Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Schweizer Tobak: Roman
Schweizer Tobak: Roman
Schweizer Tobak: Roman
eBook611 Seiten8 Stunden

Schweizer Tobak: Roman

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book


1912 reicht die junge BWL-Studentin Clara Wirth ihre Dissertation über Kinderarbeit ein. Ihr Einsatz für die Kinder findet keinerlei Würdigung. Jahrzehnte später prägt eine bierselige Studentenrunde den Namen Schmauchtal für die Gegend, in der einst Kinder nachts Tabakblätter ausrippten. Andreas Werth aus diesem Kreis kehrt nach dem Ende seines Berufslebens in die Schweiz zurück, erinnert sich an 'Schmauchtal' und beginnt mit Nachforschungen. Was er aufdeckt, führt ihn direkt zur Arbeit von Clara Wirth und erstaunlichen Familiengeheimnissen.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2020
ISBN9783907301005
Schweizer Tobak: Roman

Mehr von Albert T. Fischer lesen

Ähnlich wie Schweizer Tobak

Ähnliche E-Books

Historienromane für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Schweizer Tobak

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Schweizer Tobak - Albert T. Fischer

    Tabakindustrie

    Schmauchtal

    Schmauchtal als Name ist die Erfindung einer kleinen Gruppe übermütiger Studenten, die mit Klaus Brand, dem Sohn aus der Besitzerfamilie der erfolgreichen Kreuzacher Marke Brand-Cigars, Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts in ihrem mit blauem Zigarrenschmauch gesättigten Stammlokal ein Bierfest feierten. Die Burschen waren unter sich, ohne Fräuleins. Einzelne Studentinnen gab es zwar, doch die waren von den Tobakern zu den feuchten Gelagen weder eingeladen noch daran interessiert. Klaus Brand hatte die Zigarren gebracht, so wurden Rauch und Schmauch zum Thema.

    Schmauchtal ist in Wirklichkeit ein sanftes Tal, das sich zwischen den Alpen und dem Jura von Süden nach Norden zieht, mit einem lieblichen See, dem Schmauchsee (auch dieser Name eine Erfindung der dreisten Jugend), der die Landschaft, Teil der grossen Seeweite, besonders prägt. Es ist nicht bekannt, ob die Burschen wirklich betrunken waren oder sich mit dem wenig schmeichelhaften Namen einfach mutwillig über eine ganze Talschaft von Dörfern lustig machen wollten. Ihnen verpassten sie mit Wirrwil, Schildwil, Langwil, Kurzwil, Armwil, Sturwil auch obszöne, die zu nennen unanständig wäre, wenig attraktive Etiketten.

    In etwa einem Dutzend dieser Dörfer produzierten während rund 100 Jahren anfänglich meistens Kleinstbetriebe, aber auch schnell wachsende Fabriken aus unzähligen Tabaksorten in zunehmenden Mengen Zigarren unterschiedlicher Machart. Den ersten Boom erfuhr das Geschäft durch den amerikanischen Bürgerkrieg. Tonnen von Zigarren fanden den Weg zu den Soldaten der blutigen Sezession. An ihrem Ende versiegten die Bestellungen aus Übersee, es kam die erste Krise. Doch die Branche war gesetzt.

    Tausende von Arbeiterinnen und Arbeitern, in den ersten Jahrzehnten auch Kinder, verdienten hier anfänglich in täglich bis zu zwölf Stunden ihren kargen Lohn. Viele der Betriebe lösten die vormalige Textil- und Strohindustrie ab. Vorwiegend Besitzer von Spinnereien, Webereien, Strickereien und Hutfabriken suchten einen Ausweg aus der Krise, die schon am Ende der napoleonischen Kontinentalsperre begonnen hatte und sich durch die Wandlung von Mode und Zeitgeist sowie die rasante Industrialisierung und Mechanisierung der Produktion mit dem daraus resultierenden Preiszerfall flächendeckend fortsetzte.

    Schmauchtals Bäche lieferten zu wenig Antriebskraft für grössere mechanisierte Fabrikanlagen. So bot das Ausweichen auf die weitestgehend manuelle Herstellung von Pfeifentabak und Zigarren eine willkommene und für das ganze Tal segensreiche Alternative.

    Einer der Studenten meinte etwas launisch, die Anfänge seien zwar bescheiden gewesen, doch inzwischen bedecke der blaue Dunst aus dem Schmauchtal die ganze Erde.

    Klaus Brand, nicht wirklich bierfest und durch die offensichtliche Verballhornung seiner näheren Heimat und den edlen Hintergrund seiner Familie leicht provoziert, regte an, nicht nur Schmauchtals nördliche reformierte, sondern auch die südlichen katholischen Käffer, mindestens Pfaffwil mit seiner berühmten barocken Stiftskirche und Kreuzach mit der ältesten katholischen Kirche der Talschaft und ihrem weitherum sichtbaren, einmaligen Kirchturm mit der strahlend goldenen Spitze zu erwähnen, immerhin habe dort sein Grossvater das Unternehmen Brand-Cigars gegründet. Im Übrigen aber mache es wirklich keinen Sinn, die Ansammlung kleiner Käffer einzeln aufzuzählen, wichtig seien nur zwei, Kreuzach und Wirrwil.

