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Rügener Haie: Kommissarin Burmeisters zweiter Fall. Insel-Krimi
Rügener Haie: Kommissarin Burmeisters zweiter Fall. Insel-Krimi
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eBook498 Seiten6 Stunden

Rügener Haie: Kommissarin Burmeisters zweiter Fall. Insel-Krimi

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Über dieses E-Book

Als Kriminaloberkommissarin Jessica Burmeister Ruhe an Rügens steiniger Küste sucht, wird ihr sprichwörtlich eine Leiche vor die Füße gespült. Dass der Luxusimmobilienmakler Carsten Kortus in seiner eigenen Badewanne umgebracht und danach in die Ostsee geworfen wurde, ist schnell ermittelt, doch der Rest des Falls gestaltet sich für Burmeister und ihr Team bedeutend komplizierter. Irgendetwas scheint faul an der ganzen Geschichte: Der Hauptverdächtige, der Geschäftspartner des Opfers, hat ein hieb- und stichfestes Alibi vorzuweisen, und dann stellt sich ein Unschuldiger. Während Burmeister den Zeugen auf den Zahn fühlt, kämpft sie mit den Vorgesetzten, ihrer anstrengenden Mutter, ihrem Sohn und dessen neuer Freundin sowie mit den Eheproblemen ihres Kollegen Winterstein. Es dauert eine Weile, bis sich der Knoten im Netz der Intrigen löst...

SpracheDeutsch
HerausgeberSchardt Verlag
Erscheinungsdatum29. Nov. 2017
ISBN9783961521364
Rügener Haie: Kommissarin Burmeisters zweiter Fall. Insel-Krimi

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    Buchvorschau

    Rügener Haie - Sylvia Voigt

    EINS

    Ich sitze auf meinem Lieblingsbaumstumpf, lasse die Beine baumeln und starre auf die schroffe Steilküste, die von den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne in rötliches Licht getaucht wird. Eine leichte Brise sorgt für kleine Wellen, deren sanftes Rauschen beruhigend auf mich wirkt.

    An diesem frühen Morgen habe ich das steinige Ufer im kleinsten Nationalpark Deutschlands fast für mich allein. Nur ein paar Möwen, Kormorane und Schwalben, die mit Vorliebe ihre Brutlöcher in die Kreidefelsen picken, leisten mir Gesellschaft. Ansonsten macht mir niemand meinen Platz streitig. Ich genieße die Ruhe, die derart intensiv ist, dass ich sie fast schon wieder hören kann. Die Ruhe – und mein permanentes Quietschen im Ohr. Ich seufze.

    In letzter Zeit leide ich unter massiven Schlafstörungen, beängstigend nervösen Herzrhythmusstörungen, einer zunehmend übergriffigen Mutter und der katastrophalen Folgeerscheinung eines unüberlegten Rates an meinen Sohn, er möge sich doch mit seinen fünfundzwanzig Jahren so langsam mal nach einer Partnerin umsehen. Wider Erwarten nahm er sich meine Empfehlung umgehend zu Herzen. Das Ergebnis ist niederschmetternd. Seine Auserwählte passt zu meinen Vorstellungen von einer akzeptablen Schwiegertochter ungefähr so sehr wie die aufmunternden Worte eines Augenarztes zu seinem erblindeten Patienten: „Na, sehen Sie mal nicht gleich so schwarz."

    Ich weiß nicht, wie und wo mein Sohn Franziska aufgegabelt hat – übrigens das Einzige, was mir an der jungen Frau gefällt, ist der Vorname. Franziska sieht ein bisschen wie Schneewittchen aus. Ihr permanenter Alkoholkonsum, ihr irrsinnig hoher Zigarettenverbrauch und nächtlicher Schlafmangel sorgen dafür, dass ihre Haut weiß wie Schnee ist. Ihre zumeist strähnigen Haare sind rot gefärbt wie Blut und ihre Lippen schwarz geschminkt wie Ebenholz.

    Nach wie vor teile ich meine Wohnung also mit meinem Sohn, er teilt sein Zimmer neuerdings mit Schneewittchen, und wir drei teilen uns den Gestank von abgestandenem Qualm. Obwohl ich ein striktes Rauchverbot ausgesprochen habe, das in meiner Wohnung und in ihrem unmittelbaren Umkreis gilt, sorgt Schneewittchen mit ihren Nikotinausdünstungen aus allen Poren und Haaren sowie ihrer Garderobe für den penetranten Mief. Ich kann nur hoffen, dass mein Sohn seine Entscheidung, die Erste nehmen zu müssen, noch einmal überdenkt.

    Ich denke an meine Mutter, die auch weiterhin den Taktstock über mein Leben schwingt. Mit dieser Fürsorge lebe ich seit über vierzig Jahren. Neu ist jedoch der Umstand, dass meine Mutter Anzeichen von Vergesslichkeit erkennen lässt. Ich gestehe mir ein, dass das Wort Vergesslichkeit sehr sanft den eigentlichen Zustand umschreibt. Denn ich habe mir von der Hausärztin meiner Mutter erklären lassen, dass es nicht unbedingt zum Vergessen gehört, wenn man nachts glaubt, unter dem Tisch zwei Enkeltöchter sitzen zu sehen, die man niemals gehabt hat. Das Wort Demenz fiel in dem Gespräch mit der Ärztin und auch der Hinweis, dass ich durchaus mit gebotenem Misstrauen meiner Mutter begegnen sollte, da die Wahrscheinlichkeit nicht auszuschließen sei, dass sie nur eine neue Möglichkeit für sich entdeckt haben könnte, mich noch ein wenig straffer in ihr Spinnennetz einzuarbeiten.

    Eine Möwe flattert kreischend neben mir auf und fliegt hinaus aufs Meer. Ihr Ziel ist ein kleines Fischerboot am Horizont.

