an Land gezogen. Einer weckt mein besonderes Interesse. Bei einem Herrn Lautergast wurden fünf Schaufensterpuppen entwendet. Diese Tatsache weckt meine Neugier, und gleichzeitig frage ich mich, warum man Schaufensterpuppen im Keller hat. Also rufe ich bei Herrn Lautergast an. Er zeigt sich hocherfreut, als er eine Stimme der Polizei vernimmt, und ein Redeschwall geht auf mich nieder. Sehnsüchtig blicke ich nach draußen.

    „Wissen Sie was, unterbreche ich Herrn Lautergast, „ich denke, ich komme gleich mal bei Ihnen vorbei. Und dann können Sie mir alles in Ruhe erzählen. Herr Lautergast versichert mir, sich wahnsinnig auf mich zu freuen. Das machen erfahrungsgemäß sehr wenige. Und Herr Lautergast kennt mich ja auch noch nicht. Ich flöte, dass ich mich ebenfalls freue und trotte aus dem Präsidium.

    Unterwegs begegne ich ein nur wenigen Menschen, die allesamt recht mürrisch dreinblicken. Vermutlich können sie dem Winterwetter wenig Gutes abgewinnen. Jedenfalls genieße ich den bezahlten Spaziergang in Richtung Jasmunder Nationalpark. Herr Lautergast wohnt nur einen Steinwurf davon entfernt in einem Mehrfamilienhaus. Ich habe den Finger gerade mal so auf den Klingelknopf gelegt, da höre ich bereits den Türsummer. Ein großer und sehr hagerer Herr Anfang siebzig öffnet mir mit einem umwerfenden Lächeln die Tür. „Frau Inspektorin, seien Sie mir herzlich willkommen", lauten seine Begrüßungsworte. Er wirkt ausgesprochen gepflegt und empfängt mich in Ausgehgarderobe: schwarze Hose, weißes Hemd, dunkelgrauer Pullover. Während unseres anhaltenden Händeschüttelns versichert mir Herr Lautergast noch einmal, wie sehr er sich über die Präsenz der Polizei freue.

    „Ganz meinerseits, antworte ich. Mein schicker Gastgeber hilft mir aus dem Wintermantel, dienert vor mir her und bietet mir Platz an. „Ich hole nur noch den Kaffee und die Torte. Mit diesen verheißungsvollen Worten enteilt er aus meinem Blickfeld.

    Neugierig schaue ich mich um. Das Mobiliar stammt vermutlich aus dem vergangenen Jahrhundert. Aber es ist gut erhalten. Ich könnte mir vorstellen, dass Herr Lautergast jeden Tag mit Möbelpolitur seinen Erbstücken zu neuem Glanz verhilft. Auf einer Anrichte stehen an die fünfzig Fotografien. Und ausnahmslos auf jeder Aufnahme erkenne ich Herrn Lautergast. Aber die Personen an seiner Seite wechseln permanent: Einmal steht er neben einem Stammeshäuptling. Dann ist es eine beleibte Trümmerfrau, der Lautergast den Arm um die Hüfte legt. Lautergast neben einem Clown. An der Seite eines Barkeepers. Inmitten von Schülern. Am Busen einer Ärztin. Was hat denn der Mann bloß für eine Vergangenheit? Beim letzten Foto blinzle ich ungläubig. Lauterbach umarmt Hitler.

    „Der Führer war einer meiner besten Freunde."

    Erschrocken fahre ich herum. Ich habe nicht gemerkt, wie Lautergast zurückgekommen ist. „Was Sie nicht sagen?"

    Lautergast bricht in ein zurückhaltendes Lachen aus. „Ich spreche natürlich von dem Schauspieler, der in die Rolle Hitlers schlüpfte."

    „Ja, klar. Das dachte ich mir. Sie haben also in einem Theater gearbeitet?"