    Wirrwil sei dank seiner Grösse so etwas wie das Zentrum der Region. Die Leute des katholischen Kreuzach zählten sich nicht wirklich dazu, weil Glaube, Geschichte und Politik das Dorf von den übrigen sich zwischen Heimberg und Seeufer hinziehenden Gemeinden deutlich trenne. Zudem empfinde er die Namen Schmauchtal und Schmauchsee beleidigend, weil der blaue Dunst aus den kostbaren Zigarren, die er den Herren soeben gespendet habe, keineswegs Schmauch sei, sondern dem Raucher einen edlen Genuss bereite. Ein besonderer Spassvogel aus der Runde meinte, es gäbe neben seinen Zigarren und Zigarillos auch noch feinere Marken, zum Beispiel die Star-Havannas oder die Starlet-Brasil.

    Klaus fühlte sich zwar herausgefordert, blieb aber seiner grössten Tabak-Konkurrenz gegenüber fair und meinte, es sei letztlich jedem einzelnen Geniesser überlassen, für welche edlen Tabake er sich entscheiden wolle. Star-Tabak von der Staregg mit seiner das Tal dominierenden 800-jährigen Burgruine über Wirrwil sei ein ernst zu nehmender Rivale. Wettbewerb wäre bekanntlich ein grosser Qualitätstreiber, somit sei für ihn alles okay. Einen wesentlichen Unterschied gelte es festzuhalten: Bei Brand-Cigars bürge der Name der Familie für die Qualität. Star Tabak gehöre der traditionsreichen Familie Gruber, die sich aber durch den erfundenen Markennamen anonym im Hintergrund halte. Im Übrigen stütze sich die Marke Star-Tabak ursprünglich nicht auf irgendwelche Minnesänger oder Busenwunder, sondern auf den Vogel dieses Namens mit dem seidenen Gefieder, der in den Mauern der Burgruine Staregg gerne brüte.

    Was Klaus da wortreich präzisierte, erschien seinen Kommilitonen zu kompliziert und etwas kleinkariert. Schmauchtal war für sie einfach Tabakland, ungefähr zwischen Schmauchsee und Heimberg und Klaus Brand ein durchaus fleissiger, ernsthafter, wenn nicht gar detailbesessener und ihnen emotional doch auch etwas gehemmt erscheinender Vertreter dieser verrauchten und vor allem im Winter meist stark nebelverhangenen Gegend.

    Klaus mochte es nicht, wenn man die Dinge vereinfachte. Er insistierte, die Grenze zwischen den katholischen und den reformierten Dörfern sei nicht einfach eine Sache der Kirchensteuer, das sei ein tiefer, durch die Reformation entstandener und im Kulturkampf des letzten Jahrhunderts neu entfachter, bis weit ins 20. Jahrhundert noch täglich wahrnehmbarer und durch den offenen Kreuzbach klar sichtbarer Graben zwischen zwei Kulturen. Er selbst und seine Familie seien Reformierte, umso besser könne er die beiden Welten unterscheiden.

    Es war hoffnungslos, niemand hörte mehr zu. Was Klaus absichtlich verschwiegen hatte, war, dass die beiden grossen Konkurrenten, herausgefordert durch die weltweit schrumpfende Nachfrage, ihre Produktion rigoros rationalisierten und so beinahe alle kleinen und grossen Betriebe nach und nach verdrängt hatten, deren Marken, sofern sie noch etwas hergaben, für eine Weile weiterleben und dann ganz sachte erlöschen liessen. Hunderte Ausripper, Wickel- und Zigarrenmacher verloren ihre Stelle. Sie machten kein Aufhebens. Die Konjunktur im Land war gut. Still und diskret ging im Schmauchtal eine Epoche zu Ende.

    Der Name Schmauchtal wurde nie publik und ausser André Werth, der während des Bier- und Rauchfestes still in einer Ecke sass, erinnerte sich vermutlich später ohnehin niemand mehr an den bierseligen Abend. Er war damals der Jüngste der Gruppe, das Trinken nicht gewohnt und Rauchen war nicht seine Sache. Er blieb der Einzige, der sich das Wort Schmauchtal einprägte. Viel später wurde es für ihn zum Ersatz für etwas, das er zu seinem Leidwesen letztlich nie als Heimat erfahren konnte.

    In seinen Texten, die er später in seinem Leben schrieb, liess er den Namen dann und wann wieder aufleben. Aus ihnen ist dieses Buch entstanden.

    Kreuzach

    Kreuzach hatte keine industrielle Vergangenheit. Wohl möglich, dass einst in mancher Stube ein Webstuhl stand oder Garn gesponnen wurde. Vielleicht kamen Agenten ins Dorf, um die Arbeiten abzuholen und Material und neue Aufträge zu bringen, doch mehr war da nicht. Die verschlafene Bauernecke lag zudem abseits der grossen Landstrasse. So ist es erstaunlich, dass es in dieser ländlichen Idylle katholisch-konservativer Traditionen, jenseits von Bach und Grenze reformierter Aufgeschlossenheit, überhaupt zur Gründung einer Firma kam.