    Ich schaue ihr nach und erinnere mich voller Wehmut an die zurückliegende schöne Zeit mit Dieter Oertel. Er war mein langjähriger Vorgesetzter, den ich seit seiner Pensionierung schmerzlich vermisse. Erst recht seit dem Tag, an dem mir unser Staatsanwalt Richard Vogel die Person vorstellte, die Oertels Nachfolge angetreten hat. Barbara Leitmeyer-Mummelthey ist seit drei Monaten meine unmittelbare Führungsperson sowie die meines Teams: Andy Bollermann und Wilfried Winterstein. Wir haben es uns seither zur Gewohnheit gemacht, einmal wöchentlich in das bei Touristen und Einheimischen gleichermaßen beliebte „Gastmahl des Meeres" einzufallen und uns gegenseitig zu bedauern. Unter großen Mühen konnten wir inzwischen in dem vor maritimer Atmosphäre strotzenden Lokal einen Stammtisch ergattern. Wie drei Unglücksvögel sitzen wir in der äußersten Ecke und fragen uns mit bewundernswerter Monotonie und stoischer Gelassenheit, womit wir die Mummelthey verdient haben. Die fast schon selbstzerstörerischen Sitzungen unserer Selbsthilfegruppe dauern mitunter bis zu vier Stunden. Und wir sind bisher zu keinem überzeugenden Ergebnis gekommen. Zahlenmäßig sind wir jetzt sogar unterlegen. Denn auf der Gegenseite tummeln sich neben der Leitmeyer-Mummelthey und dem Staatsanwalt Vogel auch noch unser Gerichtsmediziner Dr. Henning Wahlberg und der von Vogel wie ein Halbgott verehrte, schwergewichtige IT-Experte Oliver Teichert.

    Ich beginne, Steine auf einen im Wasser liegenden Baumstamm zu werfen. Dabei stelle ich mir vor, Teichert sitzt neben Vogel obenauf, und ich ärgere mich maßlos, dass ich nicht treffe.

    „Scheiße, murmele ich und denke an die Worte meines Psychologen, Gedanken, die mich mürbemachen, auszublenden. Also sage ich ganz laut „Stopp und klatsche dabei in die Hände. Dann sitze ich da und warte, was es gebracht hat. Nichts. Immerhin stehen mir laut AOK noch vierzig Sitzungen zu. Vermutlich bin ich die erste Patientin, an der Psychologe als auch Krankenkasse zugrunde gehen. Danach folge ich ihnen in den Abgrund. Siegerin bleibt meine Mutter, wegen der ich nach über vierzig Jahren die Hilfe eines Therapeuten in Anspruch nehme.

    Ich lache laut auf und schaue mich etwas verlegen um. Hmmm, niemand da, der sich von meinem hysterischen Lachen anstecken ließe.

    Ein Blick auf meine Uhr sagt mir, dass ich noch genügend Zeit habe. Frühestens in zwei Stunden muss ich im Büro sein. Ich habe keine Lust, noch mal in meine Wohnung zu gehen, in der ich mich nicht mehr wie zu Hause fühle. Und in unser kleines Präsidium, dessen deprimierende Fassade mit meinem derzeitigen Gemütszustand übereinstimmt, zieht es mich ebenfalls nicht. Wir haben derzeit nur Bagatellen zu bearbeiten, sieht man einmal davon ab, dass die Frau meines Kollegen Wilfried Winterstein verschwunden ist und von ihren beiden Töchtern als vermisst gemeldet wurde. Elena Winterstein arbeitete hinter dem ahnungslosen Rücken ihres Mannes viele Jahre als Edelnutte, und mich beschleicht manchmal der Verdacht, Wilfried wäre sogar froh darüber, wenn seine Gemahlin nie wieder auftauchen würde.

    Ich merke, wie eine Welle depressiver Gedanken in mir aufsteigt. Dagegen kann ich nichts machen. Ich kenne das. Irgendwelche chemischen Vorgänge in meinem Körper laufen schief. Den Versuch, mich mit autogenem Training zu entspannen, unternehme ich gar nicht erst. Diese Möglichkeit der Beruhigung halte ich bei Panikattacken für verschwendete Mühe. Wenn ich überzeugt bin, dass meine letzte Stunde naht, kann ich mir nicht einreden, dass ich ganz ruhig bleibe. Bleiben noch zwei Optionen. Ablenken oder günstige Gedanken produzieren. Also verschränke ich die Arme vor der Brust und versuche krampfhaft, mich abzulenken, ehe mich die Angst völlig einnimmt. Ich konzentriere mich auf das imposante Farbenspiel, das die Morgensonne aus den Kreidefelsen, seinen Buchenwäldern und der Ostsee zaubert. Weil ich nur geringen Erfolg verzeichne, flüchte ich mich in Tagträume und entwickle verheißungsvolles Gedankengut. „Frau Burmeister hat versucht, mich zu erschießen, petzt die Leitmeyer-Mummelthey unserem Staatsanwalt. „Tja, so etwas kommt manchmal vor. Aber deswegen ist Frau Burmeister doch noch lange kein schlechter Mensch, antwortet Richard Vogel. Ich schwelge in dem folgenden heftigen Wortgefecht und spüre, dass es mir sukzessive besser geht. Erleichtert atme ich auf.

    Das Schlimmste habe ich gerade noch verhindert. Ich grinse und verfolge gebannt eine Großfamilie Schwäne, die als V-Formation knapp über dem Wasser ganz nah an mir vorbeifliegt. Sogar ihre Flügelschläge kann ich hören.

    Der Wind wird munter und weckt seinerseits die See. Aus den sanften Wellen werden binnen weniger Minuten ausgewachsene Exemplare, die tosend auf das raue und schroffe Ufer zurollen. Genau so liebe ich unser Inselwetter. Sonnig und stürmisch muss es sein. Ich grinse immer noch. Zufrieden mit mir und unserer Insel genehmige ich mir eine Brise der gesunden, salzhaltigen Luft.