    Lautergast schenkt Kaffee ein und schiebt mir ein Stück Sahnetorte auf den Teller aus Meißener Porzellan. In Anbetracht der teuren Erbstücke verzichte ich auf meine Angewohnheit, den Teller in die Hand zu nehmen. Voller Respekt betrachte ich das Service. Herr Lautergast hüstelt verlegen. „Nur keine Scheu, Frau Inspektorin, meint er. „Es wird schon nichts kaputt gehen. Und selbst wenn? Wen stört es? Ich kann niemandem mehr etwas vererben. Zu meinem Leidwesen habe ich nie eine Frau gefunden. Alle diese wunderschönen Schätze werden irgendwann einmal auf dem Müll landen.

    „Das wäre ja eine Sünde", sage ich und genieße meine Sanddornsahnetorte.

    „Wie wahr, stimmt Herr Lautergast zu. Traurig sieht er mich an. „Um auf Ihre Frage zurückzukommen. Ja, ich habe am ältesten Stadttheater der Welt gearbeitet.

    „Ist das Ihr Ernst? Und wo befindet sich das?"

    „In Freiberg. Das ist ein Ort in Sachsen."

    „FREIBERG!?, kreische ich los. „Sie kommen ursprünglich aus Freiberg?

    Mein Gefühlsausbruch verunsichert meinen Gastgeber enorm. „Das ist eine schöne Stadt", murmelt er zu seiner Entschuldigung.

    „Weiß ich doch, winke ich gönnerhaft ab. „Einer meiner Kollegen ist ebenfalls aus Freiberg. Ich habe ihn erst vor Kurzem begleitet und ein paar Tage meines Urlaubs dort verbracht.

    Lautergast strahlt. „Dann gibt es noch einen Freiberger in Sassnitz? Wahnsinn. Den muss ich kennenlernen."

    „Dafür kann ich sorgen", verspreche ich.

    Herr Lautergast schaut verklärt in seine Kaffeetasse und schüttelt ungläubig den Kopf. Dann kommt er auf sein Arbeitsleben zurück. „Ich habe sozusagen hinter der großen Bühne gearbeitet. Ich war eigentlich für alles zuständig. Für die Requisiten, für die Bühnentechnik, für die Beleuchtung und, gestatten Sie mir bitte diese Ausdrucksweise, auch für den guten Ton."

    „Und die Schaufensterpuppen stammen aus dieser Zeit?", arbeite ich mich an mein ursprüngliches Anliegen heran.

    „Die meisten. Sie sind Erinnerungen an eine wunderschöne, längst vergangene Epoche, antwortet er dramatisch. „Ich durfte einige Kostüme mitnehmen. Einige habe ich selbstverständlich auch käuflich erworben. Mein Keller ist mein eigentliches Heim. Kommen Sie mit!, ruft er aus. „Ich zeige Ihnen meine Schätze."

    „Was, jetzt gleich?", frage ich enttäuscht. Dabei schiele ich auf ein zweites Stück Torte. Herr Lautergast versichert mir, dass die Torte nicht so schnell ungenießbar wird. Also stehe ich schweren Herzens auf und folge ihm.

    Der Keller wurde zu einem kleinen Theater umfunktioniert und beeindruckt mich gewaltig. An den Wänden hängen teils vergilbte Poster, die verschiedene Aufführungen ankündigen. Überall stehen Büsten und Schaufensterpuppen, die imposante Kostüme tragen. Jede Ecke beherbergt Requisiten. Ein großer Leuchter sorgt für helles Licht. Ich erkenne nicht ein einziges Staubkörnchen.

    „Das ist meine Welt", erklärt Herr Lautergast überflüssigerweise.

    „Und aus diesem Raum wurden Ihnen die fünf Schaufensterpuppen gestohlen?"

    „Nein, nein. Die waren ganz neu und standen auf dem Kellerflur."

    „Und wer wusste davon? Außer Ihren Nachbarn, natürlich."

    „Tja, das ist mir ehrlich gesagt ein Rätsel", antwortet Herr Lautergast, während er einen nicht vorhandenen Fussel von einem Kostüm pustet.