    Das gelang vermutlich durch den unscheinbaren Anfang und die gescheite Bescheidenheit des immerhin reformierten Gründers Louis Brand und seiner für die damalige Zeit erstaunlich aufgeschlossenen und schaffensfreudigen Frau Jeanne. Selbst Jahre nach diesem Anfang konnte niemand ahnen, dass hier ein Kleinstbetrieb zu einem weltweit aktiven Unternehmen wachsen könnte. Louis Brand schuf dazu die Basis. Die Produktion begann in seinem Wohnhaus und ausgebaut wurde nur mit verdientem Geld, aber dann konsequent und weitsichtig. Die Leute im Dorf konnten sich daran gewöhnen und erkannten auch sehr schnell handfeste Vorteile.

    Bis weit ins 20. Jahrhundert waren die wenigen Häuser mit ihren um 300 Einwohnern, viele davon Kleinbauern, die sich um eine alte Kirche scharten, als dörfliche Einheit klar erkennbar. Weitere Güter und Gütchen verteilten sich auf dem ziemlich ausgedehnten Gebiet der Gemeinde mit ihren Flurnamen wie Dürrbühl, Bachrain, Bärenzopf und so weiter. Jeder kannte jeden und nichts geschah, das nicht sofort von allen registriert, bewertet, kommentiert und angenommen, hin und wieder begrüsst, abgelehnt oder gar mit bösen Worten geschmäht wurde. In der vorindustriellen Vergangenheit hatten die Erbteilungen unter Geschwistern die Güter ständig mehr zersplittert und das einst vermutlich prosperierende Bauerndorf in eine Siedlung mehr oder weniger ärmlicher und weit zerstreuter Klein- und Kleinstgüter verwandelt.

    Für die Leute war vor allem Bargeld ein sehr rares Gut. Der eigentliche Nutzen der kleinbäuerlichen Landwirtschaft lag in der Selbstversorgung mit Milch, Kartoffeln, Gemüse und Obst. Wollten sich die oft kinderreichen Familien damit durch den Winter füttern, blieb kaum etwas, das sich verkaufen liess und für Marktfahrten war die Stadt ohnehin zu weit entfernt. Für manche reichten die einzelnen kleinen Wiesen kaum zur Haltung einer Kuh. Viele besassen lediglich eine, zwei oder gar drei Ziegen.

    Zwar waren sich auch die ärmsten Bauern zu gut, um selbst in einer Fabrik zu arbeiten, hingegen muteten sie solches ohne weiteres ihren Frauen, Töchtern und ihren für die Landwirtschaft überzähligen Söhnen zu, für herzlich wenig, aber immerhin bares Geld bei trübem Licht und in schlechter Luft von sechs Uhr frühs bis sieben Uhr abends den Rücken über Tabakblättern und Zigarrenwickeln zu krümmen.

    Viele der Arbeitenden kamen aus den Nachbardörfern und Kreuzach blieb einstweilen ein Dorf kinderreicher, im Übrigen mehrheitlich ärmlicher Bauernfamilien. Ein Hof mit zehn Kühen, ein paar Säuen und einem Pferd galt bereits als ansehnlicher Betrieb, davon gab es drei oder vier. Die übrigen fast zwei Dutzend Klein- und Kleinstbauern begannen immer häufiger, ihre Kinder so früh wie möglich mit Heimarbeit zu beschäftigen und nach den Schuljahren in die Fabrik zu schicken.

    Was der zugewanderte Louis Brand mit seiner Frau und wenigen Arbeiterinnen in seinem Wohnhaus begann, wurde innert weniger Jahre zu einer ansehnlichen Fabrik mit bald vielen Dutzend Mitarbeitenden, vorwiegend Frauen und deutlich weniger Männern.

    Louis Brand allerdings erlebte den Aufschwung seines Unternehmens nur zu einem geringen Teil. Er starb in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Seine Frau übernahm als eine der ersten geschäftsführenden Frauen des Landes die Leitung der Firma. Jeanne stammte angeblich aus einer Unternehmerfamilie der Seeweite, aufgewachsen in der Tradition der einst blühenden, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert jedoch absteigenden Stroh- und Textilindustrie. Aus dieser Herkunft bezog sie offenbar ihre Energie und ihren unerschütterlichen Durchhaltewillen, und aus der Nähe zum dörflichen Geist und bäuerlicher Sparsamkeit ihre selbstverständliche Bescheidenheit gegenüber sich selbst und den Sinn für das unmittelbar Nötige.

    Es fehlten ihr zur Führung der Firma weder Wissen noch Können, am allerwenigsten der Wille. Sie hatte von Anfang an mitgearbeitet, beim Einkauf des Tabaks, der Behandlung der anspruchsvollen Deckblätter, dem Entfernen der Rippen, dem Drehen der Wickel und der eigentlichen Fertigung der Zigarren. Ihre Ausbildung reichte auch zur Betreuung der Kunden, dem Schreiben der Fakturen, dem Führen der Buchhaltung und der Entlohnung ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter.