    Gerade will ich aufbrechen, da nehme ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Suchend laufe ich ein paar Meter das Ufer ab. Aber es ist menschenleer. Ich schaue auf das Wasser und muss die Augen zusammenkneifen. Das Licht der Morgensonne glitzert grell auf der mittlerweile mächtig aufgewühlten See. Nichts zu sehen. Da habe ich mir wohl nur etwas eingebildet. Mein knurrender Magen bestärkt mich in meinem Entschluss, irgendwohin frühstücken zu gehen und mich endlich von dieser faszinierenden Märchenlandschaft loszureißen. Von ihr behaupten nicht wenige, dass eine gewisse Magie von ihr ausginge. Viele Schriftsteller haben sie in wunderschönen Worten treffend beschrieben, und von zahlreichen Künstlern wurde sie ebenso wunderschön gemalt. Und alle hatten recht: Unsere wild verträumte und romantische Insel ist eine Ode an die Schönheit.

    Ich atme tief durch, und ausgerechnet in diesem Moment der Glückseligkeit schwimmt träge, aber leider nicht zu übersehen, eine aufgedunsene Leiche an mir vorbei. Mein Stückchen heiles Rügenparadies erhält einen empfindlichen Riss. Mit einem kehligen Laut plumpse ich auf meinen Baumstumpf. Mein Herz schlägt bis zum Hals und sehr unregelmäßig. Unter diesen Umständen ist das berechtigt, und ich mache ihm daher keinen Vorwurf.

    Ich greife nach meinem Handy. Der Dienstweg muss eingehalten werden. Also wähle ich zunächst die Nummer der Leitkuh. Wie ich erwartet hatte, erreiche ich sie weder auf dem Handy noch über Festnetz. Also sende ich ihr eine SMS und kontaktiere dann Winterstein. Es dauert ewig, ehe sich Williwi meldet. In wenigen Worten erkläre ich ihm die Situation, und Williwi sichert mir zur, dass er sich umgehend mit dem erforderlichen Geschwader auf den Weg begeben wird.

    ZWEI

    Während ich auf die Kollegen warte, reift in mir die Erkenntnis, dass ich die Leiche, die von den hohen Wellen auf und ab geschaukelt wird, irgendwie an Land holen muss. Suchend schaue ich mich am schroffen Ufer um. Obwohl es von Baumstämmen mit teilweise bizarr geformten Wurzeln nur so wimmelt, finde ich keinen einigermaßen brauchbaren Ast, mit dem ich die Leiche aus dem Wasser zerren könnte.

    Aus dem starken Wind ist in den letzten Minuten ein ausgewachsener Sturm geworden, und die Wellen klatschen mit voller Wucht gegen das Ufer. Entgegen aller physikalischen Gesetze scheint die Leiche nicht an Land, sondern wieder hinaus aufs Wasser schwimmen zu wollen.

    „Scheiße", fluche ich und laufe am Ufer auf und ab. Da hilft nichts. Wenn ich noch länger warte, muss ich bis Schweden schwimmen. Also stapfe ich schimpfend in das kalte Wasser. Nach vier Schritten rutsche ich auf einem glitschigen Stein aus. Ich schaffe es noch, wie wild mit den Händen zu wedeln und folge dann der Erdanziehungskraft. Bis zum Hals lande ich im Wasser, schnappe nach Luft und registriere einen derart stechenden Schmerz an meinem rechten Knie, dass ich laut aufschreie.

    Nur mühsam rappele ich mich wieder auf und wate zitternd vor Schmerz und Kälte der Leiche entgegen. „Das ist alles wegen dir", werfe ich ihr vor. Es kommt mir vor, als würde sie mich aus ihren schwarzen, leeren Augenhöhlen beobachten. Endlich bin ich nah genug, um sie vorsichtig und mit großem Widerwillen an einem Oberarm zu packen. Ich kämpfe an mehreren Fronten: gegen den zunehmenden Schmerz, die eisige Kälte, eine aufsteigende Übelkeit und mit der Leiche, die scheinbar dort bleiben will, wo sie die vergangenen Tage verbracht hat. Nach qualvollen Minuten bin ich zurück an Land, die Leiche im Schlepptau. Mit größter Umsicht zerre ich sie so weit, bis ich mir sicher bin, dass sie mir nicht erneut ins Wasser entwischen kann. Dann plumpse ich keuchend und völlig kraftlos neben sie. Ich friere und zittere wie Espenlaub, während ich vorsichtig meine Jeans nach oben krempele, um nach meinem Knie zu sehen.

    Das hätte ich nicht machen sollen. „Oh Gott", entfährt es mir. Ich drücke ein klitschnasses Taschentuch auf die klaffende Wunde. In Sekundenschnelle verfärbt es sich dunkelrot. Schmerz und Schreck sitzen tief. Ich streife meine Schuhe ab und verfluche mich, weil ich nicht einmal ansatzweise auf die Idee gekommen bin, sie auszuziehen, ehe ich ins Wasser bin.

    „Daran bist nur du schuld", wiederhole ich meine anklagenden Worte in Richtung Waschhaut-Zombie. Immerhin kann ich mich dazu durchringen, die Leiche eingehend zu betrachten.

    Sie sieht nicht nur grässlich aus, sondern sie liegt auch noch total nackt vor mir. Allem Anschein nach habe ich es mit einem Mann zu tun. Sein Alter schätze ich vorsichtig auf dreißig bis siebzig. Weiter wage ich mich nicht aus dem Fenster. Vielleicht war er mal schlank. Vielleicht auch nicht. Jetzt liegt er aufgequollen vor mir. Die Fäulnisbakterien haben ganze Arbeit geleistet. Immerhin hatte er volles, dunkles Haar und vielleicht braune Augen. Um das herauszufinden, müsste ich die Möwe finden, die nichts Besseres zu tun hatte, als seine Augäpfel aufzupicken und zwei schwarze Höhlen zurückzulassen.