    „Wo haben Sie die Puppen gekauft?" Ich inspiziere Lautergasts privates Theater und bleibe vor einer Puppe stehen.

    „Das ist die Csárdásfürstin, erklärt er. „Sieht sie nicht herrlich aus?

    „Hollywood wäre neidisch." Meine innere Stimme sagt mir, dass Lautergast offen für Komplimente ist.

    Sein breites Lächeln bestätigt die Richtigkeit meiner Annahme. „Ich habe sie im Internet bestellt."

    „Wann wurden sie geliefert?"

    Lautergast hat nicht nur das Datum, sondern sogar die Uhrzeit parat.

    „Und wann haben Sie den Diebstahl bemerkt?", taste ich mich weiter voran.

    „Exakt vor drei Tagen, vormittags um zehn Uhr." Lautergast beginnt, auf einer alten Kommode Staub zu wischen, bevor der sich dort niederlassen kann.

    „Mal angenommen, bei dem Dieb handelt es sich nicht um einen Ihrer Nachbarn, wie konnte derjenige ins Haus gelangen?"

    „Meine Nachbarn schließe ich als Verdächtige komplett aus, antwortet Lauterbach mit dem Brustton der Überzeugung. Er poliert eine blitzeblanke Tischlampe. „Es kommen nur Fremde infrage. Und leider steht die Haustür manchmal offen.

    „Hm, sage ich. „Wer weiß von Ihrem Hobby, derartige Puppen anzukleiden?

    „Nur die Hausbewohner. Ich kenne sonst niemanden, dem ich es erzählen könnte. Wie gesagt, ich lebe allein. In meiner Jugend habe ich anfangs auch nach einer Frau gesucht. Aber dann kam ich immer besser allein zurecht. Und mittlerweile liebe ich die Einsamkeit."

    „Die Einsamkeit kann man lieben?" Ich spüre, wie ein wenig Neid aufkommt.

    „Wenn man sonst niemanden hat." Der Neid verfliegt und macht Platz für Panik. Herr Gunthau hat völlig recht. Ich muss mich endlich mal nach einem potenziellen Lebenspartner umsehen.

    „Wie sehen denn Ihre nächsten Ermittlungsschritte aus, wenn ich fragen darf?" Herr Lautergast reißt mich aus meinen Überlegungen. Er greift zu einem Handstaubsauger und beginnt, ein altes Plüschsofa vorsichtig zu reinigen.

    „Ja, wie sehen die aus?", stelle ich die Gegenfrage. Ich denke an das Stückchen Torte, das ich abschreiben kann, und frage mich, ob meine Besoldungsgruppe vielleicht nicht zu hoch ist, um nach verlorengegangenen Puppen zu suchen.

    „Was haben Sie denn für die fünf Puppen bezahlt?"

    „Meine Puppen waren hochpreisig, denn sie müssen lebensecht wirken. Auf den ersten Blick darf man nicht erkennen, dass es sich nur um Puppen handelt."

    „Aha", sage ich. Vor meinem geistigen Auge erscheint eine besonders attraktive Puppe mit dem Namen Einsamkeit. Und neben ihr steht Herr Lautergast und …

    „Das Material besteht aus Fiberglas. Es ist sehr leicht und gut händelbar."

    „Das hab ich mir schon gedacht", murmele ich, während ich den wie besessen putzenden Theaterpensionär beobachte.

    „Und wissen Sie auch, dass es sowohl Frauen als auch Männer gibt?"

    „Sie werden es nicht glauben, aber das ist mir nicht neu", antworte ich grinsend.

    Lautergast lacht verlegen auf. „Ich meinte bei den Puppen. Obwohl, also … wie soll ich es sagen?"

    „Sagen Sie es einfach."

    „So einfach ist das nicht, stottert Lautergast. „Das entscheidende kleine Stück fehlt bei den männlichen Puppen. Er schielt mich verlegen an, und eine ungesunde Röte überzieht sein Gesicht.