    Louis und Jeanne Brand hatten zwei Söhne, Marcel und Hannes. Beim Tod von Louis waren die Buben erst zehn und zwölf Jahre alt. Ihnen übertrug Jeanne nach Schulschluss jede Art von Arbeit, zu denen sie sie für fähig hielt. Dazu gehörten nicht nur der Umgang mit Tabak, sondern auch Botengänge, das Aufräumen und Putzen von Arbeitsräumen, die Pflege der Werkzeuge und der noch wenigen einfachen Maschinen. Zigarrenmachen war noch für Jahrzehnte weitestgehend Handarbeit. In vielem unterschied sich der Alltag der beiden Buben kaum von dem von Hunderten von Kindern, die in ihren Familien Heimarbeit leisten mussten.

    Allerdings achtete die Mama sorgfältig darauf, die Kinder nicht zu überfordern oder gar in ihren schulischen Leistungen zu behindern. Beide schafften den Zugang zu Sekundarschule und zum erfolgreichem Studium.

    Die tüchtige Frau bewältigte ihre grössten Herausforderungen in der Zeit, in der Clara Wirth im Schmauchtal Inhalte und Fakten für ihre Doktorarbeit über die Heimarbeit in der Tabakindustrie zusammentrug. Die junge Frau war bei den Fabrikherren in der Gegend gewesen, und das waren, wenn man die Inhaber von Kleinstbetrieben dazu zählte, mehr als 100. Nicht ganz zu Unrecht fürchteten sie, durch diese Arbeit in ein schiefes Licht zu geraten.

    Im Gegensatz dazu hatte Mama Brand keine Berührungsängste. Die Doktorandin ging bei ihr ein und aus. Die Unternehmerin hatte nichts zu verbergen. Ihre Löhne liessen jeden Vergleich zu und die Arbeitsbedingungen entsprachen den Gesetzen. Sie bestritt nie, dass diese Härten enthielten, über die gelegentlich zu reden sein würde – «kommt Zeit, kommt Rat», sagte sie jeweils. Sie sah sich in ihren Ansprüchen bescheiden, arbeitete selbst von früh bis spät, hatte ihre Söhne in die gleiche Richtung erzogen und versuchte, ausserordentlicher Not dort zu begegnen, wo sie auftrat.

    Dass die Verhältnisse, in denen ein Grossteil der Arbeitnehmer leben musste, nichts anderes waren als alltägliche Not, konnte sie nicht auf sich selbst zurückführen. Ohne die Arbeit in den Fabriken würde alles bloss schlimmer sein, meinte sie und das sagte sie ohne Arroganz.

    Unermüdlich arbeitete sie für das Gedeihen ihres Unternehmens. Die wachsenden Exporte ins angrenzende Ausland und die vom deutschen Kaiser verhängten Schutzzölle führten zur Gründung einer Fabrik in Deutschland. Diese Aufgabe hatte sie einem aussergewöhnlich geschickten Verkäufer und unermüdlichen Schaffer, Sebastian Schaller, übertragen.

    Der kurz danach ausgebrochene Erste Weltkrieg stellte die Frau vor beinahe unlösbare Probleme. Der Import von Tabak wurde nahezu unmöglich und die Qualität der in der Schweiz kultivierten Sorten liess zu wünschen übrig. Zwar musste sie Einbussen in Kauf nehmen und den Betrieb in der Schweiz reduzieren, aber sie hielt durch und nach dem Krieg wurden ihre Zigarren zu einer der grossen Marken im Land.

    Nach Jahren der Ausbildung übergab sie die Leitung des Unternehmens nach und nach ihren Söhnen. Hannes stand der betrieblichen Arbeit näher und wurde verantwortlich für die Produktion, während der sprachlich begabte und weltgängigere Kaufmann Marcel Einkauf, Verkauf und Verwaltung der Firma führte. Es kam die Zeit, in der Marcel mit seiner Frau und dem kleinen Sohn Heinz in München lebte und sich dort bei Sebastian Schaller mit dem Geschäft in Deutschland vertraut machte. Noch ahnten die jungen Leute nicht, in welch furchtbare Katastrophe der neue Reichskanzler Hitler sein Land, Europa, ja die Welt stürzen würde. In München, in dem das Ungeheuer auf seinem Weg zur Macht tiefe Spuren hinterlassen hatte, sprachen die meisten Leute, mit denen Marcel zu tun hatte, von Aufbruch, neuer Ordnung, von deutscher Überlegenheit. Es war für das junge Paar schwierig, sich ein richtiges Bild zu machen. Sie versuchten, aus der Entwicklung für ihr Unternehmen das Beste herauszuholen und waren doch froh, zurückzukehren und Wohnsitz zu nehmen in der neuen Villa mit grossem Umschwung, den die Mama für ihren Sohn von Gottfried Lönz vom Stadelhof erworben hatte. Mit ihnen zog auch die 18-jährige Maria, die Haushalthilfe der jungen Frau Brand, in die Villa. Maria hatte schon in München Heinz, den sie heimlich Heinzelmännchen nannte, gehütet.

    Landleben

    Um die Jahrhundertwende, als Louis Brand mit seiner Frau die ersten Firmenerfolge feierte, lebte Emma Lönz mit ihrem Vater und ihrer Grossmutter abseits vom Dorf auf dem Stadelhof, einem der grösseren Anwesen auf dem Kreuzacher Dürrbühl.