    „Warst du das?", nehme ich einen Vertreter dieser Art ins Kreuzverhör. Auf ihrem grauweißen Gefieder schimmern die Wassertropfen wie Perlmutt. Ich schaue sie durchdringend an, sie hält meinem Blick mit schiefgelegtem Köpfchen stand.

    „Aasgeier", verunglimpfe ich die Möwe, die daraufhin laut kreischend die Flucht ergreift. Ich hoffe, dass mein Team bald vor Ort sein wird. Die zwei einzig warmen Stellen an meinem Körper sind das immer noch stark blutende Knie und die Hand, mit der ich die Wunde abzudrücken versuche.

    Endlich treffen Winterstein und Bollermann ein. Bolle fährt sich beim Anblick der Wasserleiche durch seine lockige Haarpracht. „Oh, das sieht nicht gut aus", kommentiert er treffend das Erscheinungsbild des Toten. Winterstein steht neben Bolle, wortlos und allem Anschein nach auch emotionslos. Diese auf sensible Naturen mitunter verstörend wirkende Gefühlskälte in Anbetracht einer Leiche ist bei Winterstein nichts Neues. Dafür lässt er bei Nichtigkeiten seinen cholerischen Gefühlen freien Lauf.

    Dr. Henning Wahlberg, unser gemeinschaftlich verhasster Rechtsmediziner, würdigt mich keines Blickes. In seinem Ganzkörperkondom widmet er sich unserer Leiche. Wahrscheinlich glaubt er immer noch, ich hätte seinen Lebensgefährten Oliver Teichert vor drei Monaten absichtlich beinahe erschossen. Das ist natürlich völliger Quatsch. Teichert warf sich damals sehr unüberlegt zwischen mich und einen bösen Bürger, der mit einer Axt bewaffnet war. Meine Kugel pfiff knapp an Teichert vorbei. Seitdem wahrt Wahlberg Abstand zu mir. Und das ist auch gut so. Wer sich aus dem Weg geht, kann sich nicht schlagen.

    Die Leitkuh ist noch nicht am Tatort eingetroffen. Meine Erwartungen, dass sie plötzlich doch noch auftaucht, liegen bei null. Die Frau ist mir vom ersten Tag an ein Rätsel gewesen. Nicht ein einziges Mal hat sie bisher ein Gespräch mit meinen Kollegen oder mit mir gesucht. Sie huscht durch die Gänge und scheint immer auf der Flucht vor uns zu sein. Ich frage mich, was sie den ganzen Tag über treibt. Selten nimmt sie an unseren Besprechungen teil. Noch seltener erkundigt sie sich nach dem Stand unserer Recherchen. Noch nie hat sie die Leitung einer Ermittlung übernommen und uns die strategische Richtung vorgegeben. Sie weiß bis heute nicht, ob und wie wir als Team funktionieren. Meine Befürchtungen sind eingetreten: Sie hat die höhere Besoldungsgruppe, und ich mache mit meinen Kollegen die Arbeit. Ich mag sie nicht. Aber noch weniger mag ich mich selbst, weil ich es nicht einmal versucht hatte, mich um den Posten zu bewerben.

    Der auffrischende Wind spielt mit meinen durchweichten Sachen. Bolle schaut erschrocken auf mein Knie. Er reicht mir die Hand und bietet mir an, mich in die Klinik zu fahren.

    Mit zwei weichen und einem dazu kaputten Knie winke ich ab. „Ich f-fahr s-selber, antworte ich bibbernd. „W-wir treffen uns in einer Stunde in meinem Büro.

    Ich drücke mich an den Kollegen der Spurensicherung vorbei und bin froh, dass Vaclav, mein alter Škoda, einen guten Tag hat und sofort anspringt. Ich fahre zunächst nach Hause, um mich umzuziehen und mein stark ramponiertes Knie notdürftig abzubinden. Dabei vermeide ich es weitestgehend, hinzusehen. Um mich abzulenken, rufe ich nach meinem Sohn und Schneewittchen.

    Ich riskiere einen Blick in ihr Zimmer. Das Bett ist nicht gemacht, das Zimmer nicht gelüftet, auf dem Fußboden liegen verstreut diverse Kleidungsstücke, auf dem Tisch stehen das Geschirr und die Reste vom Frühstück. Im Bad ist der Spiegel voller Wasserspritzer, und im Waschbecken liegen so viele rote Haare, dass man daraus eine Kurzhaarperücke flechten könnte. Nein, so geht das nicht mehr weiter. Ich nehme mir fest vor, mit Schneewittchen und meinem Sohn zu sprechen.

    Fünfzehn Minuten später sitze ich im Warteraum der Notaufnahme. Eine fröhlich lächelnde und munter dreinblickende Schwester verbreitet tatsächlich gute Laune und nimmt meine Personalien auf. „Ich darf doch davon ausgehen, dass ich als Notfall anerkannt werde", äußere ich meine Hoffnung, während ich merke, wie das warme Blut an meinem Schienbein herunterläuft.

    Schwester Petra lacht laut auf. „Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Wir leben doch auf einer Insel. Und wir sind dafür bekannt, unseren eigenen Sturkopf zu haben. Insofern ignorieren wir mitunter auch mal neue Abrechnungsziffern", beruhigt sie mich mit einem koketten Augenaufschlag.

    „Ihr führt nicht den zweiminütigen Kurzcheck durch?", vergewissere ich mich, während ein stechender Schmerz durch mein kaputtes Knie rast.

    „Nein, es fehlt uns an Personal. Wir haben niemanden, der die Stoppuhr bedienen kann, meint sie schelmisch lachend. Ihr Gesichtsausdruck wird ernster, als sie anfügt, dass sich kein Arzt findet, der bereit ist, die hohen Risiken auf sich zu nehmen. „Bedenken Sie mal die möglichen Folgen, wenn ein Arzt in der Kürze der Zeit falsche Entscheidungen trifft.