    „Welches Stück meinen Sie?", frage ich beiläufig.

    Auf Lautergasts Stirn bilden sich Schweißtröpfchen. Er tut mir ein wenig leid. Der Mann hat nicht verdient, von mir in die Enge getrieben zu werden.

    „Ich kann es mir denken, beruhige ich ihn. Trotzdem muss ich ihm der Form halber noch eine Frage stellen. „Bei den weiblichen Puppen fehlt nichts?

    Der arme Herr Lautergast windet sich wie ein Aal. „Also, nein … da ist dann oben … oben ist … wie soll ich es ausdrücken?"

    „Die Puppen haben Brüste", komme ich ihm zu Hilfe. Der kichert albern und senkt beschämt den Kopf. Sein kindisches Lachen und seine Jagd auf nicht vorhandenen Schmutz zeugen davon, dass es auf Dauer wohl doch nicht gut ist, nur mit der Einsamkeit ein Verhältnis zu haben.

    „Zweihundert Euro", stößt er irgendwann hervor.

    Ich überlege, was er damit meinen könnte.

    „Sie fragten nach dem Preis einer Puppe." Lautergast hat sich wieder gefangen.

    „Du meine Güte", sage ich fassungslos.

    „Man hat ja sonst nichts."

    Ich verabschiede mich vom Staub jagenden Herrn Lautergast. Der hat Fahrt aufgenommen und beginnt, die Scheuerleisten abzuwischen. Als ich ins Freie trete, weht mir ein heftiger Wind riesengroße Flocken ins Gesicht. Ich habe jetzt zwei Optionen. Entweder gehe ich zurück ins Präsidium. Oder in den Jasmunder Nationalpark. Option eins wird gestrichen. Und drei Minuten später bin ich dort, wo mein zweites zu Hause ist.

    Zunächst bleibe ich ein paar Minuten am Hochuferweg stehen und genieße den herrlichen Ausblick auf die See. Die alten Buchen, von denen viele waagerecht über der Felskante hängen und tapfer ums Überleben kämpfen, sind natürlich noch kahl. Ich staune, dass es schneit. Denn über dem Wasser sind große Wolkenlücken, zwischen denen sich die Sonnenstrahlen ihren Weg bahnen. Sie tauchen die Ostsee in ein beeindruckendes Farbenspiel. Unglaublich, wie viele Blautöne die Natur hervorzaubern kann.

    Dann laufe ich langsam los. Der Wind bläst heftig und bringt die Wipfel der Buchen mächtig ins Schwanken. Unter mir höre ich tosend die Brandung. Ansonsten ist es still. Still und einsam. Ich bin allein mit mir und meinen Gedanken. Diesen immer wiederkehrenden Gedanken an Sebastian, an meine Mutter und die aberwitzig doofe Leitkuh. Bringen Sie Ihre Gedanken in geordnete Bahnen, höre ich die mahnende Stimme von Herrn Gunthau. Ich nicke und eröffne die nächste zermürbende Schleife. Dieter Oertel, mein ehemaliger und mittlerweile von mir vergötterte Dienstvorgesetzte, schiebt sich jetzt ebenfalls in meine Gedankenwelt. Ach Mädel, wo soll das bloß mit dir enden?, erkundigt er sich.

    „Ich weiß es nicht, führe ich Selbstgespräche. „Wir hatten eine so wunderbare Zeit, Dieter. Du hast mich gefördert und gefordert. Du wusstest, wie viel du mir zumuten konntest. Du hast mich motiviert und gelobt. Und wenn ich mal Scheiße gebaut habe, dann tat mir deine Kritik nicht einmal weh. Denn du warst einfühlsam und hast mich nicht einfach so zusammengeschissen, wie es die Leitkuh macht. Du fehlst mir so, Dieter, schniefe ich.