    Ihr kleingewachsener Vater Gottfried Lönz, Göpf genannt, galt als Grobian. Er hatte einen Klumpfuss und konnte nur hinkend gehen.

    Die wirkliche Herrin auf dem Stadelhof war Stine, Göpfs Mutter, Emmas Grossmutter. Sie war die Einzige, die ihren zum Jähzorn neigenden und seine Behinderung immer wieder verfluchenden Sohn zu bändigen vermochte. Das war wichtig, denn zum Hof gehörten zehn Kühe, einige Kälber und Rinder. Ohne Melker oder Knecht und im Sommer mit weiteren Helfern, meistens Taglöhnern und einer Magd als Hilfe für die alte Frau, war die Arbeit nicht zu bewältigen.

    Emma war wie einst ihre Mutter ein eher feingliedriges Mädchen und schien der Grossmutter nicht stark genug, um auf dem Hof so etwas wie eine brauchbare oder gar vollwertige Magd zu werden. Schon während ihrer Schuljahre musste die Kleine lernen, Tabakblätter auszurippen. Die Alte holte den Tabak jeden Freitag, um eine Woche später die ausgerippten Blätter abzuliefern. Emma war ein geschicktes Mädchen. Sie tat mit Fleiss, was die Grossmutter ihr zumutete, denn nur so blieb diese einigermassen bei guter Laune. Zwar war der Lehrer mit der Schülerin nicht zufrieden. Er besuchte Stine und erzählte ihr, das Mädchen schlafe oft während des Unterrichts, aber er möge sie nicht bestrafen, weil er glaube, die Arme müsse zu Hause zu viele Stunden arbeiten.

    Das brachte Stine aus der Fassung. Was er sich da ausdenke, sei eine Frechheit. Die Emma müsse kaum je länger als bis zehn Uhr abends arbeiten und auch am Morgen vor Kirchgang und Schule verlange sie nur ganz selten einen Einsatz, höchstens an Freitagen, wenn die Lieferung für die Fabrik nicht erfüllt sei. Dann müsse sie halt um vier oder halb fünf aufstehen und den Rest bewältigen, aber sie selbst helfe ihr dabei immer.

    Der Lehrer gab sich damit nicht zufrieden. Er erzählte Stine, Kinderarbeit werde in Zukunft bedeutend stärker geahndet. Es gehe nicht an, dass die Familien nach wie vor ihre Kinder ausbeuteten. Er werde wiederkommen und mit ihm ein Fräulein aus Sankt Gallen, das gegenwärtig eine wissenschaftliche Untersuchung zu diesem Thema mache. Ihr könne sie dann alles sagen, was sie mit der Emma mache und wie sie darüber denke. Die schreibe alles auf und daraus werde zuletzt ein Buch über die Kinderarbeit im Schmauchtal. Das machte Stine stutzig. Er solle sich hüten, dieses Fräulein vorbeizubringen, einen Dreck werde sie der erzählen, in ihrem Haus mache sie, was sie für richtig finde und das gehe bei Gott niemanden etwas an. Kinder müssten sich von klein auf an Arbeit gewöhnen, sonst werde nie etwas aus ihnen und jetzt solle er gehen, sonst rufe sie den Göpf und der werde ihm dann seine Schulmeisterflausen austreiben.

    Kinderarbeit war zwar in jenen Jahren längst verboten. Es war jedoch die Grossmutter, die jede Woche einmal mit ihrem Wägelchen die entrippten Blätter brachte, die neuen Bündel holte und den Lohn kassierte. Dass die kleine Emma ihrer Grossmutter ab und zu behilflich war, kümmerte niemanden. Weil Emma sehr geschickt war, bekam sie mit vierzehn Arbeit in der Fabrik. Das stille, fleissige, bescheidene Mädchen war beliebt bei ihren Kolleginnen, aber auch beim Aufseher und schliesslich auch bei Mama Brand.

    Die älteren Frauen hatten Emmas Mutter ebenfalls gekannt. Böse Zungen im Dorf wollten wissen, eine andere Frau als jenes schüchterne Mädchen armer Leute hätte der Wüterich Göpf nie bekommen, ihre Eltern hätten das zarte Ding an Stine und ihren Göpf verramscht, er habe seine Frau verprügelt und einige behaupteten, sie sei überhaupt nicht an den Folgen von Emmas Geburt gestorben, sondern am Elend der endlosen Quälereien ihres Mannes.

    Sechs Tage die Woche sass das Mädchen im Fabriksaal auf ihrem Stuhl und verarbeitete ihre Chargen. Nach vier Jahren hatte sie es zur Wickelmacherin gebracht, doch Stine holte nach wie vor jeden Freitag Tabakblätter, und wenn Emma am Abend nach jeweils zehn Stunden Fabrikarbeit nach Hause kam, setzte sie sich in der Stube an den Tisch zum Ausrippen bis zehn oder elf Uhr nachts. In den Wintermonaten, wenn es draussen weniger Arbeit gab, setzten sich Stine, die Magd, der Knecht und der Göpf dazu und alle arbeiteten im Licht einer trüben Petrollampe mit. Die mittlerweile junge Frau war blasser und trauriger geworden. In den letzten Wochen vor ihrem 17. Geburtstag wurde ihr während der Arbeit in der Fabrik ab und zu übel und sie musste sich erbrechen. Hin und wieder weinte sie still vor sich hin. Auf Fragen zu ihrer Verfassung zuckte sie die Achseln, lächelte beschwichtigend und meinte, es sei nichts, sie fühle sich einfach etwas müde. Damit stiess sie auf Verständnis und auch Anteilnahme.