    „Klingt logisch", stimme ich zu.

    Schwester Petra bittet mich um viel Geduld. Ich steuere einen der wenigen noch freien Stühle an und setze mich artig in eine Ecke. Um mich von meinem Blut abzulenken, das beständig durch den Notverband sickert, betreibe ich Menschenstudien. Je nach Charakter und Schwere der Not erkennt man die unterschiedlichen Stadien der Gereiztheit. Ein älterer Herr nimmt neben mir in typischer Männermanier besitzergreifend Platz. Die Beine so weit gespreizt wie möglich und die Arme vor der Brust verschränkt, rutscht er permanent hin und her und gibt unschöne Geräusche von sich. Als ich aufgerufen werde, protestiert er lautstark. Er ist der Meinung, es gehe ihm bedeutend schlechter als mir.

    „Ich muss ein Verbrechen aufklären", schnarre ich ihn an und gestatte ihm rein zufällig einen Blick auf meine Dienstwaffe. Daraufhin wünscht er mir gute Besserung.

    Torkelnd folge ich mit paniktypischen Attacken einer sogar für nordische Verhältnisse extrem unterkühlten Schwester in ein kleines Behandlungszimmer. Wortlos misst sie Puls und Blutdruck. Missbilligend betrachtet sie die kleine Blutlache, die sich unter mir ausbreitet. „Sie hätten die Wunde besser abbinden können, faucht sie mich an. „Wir haben genug Arbeit. Sie haben doch gesehen, was heute wieder los ist.

    Ich registriere aufsteigende Wut. Zunächst auf die gefühlsarme Krankenschwester, dann auf unser krankendes Gesundheitssystem und letztendlich auf die Wasserleiche, der ich die vermaledeite Situation zu verdanken habe.

    Ehe ich explodieren kann, betritt ein schlanker junger Mann meine Isolierzelle. Er lächelt und gibt mir sogar die Hand. Das ist Balsam für meine geschundene Seele und lindert sogar meinen körperlichen Schmerz.

    „Na, dann lassen Sie uns das mal fix reparieren." Mit diesen Worten beginnt er, die klaffende Wunde zu nähen. Er strahlt Ruhe und Freundlichkeit aus.

    Bevor ich die Klinik verlasse, stauche ich die unfreundliche Schwester nach Strich und Faden zusammen. „Wie kommt so ein Eisberg wie Sie auf die absurde Idee, Krankenschwester zu werden? Sie sind die personifizierte Fehlbesetzung!"

    Damit schlurfe ich hinaus und klettere mit schmerzverzerrtem Gesicht in meinen Vaclav. In diesem Moment vibriert mein Handy. Bolle erkundigt sich nach meinem Befinden. Ich sende ihm eine SMS, dass ich neben den Schmerzen nun auch noch Hunger habe und mich verspäten werde. Dann fahre ich zum Café Peters im Hafenbahnhof und genehmige mir ein sehr spätes Frühstück.

    DREI

    Kurz danach stehe ich vor unserem hässlichen mausgrauen Gebäude. Vor langer Zeit schlug ich vor, einen Wettbewerb unter dem Motto „Hässlichstes Polizeirevier Deutschlands" ins Leben zu rufen. Mein Vorschlag wurde hundertprozentig von der Belegschaft unterstützt, sieht man mal vom Veto unseres Staatsanwaltes ab. Der Einspruch eines einzelnen Mannes war dann auch stärker als der Wille des gesamten Personals, und der Wettbewerb starb, bevor er initiiert wurde. Damit wurde ein sicherer Sieg verschenkt. Ein Fakt, den ich unserem Staatsanwalt heute noch von Zeit zu Zeit vorwerfe.

    Ich verlagere mein Körpergewicht auf mein linkes Bein, atme noch einmal tief durch und entscheide mich dann, den unausweichlichen Dienstgang endlich anzutreten.

    Ächzend hinke ich in mein Büro. Zwei Minuten später steht unsere Leitkuh vor meinem Schreibtisch.

    „Denken Sie, dass wir es mit einem Mord zu tun haben?", fragt sie mich und schaut mich verängstigt an. Wahrscheinlich sieht sie Arbeit, Probleme und Pressekonferenzen auf sich zukommen.

    Statt eine Antwort zu geben, frage ich ohne Umschweife, warum sie nicht am Tatort erschienen ist.

    Über ihr Gesicht huscht eine leichte Röte. „Mich hat niemand angerufen", erwidert sie.

    „Doch, widerspreche ich energisch. „Ich selbst habe Sie angerufen. Und auch Kollege Winterstein hat mir versichert, Sie auf dem Handy mehrmals kontaktiert zu haben.

    Die Leitkuh zwinkert nervös. „Ja, das wird dann auch so gewesen sein. Aber ich lebe in einem Funkloch."

    „Ich nahm an, Sie haben eine Wohnung", entgegne ich mit meinem berühmt-berüchtigten Sarkasmus und ernte pure Verständnislosigkeit.

    „Dann habe ich wohl den Klingelton nicht gehört. Mein Fehler. Entschuldigung. Wenn ich schlafe, höre ich nichts. Sorry." Die Leitkuh rudert zurück, und da ist es wieder, dieses merkwürdige Gefühl. Ständig beschleicht mich der Verdacht, dass die Leitmeyer-Mummelthey nicht ehrlich ist. Ich kaufe ihr nicht ab, dass sie nichts gehört haben will. Stattdessen fühle ich mich in meiner Annahme bestätigt, dass sie wahrscheinlich nicht weiß, was sie an einem Tatort machen soll.

    „Und, unterbricht sie meine Kriegsgedanken, „war es ein Verbrechen?

    „Das kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt niemand zweifelsfrei beurteilen."