    Du solltest dir nicht alles so sehr zu Herzen nehmen, sagt Oertel und legt mir liebevoll eine Hand auf die Schulter.

    „Mir fehlt jemand, an den ich mich anlehnen kann, vertraue ich meinem Ex-Dienstvorgesetzten an. „Ich bin gar nicht so stark, wie manche denken. Bin ich nicht, sage ich und beginne tatsächlich, Tränen zu vergießen. „Ich bin eigentlich ein sehr sensibler Mensch."

    Das weiß ich doch, versichert mir der imaginäre Oertel.

    „Wenn du nicht gewesen wärst, würde ich vielleicht immer noch auf Streife gehen. Aber du hast gemerkt, was in mir steckt und hast mich Verantwortung übernehmen lassen. Wir waren ein so tolles Team!, rufe ich leidenschaftlich aus. „Warum bist du Arsch so zeitig in den Ruhestand gegangen?, brülle ich entnervt durch den menschenleeren Buchenwald. „Und warum bist du nicht mehr hier, Sebastian?", brülle ich noch lauter. Dann lehne ich mich an eine alte Buche, rutsche kraftlos am Stamm herunter und bleibe auf dem kalten und feuchten Boden sitzen. Ich schließe die Augen und heule hemmungslos. Mein Selbstmitleid und meine Verzweiflung sorgen für ungeahnte Steigerungen. Aber irgendwann kann ich nicht mehr. Ich sitze schlotternd und hundemüde am Fuß der Buche. Das Tosen der Meeresbrandung wirkt beruhigend auf mich. Obwohl mir saukalt ist, bleibe ich apathisch sitzen. Ich habe das Gefühl, dass mich meine Probleme derzeit erdrücken. Ich fühle mich kraftlos wie schon lange nicht mehr. Und noch immer hocke ich nur so da. Eine gefühlte Ewigkeit. Dann überfällt mich mit einem Male eine wahnsinnige Unruhe, die geradezu übermächtig wird. Ich bin sicher, hier oben nicht mehr allein zu sein. Und doch kann ich mich nicht zwingen, endlich die Augen zu öffnen. Stattdessen hocke ich auf dem nasskalten Boden und warte darauf, dass irgendetwas passiert. Aber was soll passieren? Etwas Schönes vielleicht? Steht tatsächlich mein Traummann vor mir? Nett und einfühlsam und rücksichtsvoll und gebildet und zärtlich und humorvoll und … Aber Sie denken schon noch an einen Mann, oder?, fragt mich Herr Gunthau.

    „Wo kommen Sie denn plötzlich her?", wundere ich mich.

    „Von dort."

    Diese Stimme kenne ich nicht. Und nun zwinge ich mich, die brennenden Augen zu öffnen. Ich blinzele ungläubig und wische mir mit der Hand über mein Gesicht.

    Es ist nicht Herr Gunthau, der mit ausgestrecktem Arm in die Richtung zeigt, aus der er gekommen ist. Dessen Stimme war nur in meinem Kopf.

    Der Mann, der meine Frage beantwortet hat, trägt eine Bommelmütze.

    Keine zwanzig Meter von mir entfernt steht er mit seiner mir verhassten Kopfbedeckung mitten auf dem Hochuferweg. Er steht genauso starr und steif wie bei unserer letzten Begegnung. Nur damals war es Mitternacht. Und der trübe Schein der Straßenlaternen ließ die Szenerie noch gespenstischer erscheinen.

    Mit klammen Fingern greife ich nach meiner Waffe. Mühsam komme ich auf die steifen Beine. Meine Füße sind eingeschlafen. Oder erfroren. Auf jeden Fall spüre ich sie nicht mehr und kann kaum stehen. „SIE!, donnere ich durch den Wald. „Bewegen Sie sich nicht! Und heben Sie die Hände hoch! Wie von Sinnen stürme ich auf den bewegungslosen Bommelmützenträger los. Oder besser: Ich möchte das. Aber meine Füße gehorchen mir nicht.

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