    Es gab viel zu reden im Dorf, als Emma, für jedermann unerwartet, von ihrem unehelichen Kind entbunden wurde. Nach wenigen Wochen ging sie wieder in die Fabrik und Stine hütete den kleinen Lukas. Das Rätselraten über die mögliche Vaterschaft dauerte über Monate. Die völlig verdatterte junge Mutter weinte zwar oft, schwieg aber eisern zu dieser Frage.

    Erst im August 1914, als der Erste Weltkrieg ausbrach und der Knecht Melchior Stramm zum Militärdienst eingezogen wurde, meldeten er und Emma sich zur Hochzeit an. Im Dorf sickerte durch, Melch sei der Vater von Lukas und nur im Hinblick auf den möglichen Krieg hätten sich Göpf und seine Mutter dazu überwinden können, die Schande ihrer Tochter, sich mit dem Knecht eingelassen zu haben, offenzulegen. Schon im September fand die Hochzeit statt. Der Mann konnte sich, niemand wusste, warum, vom weiteren Militärdienst befreien und blieb auf dem Hof.

    Melchior Stramm fühlte sich jetzt nicht mehr als Melker und Knecht. Er getraute sich beinahe von einem Tag auf den anderen, dem Göpf entgegenzutreten. Schon kurz nach der Hochzeit nannte er ihn laut und schadenfreudig Klumpsack, drohte ihm seinerseits mit Prügeln und erschreckte die alte Stine jeden Tag mindestens einmal mit einem Riesengebrüll über irgendetwas, das ihm nicht passte. Auf diese Weise erhielt Emma in der Küche endlich fliessendes Wasser, das sie bis dahin kübelweise vom Brunnen in die Küche schleppen musste und nur wenige Wochen danach sagte die Alte ja zur Installation von elektrischem Licht im ganzen Haus.

    Emma befahl er ungeduldig, ihre Arbeit in der Fabrik aufzugeben und den Haushalt zu übernehmen. Von jetzt an solle Stine entweder in die Fabrik gehen oder zu Hause allein ausrippen. So, wie Emma bisher Vater und Grossmutter beinahe unterwürfig und vor allem aus lauter Angst gehorchte, so folgte sie den Ansprüchen ihres Mannes. Der Magd aber sagte Melch, wenn sie sich der neuen Ordnung füge, könne sie bleiben, sonst müsse sie gehen. Die Martha – eine schon etwas ältere Jumpfer, wie man damals ledige Frauen nannte – hatte keine grosse Wahl, fügte sich und blieb.

    Die Veränderungen auf Göpfs Hof wurden im Dorf sehr schnell wahrgenommen und jedermann wunderte sich.

    Der Winter kam und ging vorüber.

    Nicht alles entwickelte sich zum Guten. Im Frühling wurde der kleine Lukas zwei Jahre alt, stand noch immer nur wackelig auf den Beinen und begann kaum damit, einzelne Wörter zu reden. Er schlief oder schrie, wollte oft nicht essen und bewegte sich wenig. Melch interessierte sich für den Kleinen wenig, aber er nahm ihn ab und zu auf die Arme und sagte zu ihm: «Dir verdanke ich mein ganzes Glück, bleib gesund, Kleiner.» Dann tätschelte er ihm die Wangen, gab ihn seiner Mutter oder legte ihn ins Bettchen zurück.

    Wenn er schrie, gab ihm Stine von ihrem sogenannten Kräutersud. Allmählich wurde Emma etwas neugierig, womit die Grossmutter ihren Urenkel beruhigte. Sie nahm von Kräutern und dem Sud eine Probe und lief damit zum Apotheker. Der war entsetzt. Die Inhalte waren mehr als fragwürdig. Da sei Mohn dabei, der hier wachse, giftiges Zeug. Bestimmt wurde der Bub dadurch in seiner Entwicklung bereits behindert.

    Es kam zu einem ersten nachhaltigen Streit zwischen Stine und ihrer Enkelin. Melch sass mit in der Küche und sicherte so den Ausgang der Auseinandersetzung. Als alles raus war, nannte er Stine eine alte Hexe, eine Giftmischerin, früher hätte man solche verbrannt. Die Stine war entsetzt und bekreuzigte sich.

    Da nun Stine nach wie vor Woche für Woche mit dem Handwagen Tabakblätter holte, sie in der Stube allein ausrippte und Freitag für Freitag ablieferte, begann Emma aufzublühen. Im Sommer erwartete sie ihr zweites Kind, den Moritz. Und in den drei Jahren danach kamen noch zwei, Michael und der jüngste, Alois.