    „Aber die Möglichkeit ist nicht auszuschließen, oder?", bohrt sie nach.

    „Ich sagte schon, dass es für gesicherte Erkenntnisse noch viel zu früh ist."

    Sie mustert mich mit einem sehr merkwürdigen Blick. „Welche Erkenntnisse brauchen wir denn noch?", fragt sie mich dann allen Ernstes.

    Ich mustere sie mit einem merkwürdigen Blick. „Ist Ihnen das wirklich nicht klar?"

    „Doch, doch, versichert sie mir, „aber was glauben Sie? Haben Sie keinen Verdacht?

    „Nein, tut mir echt leid. Aber Sie sind die Erste, die ich über unsere Erkenntnisse unterrichten werde. Vorausgesetzt, ich treffe Sie im Präsidium an oder erreiche Sie telefonisch."

    Dann wähle ich die Nummer unseres Gerichtsmediziners und tue so, als ob ich allein im Zimmer wäre. Ich schaue gelangweilt ins Leere und zeichne kleine Kreise auf meinen Notizblock. Endlich meldet sich Wahlberg. Er gibt mir zu verstehen, dass er uns in einer halben Stunde in seinem Totenreich empfängt. Ich bedanke mich, stehe auf und hinke ohne ein weiteres Wort an meiner rätselhaften Chefin vorbei. Wie es sich gehört, schließe ich hinter mir die Tür.

    Ich hole Bolle aus seinem Büro. Das Zimmer von Winterstein ist leer. Bolle erklärt mir, dass der sich nach Verlassen des Fundortes unserer Leiche aus dem Staub gemacht hat. Winterstein ist seit dem Verschwinden seiner Frau etwas wunderlich geworden. Er vernachlässigt sich, sein Äußeres, seine akribische Arbeitsweise und seine Auffassung von der Arbeitsmoral eines guten Polizisten. Ich muss unbedingt ein ernstes Wort mit ihm reden.

    Mit Bolle an meiner Seite lege ich die wenigen Schritte von unserem Präsidium in die Gerichtsmedizin zurück. Viele Gedanken schwirren durch meinen Kopf, die immer dann eine andere Richtung nehmen, wenn der Schmerz in meinem Knie bis unter meine Kopfhaut sticht.

    „Die Spritze müsste doch noch wirken", gibt Bolle zu bedenken, der mir meine heftigen Schmerzen anmerkt.

    „Ich glaube, die konnten mich nicht leiden", erwidere ich und schlurfe mit großem Selbstmitleid durch die Gänge der Gerichtsmedizin.

    Dr. Henning Wahlberg beugt sich über unsere Wasserleiche, als ich mit Bolle den sterilen, kahlen und kühlen Obduktionsraum betrete. Er sieht mich an, und ein breites Grinsen umspielt seine fleischigen Lippen.

    „Sie sehen heute aber besonders mitleiderregend aus, Frau Burmeister."

    „Sie mich auch, entgegne ich freundlich und spüre einen kleinen Stoß in meinem Rücken. „Haben Sie denn schon gesicherte Erkenntnisse für uns, Dr. Wahlberg? Müssen wir die ganze Maschinerie anwerfen, oder können Sie Fremdverschulden ausschließen?, frage ich daher mit größtmöglicher Sachlichkeit und einer leidenschaftslosen Stimme.

    „Mal ganz langsam, ja, knurrt unser Rechtsmediziner. „Also, das Opfer ist männlich, schätzungsweise vierzig Jahre alt und hat erkennungstechnisch ein sehr auffälliges Detail. Er deutet auf ein am rechten Unterarm befindliches Tattoo. Es zeigt einen Elefantenkopf, dessen Rüssel am Handgelenk endet. Der Stoßzahn sieht beinahe dreidimensional aus. Fast hat es den Anschein, als würde er aus dem Arm sprießen. Vielleicht liegt das aber auch nur daran, weil der Körper aufgequollen ist und die typische Waschhaut einer Wasserleiche aufweist.

    „Und was ist das da?", erkundige ich mich und deute auf rote Striemen an beiden Handgelenken.

    „Gewöhnen Sie sich ab, mich während meiner Ausführungen ständig zu unterbrechen, giftet mich Wahlberg an, und ich schweige. „Weiterhin hat die Leiche mehrere Zahnimplantate. Es handelt sich um eine hochprofessionelle und extrem teure Arbeit. Das kann nicht jede Zahnarztpraxis anbieten. Es sollte also relativ schnell möglich sein, diesen Mann zu identifizieren.

    Ich stupse Bolle an und bin guter Dinge. Mit vorsichtigem Optimismus lausche ich den weiteren Ausführungen.

    „Dem Verwesungsprozess nach zu urteilen, befand sich das Opfer mehrere Tage im Wasser. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wurde es nicht versenkt. Allerdings folgte auch diese im Wasser treibende Leiche den Gesetzmäßigkeiten und ging irgendwann einmal unter, ehe sie durch Fäulnisbakterien aufgebläht wieder nach oben kam. Na ja, und darum sieht sie halt so aus, wie sie aussieht. Eklig. Wahlberg hält kurz inne. „Die Striemen an beiden Handgelenken stammen von diesem Strick, mit dem der Mann irgendwo festgebunden war. Er hält mir einen stinknormalen Strick vor die Nase, und ich glaube nicht, dass er uns einen entscheidenden Hinweis geben kann. Also schweige ich weiter.

    „Nicht sehr gesprächig heute, was, murmelt Wahlberg und steckt die beiden Teile des Strickes in eine Tüte. Dann hebt er ruckartig den Kopf und fährt sich mit der Zunge über seine Lippen. Eine Angewohnheit, die in mir immer wieder aufs Neue Brechreiz hervorruft. „Das Opfer hatte Seifenwasser in der Lunge. Das heißt also, dass der Mann nicht in der Ostsee ertrunken ist. Spuren von Gewaltanwendung am Hals sowie Hämatome am gesamten Körper deuten auf einen Kampf und einen gewaltsamen Tod hin.

    Da Wahlberg nicht weiterspricht, erlaube ich mir, nach dem Todeszeitpunkt zu fragen.

    „Schwer zu sagen, sehr schwer, nuschelt Wahlberg. „Ich schätze, sein Tod könnte bis zu zwei Wochen zurückliegen. Erst nach eingehenderen Untersuchungen kann ich den Todeszeitpunkt genauer definieren.

    Ich beäuge etwas angewidert unsere Wasserleiche. Es ist nicht schön, was die Natur aus einem Körper macht, der lange Zeit im Wasser zugebracht hat, nachdem das Leben aus ihm gewichen ist. Die leeren und schwarzen Augenhöhlen sehen gespenstisch aus. Trotzdem siegt meine Neugier gegenüber dem Ekel, und ich mache einen langen Hals, um einen Blick in das Innere zu werfen.

    Wahlberg grunzt verächtlich. „Selten, dass man in einen Menschen so schön hineinsehen kann, wie? Aber dort drin werden Sie nichts Brauchbares mehr finden."

    Ich verkneife mir jede weitere Floskel. Stattdessen bedanke ich mich artig für die Ausführungen und verabschiede mich.

    „Sie müssen was tun, ruft mir Wahlberg nach, „und zwar so schnell wie möglich!

    „Ich versuche grundsätzlich, jedes Verbrechen so schnell wie möglich aufzuklären", entgegne ich kühl.

    „Das meine ich doch gar nicht. Gegen Ihren erschreckend fortschreitenden Zerfall müssen Sie was unternehmen", empfiehlt mir Wahlberg. Doch dieses Mal grinst er nicht dämlich, sondern nickt mit versteinertem Gesicht, um die Ernsthaftigkeit seines Ratschlages zu untermalen.

    „Das wird schon wieder. Vorausgesetzt, Sie laufen mir in den nächsten Tagen nicht über den Weg. Vor Gespenstern erschrecke ich mich immer so", erwidere ich und bin froh, dass mir angesichts meines bisherigen Tages überhaupt eine Erwiderung eingefallen ist.

    „So ein Arsch, kommentiert Bolle die Nettigkeit von Wahlberg, als wir endlich wieder an der frischen Luft stehen. „Und wie geht es jetzt weiter?

    „Wenn der Mann schon seit zwei Wochen tot ist, dann haben wir vielleicht Glück, und er ist bereits als vermisst gemeldet. Du übernimmst das bitte. Auch das Tattoo sollte uns weiterbringen. Es ist sehr speziell. Das wird nicht jedes Studio in seinem Repertoire haben. Darum kümmerst du dich bitte gleich noch mit."

    „Und was machst du?", fragt mich Bolle ohne ironischen Unterton in der Stimme.

    „Ich kümmere mich um mein Knie, um meine total versaute Wohnung und um meine Mutter, die mich heute noch nicht ein einziges Mal angerufen hat", antworte ich ehrlich. Eine plötzliche Unruhe steigt in mir auf, die ich mir selber kaum erklären kann.

    Kaum habe ich mich von Bolle verabschiedet, ändere ich meinen Plan. Ich fahre zunächst zur Seniorenresidenz, wie sie im Volksmund ehrfurchtsvoll genannt wird. Sie wurde auf dem Grundstück des hiesigen Krankenhauses erbaut und besteht aus zwei neuen und sehr edlen Mehrfamilienhäusern, in die man erst einziehen darf, wenn man die fünfzig weit hinter sich gelassen hat. Dass meine Mutter hier eine Wohnung beziehen durfte, grenzt an ein Wunder. Denn im Gegensatz zu den anderen Mietern, die allesamt sehr vornehm und stinkreich sind, trifft auf meine Mutter weder das eine noch das andere zu.

    Ich fahre mit Vaclav die schmale Auffahrt hinauf, und während ich einparke, sehe ich meine Mutter hinter der gläsernen Haustür stehen. Das macht sie in letzter Zeit fast immer. Für einen kurzen Moment zuckt Freude über ihr Gesicht, als sie mich erkennt. Dann schaut sie wieder unzufrieden und griesgrämig drein. Mit einem Seufzer steige ich aus.

    „Womit habe ich denn deinen Besuch mitten in der Woche verdient?", empfängt mich meine Mutter, dreht sich auf ihren wackligen Beinen um und schlurft vor mir her in ihre Wohnung. Für einen Augenblick sehne ich mich in die Praxis meines Psychotherapeuten. Dann latsche ich meiner Mutter ergeben hinterher. Als ich ihr Wohnzimmer betrete, kämpft sich draußen die Sonne gerade hinter den Wolken hervor. Die Erdgeschosswohnung meiner Mutter macht ihrem neumodischen Attribut lichtdurchflutet alle Ehre, und mit Schrecken sehe ich, dass sie einer gründlichen Reinigung bedarf. Zum Glück hindert mich mein lädiertes Knie daran, sofort an die Arbeit zu gehen. Ich bleibe eine halbe Stunde, um mit meiner Mutter eine Tasse Kaffee zu trinken und mir ihre Klagen anzuhören, die jeden Tag die gleichen sind. Da sie sowieso keine Antwort von mir erwartet, gestaltet sich unser Gespräch sehr einsilbig.

    Ich verabschiede mich von meiner Mutter. Fast schäme ich mich, dass ich heilfroh bin, die halbe Stunde hinter mich gebracht zu haben. Als ich ins Auto steige, steht sie wieder im Hausflur hinter der Tür.