    Während diese drei ehelichen Söhne prächtig gediehen, blieb Lukas ein Kümmerling. Was ihn auszeichnete, war seine stets gute Laune und sein unstillbarer Appetit. Als ob er nachholen wollte, was er als Säugling versäumt hatte, ass er, was ihm in die Hände fiel. Emma musste schon bald alles wegschliessen, was in der Küche herumstand. Er machte sich selbst hinter die für die Schweine gedämpften Kartoffeln oder hinter den Krug mit dem Sauerrahm her.

    Mit sieben ging Lukas zur Schule. Er war ein fetter kleiner Junge mit auffallend kleinem Kopf, kleinen Händen, kurzen Beinen und kleinen Füssen. Nach einer Woche schickte ihn der Dorflehrer nach Hause, er solle in einem Jahr wieder kommen.

    So blieb ihm ein weiteres Jahr, um die Hühner zu jagen, auf den Wiesen erfolglos Schmetterlingen nachzurennen und seiner Mutter kleine Sträusse zu pflücken.

    Emma hatte sich mit dem etwas dümmlichen Lukas, wie Melch ihn nannte, abgefunden. Sie liebe ihn, wie er halt sei, erklärte sie, wenn jemand es wissen wollte. Manchmal weinte sie bei so dummen Fragen.

    Es gab nur einen Ärger, den sie dem Jungen nie verzieh. Er blieb Bettnässer. Beinahe jede Nacht liess er sein Wasser fahren. Sie tauschte sich darüber mit allen möglichen Leuten aus und versuchte alle Ratschläge nacheinander umzusetzen. Nichts half.

    Als der Bub mit acht nochmals einen Einstieg in die Schule versuchte, behielt ihn der Lehrer zwar, aber der Pfarrer fand, Lukas würde nie richtig beichten lernen und demnach in Sünde leben müssen. Er fände dies unhaltbar und empfahl, den Kleinen in ein katholisches Heim zu geben, wo er vielleicht auch ein wenig schreiben und lesen lernen könnte, aber ganz bestimmt ein richtiges Kind Gottes werden würde.

    Emma wollte ihren Buben nicht hergeben und Melch scheute die Kosten. Nur der Göpf machte sich für die Lösung stark und meinte, er würde für die Kosten aufkommen. Nach Ostern 1923, er war gerade zehn Jahre alt, schloss sich die Tür zwischen Emma und Lukas, den Melchior beinahe von Anfang an Lucky nannte.

    An Pfingsten reiste Emma mit Melch an die Reuss zu dem alten umgebauten Kloster. Blass, traurig und sichtbar leichter geworden sah Lukas aus. Er sei erkältet gewesen, sagte die Nonne, die ihn betreute. Sie lud die beiden Gäste zur nachmittäglichen Vesper ein, dort würde Lukas mitsingen, lächelte die gute Schwester Cäcilie. Danach gab es im Refektorium zusammen mit anderen Besuchern Tee und etwas Konfekt. Um vier war die Besuchszeit vorbei. Emma und Melch mussten gehen. Erst auf der Heimfahrt wurde Emma bewusst, dass sie ihren Lukas nicht fünf Minuten für sich allein gehabt hatte.

    Der Sommer kam und damit die strengste Zeit auf dem Hof. Es gab keine Besuche mehr an der Reuss. Für Weihnachten setzte Emma durch, dass Lukas nach Hause kommen durfte.

    Lukas war verändert. Er hatte vor allem sein Lachen und seine sonst alltägliche Freude verloren. Als Melch ihn am zweiten Weihnachtstag zurückbringen wollte, begann er zu weinen. Er erbrach sein ganzes Essen und bat erbärmlich, bleiben zu dürfen. Also fuhr Melch allein hin, um die Sache zu klären. Der Direktor der Anstalt, ein Geistlicher, zeigte sich entrüstet. Es verstosse gegen jede konsequente Erziehung, wenn ein Kind aus einem Programm gerissen werde, in dem die kleine Seele Gott zugeführt werde.

    Emma zog ihren besten Rock an und besuchte Mama Brand. Diese Frau stand damals noch immer der Brand Zigarrenfabrik vor. Inzwischen hatte sie in Deutschland längst eine Niederlassung gegründet, das Unternehmen auf beiden Seiten des Rheins durch die Kriegsjahre gesteuert und die Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Tabaks gemeistert. Sie hatte allen Widerwärtigkeiten getrotzt und sich allen Vorurteilen gegenüber Frauen als Vorgesetzten erfolgreich gestellt.

    Als Emma Lukas zur Welt gebracht hatte, hatte sich die Mama, wie sie inzwischen genannt wurde, um Emma Sorgen gemacht und war dabei auf Zurückweisung oder mindestens Zurückhaltung gestossen. Emma wollte sich von niemandem helfen lassen, sie brach einfach in Tränen aus. Abschliessend hatte die Mama gesagt: «Kind, wenn du mir etwas zu sagen hast, komm und sag es mir.» Nun ging Emma hin und erzählte ihr von Lukas, ihrem kleinen dummen Buben.

    Sie werde sich der Sache annehmen, das hatte die Mama versprochen.

    Lukas konnte zur Schule gehen, der Dorflehrer übte sich in Geduld und nach Ostern liess ihn der Pfarrer, nach einer umständlich geplapperten Beichte, am weissen Sonntag zur ersten Kommunion. Mama Brand hatte ganze Arbeit geleistet. Obwohl sie reformiert war, also nicht den richtigen Glauben hatte, konnte es sich der geistliche Herr nicht erlauben, ihre Wünsche zu übergehen. Mamas jährlicher Obolus war ihm zu wichtig.