    Nach kurzer Fahrt biege ich in meine Straße ein und trete vor Schreck voll aufs Bremspedal. Mit großen Augen, offenem Mund und temporären Herzstillstand blicke ich auf den schwarzen Qualm, der aus meinem Küchenfenster weht. Erst das Hupen des Autos hinter mir weckt mich aus meiner Versteinerung. Ich gebe Vollgas und suche mit irrem Blick irgendeine Parklücke. Ich finde keine. Also halte ich abrupt mitten auf der Straße, springe aus meinem alten Škoda und renne humpelnd wie eine Irre zu meinem Wohnhaus.

    „Du blöde Kuh!", brüllt mir der Fahrer hinterher, der notgedrungen hinter meinem Auto halten muss.

    „Feuer!", brülle ich zurück und zeige nach oben, während ich weiterrenne. Der Qualm ist noch dichter geworden.

    „Scheiße! Scheiße aber auch", stottere ich und versuche mit zitternden Händen, den Haustürschlüssel ins Schloss zu stecken.

    Fünf Sekunden später habe ich die dritte Etage erklommen und stehe in meiner Wohnung. Auf dem Flur kommt mir mein Sohn entgegen.

    „Was ist denn mit dir los?, erkundigt er sich und schaut mich entgeistert an. „Du siehst aus wie ein Gespenst.

    „Aus dem Weg!, donnere ich mit zittriger Stimme. Aus der Ferne höre ich die Sirenen der Feuerwehr. „Gott sei Dank, sie sind gleich da, entfährt es mir, während ich in die Küche haste. Dichter, beißender schwarzer Rauch empfängt mich. Er brennt in meinen Augen und kratzt in meinem Hals, so dass ich einen fürchterlichen Hustenanfall erleide. Dann erkenne ich im Nebel die schattenhaften Umrisse von Schneewittchen vor dem Herd.

    „Ich habe gekocht", krächzt sie hustend und lächelt verlegen.

    Auf meinem nagelneuen Herd steht meine nagelneue Pfanne neben meinem nagelneuen Topf. Beide Gefäße qualmen um die Wette. Mit tränenden Augen erkenne ich eine komplett verkohlte, nicht identifizierbare Masse.

    „Raus hier", ordne ich an und huste mir die Seele aus dem Leib.

    „Steigleiter!", ordnet eine männliche Stimme unten auf der Straße an. Eine Minute später schaue ich einem Feuerwehrmann direkt in die Augen, als er über meine Balkonbrüstung steigt.

    „Alles falscher Alarm." Mit diesen Worten begrüße ich den Kameraden der Feuerwehr, während mein Sohn und sein Schneewittchen hustend und fassungslos auf mich starren.

    „Es qualmt nur, aber es brennt nicht", erkläre ich dem Kameraden, bekomme aber fast keine Luft mehr.

    „Das zu beurteilen, überlassen Sie mir! Raus, aber dalli!", raunzt er mich an, und ich gehorche.

    Mit meinem Sohn und seinem Schneewittchen warte ich dann vor dem Haus auf die Erlaubnis, meine Wohnung wieder betreten zu dürfen. Sebastian hat einen Arm tröstend um die mageren Schultern seiner Angebeteten gelegt, die sehr beschämt drein guckt. „Tut mir soooo leid", murmelt sie.

    „Was wolltest du denn kochen?", erkundige ich mich, um das einsetzende betretene Schweigen zu überbrücken.

    „Falafel mit Kartoffel-Kürbiskernrösti."

    „Na Gott sei Dank ist alles angebrannt", flüstere ich viel zu laut, und mein Sohn versucht, mich mit Blicken außer Gefecht zu setzen.

    Inzwischen erkundigt sich der Einsatzleiter, ob ich den Notruf gewählt habe. „Das wird teuer", erklärt er mir, denn es hat sich schnell herumgesprochen, dass es keinen Grund gab, die Feuerwehr zu alarmieren.

    „Aber aus meinem Küchenfenster zogen dichte, schwarze Rauchschwaden. Ich konnte doch nicht ahnen, dass es nicht brennt, sondern die Jugend irgendeinen Gemüsebrei unbeobachtet auf dem Herd stehen lässt", versuche ich mich zu rechtfertigen.

    „Also haben Sie den Notruf gewählt", vergewissert sich der Einsatzleiter.

    „Oh nein, der war’s, sage ich und deute auf den Autofahrer, der mit seinem Wagen noch immer hinter meinem Vaclav steht. Dass er die Feuerwehr alarmierte, weil ich laut Feuer gebrüllt habe, behalte ich erst mal für mich. Nicht immer müssen alle Details sofort ans Tageslicht. „Und außerdem parkt er in der zweiten Reihe, füge ich an. Ich nutze das ziemliche Durcheinander, um in mein Auto zu schlüpfen und mit ihm die Flucht zu ergreifen. Eine Stunde warte ich in der Tiefgarage, ehe ich es wage, mich wieder in meine widerlich stinkende Wohnung zu begeben.

    Zu meinem Erstaunen ist niemand mehr da. Nur die Pfanne mit dem schwarzen Inhalt hat sich nicht bewegt. Das tut sie auch dann nicht, als ich sie in den Müll werfen will. Sie ist mit meinem Herd fest verschmolzen. Der Topf leistet keinen Widerstand. Ihn entsorge ich mitsamt seinem verkohlten Rest.

    Ich schaue mich um. Meine Küche gleicht einem Schlachtfeld. Mit einem Schlag verlässt mich mein gesamter Elan. Mein lädiertes Knie pocht, ich muss wieder husten und kann mich einfach nicht dazu zwingen, meine Küche wieder in einen akzeptablen Zustand zu versetzen. Ins Bett kann ich auch nicht kriechen. Der beißende Geruch hat sich in der ganzen Wohnung verteilt. Obwohl ich alle Fenster öffne, lässt sich der Gestank nicht vertreiben. Also stelle ich eine Liege auf meine Dachterrasse und verbringe die kommende Nacht zum ersten Mal seit meiner Jugend wieder im Freien.

    VIER

    Mit dem ersten Vogelgezwitscher

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