    Lukas lernte ein wenig lesen, mit Karten spielen und dabei auch etwas rechnen. Seine jüngeren Brüder begannen ihn zu überholen, auch ihn dann und wann auszutricksen, aber sie spielten mit ihm und liessen ihn hin und wieder gewinnen – er ahmte sie mehr nach, als dass er von ihnen lernte.

    Inzwischen übernahm er auch, meist eher unwillig, einige Arbeiten auf dem Hof. Er liebte es beispielsweise, den Heurechen über die Wiese zu ziehen und freute sich, wie sich die saubere Grasnarbe hinter ihm leicht neigte. So legte er hin und her eine Bahn neben die andere und sie ergaben ein sauberes Abbild seiner Arbeit.

    Eines Tages sagte Lukas, er wolle in der Fabrik arbeiten. Lukas bekam seine Stelle als Ausripper. Das waren in der Regel vier Handgriffe, bei denen den Tabakblättern die Rippen ausgezogen wurden. Nach anfänglichen Schwierigkeiten erreichte er eine bemerkenswerte Geschicklichkeit.

    Zu seinem 20. Geburtstag schenkte ihm eine Frau im Dorf den zwilchenen Anzug ihres verstorbenen, nur wenig grösseren und ähnlich massigen Mannes. Zum braunen Kleid gehörten zwei Hosen, ein Gilet, ein Hut, zwei weisse Leinenhemden und ein schwarzer Krawattenknopf. Sie überliess ihm zudem einen Stock mit Elfenbeingriff und, was ihn am meisten freute, die Taschenuhr des Verstorbenen.

    Der Schneider im Dorf machte ein paar Änderungen, kürzte die Hosen und das alles ohne grosse Rechnung. Lukas hatte seiner Mutter von allem nichts erzählt und sich am folgenden Sonntag ohne Ankündigung die neuen Sachen angezogen.

    Er setzte sich am Morgen zum Kaffee im neuen Gewand an den Tisch, zog sich danach Gilet und Jacke an, setzte sich den Hut auf den Kopf, nahm den Stock und zog ins Dorf zur Kirche, zur Messe. Er werde dort für seine Mutter beten. Emma war sehr krank.

    Mit 84 Jahren starb Stine. Sie arbeitete bis in die letzten Wochen, fuhr mit ihrem Wägelchen zur Fabrik und zurück. Sie war eine der letzten Heimarbeiterinnen. Die Betriebe waren zunehmend auf eine gleich bleibend hohe Qualität der Deckblätter angewiesen und diese liess sich in der Fabrik leichter sichern. Auch wurde die inzwischen verdeckte oder geleugnete Ausbeutung der Kinder durch die eigenen Eltern mehr und mehr als Schande gebrandmarkt und die Fabrikherren wollten nicht länger an den Pranger gestellt werden.

    Nach Stines Tod versuchte der von Melchior durch die Jahre immer wieder gedemütigte Göpf einen Befreiungsschlag.

    Als Alleinerbe seiner Mutter verkaufte er hinter Melchs Rücken Mama Brand zu Handen ihres Sohnes Marcel auf dem Dürrbühl ein Stück Land. Das war keine Kleinigkeit, um die vier Hektar, ein Drittel der gesamten Fläche, die zum Hof gehörte, in unmittelbarer Nachbarschaft, deutlich über dem Hof, durch Buschwerk getrennt, an schönster Lage mit Sicht auf See und Alpen vom Säntis bis zur Jungfrau, zum Bau einer Villa.

    Von Melch zur Rede gestellt, behauptete er, Stine hätte das Ganze noch zu Lebzeiten eingefädelt. Die Villa werde dem neu verheirateten Sohn, der gegenwärtig mit seiner jungen Frau noch in München lebe und dem sie, da sie selbst schon beinahe siebzig sei, die Leitung der Fabrik übertragen wolle, als Wohnhaus dienen.

    In der Folge geschah Unglaubliches: Melch warf seinen Schwiegervater aus dem Haus und befahl ihm, in der Scheune über dem Stall in dem Zimmer, in dem er einst als junges Knechtlein sein Bett hatte, zu hausen und zu schlafen. Er solle nur noch zum Essen ins Haus kommen dürfen.

    Alle Proteste, auch Emmas Bitte, ihn nicht dermassen zu demütigen, halfen nichts. Er meinte, die Buben bräuchten ohnehin mehr Platz und Lukas sein eigenes Zimmer. Melch blieb bei seiner Entscheidung. Er räumte Göpfs Bett und Kasten eigenhändig um und brachte den ganzen Krempel in die Scheune.

    Die Geschichte wurde bald auch im Dorf bekannt und jedermann wunderte sich, warum sich der Göpf diese Demütigung gefallen liess. Grundsätzlich hätte er doch seinerseits seinen Schwiegersohn mit der ganzen Familie vom Hof verjagen können, doch nichts Derartiges geschah.

    Kurz nachdem Lukas 20 geworden war und sich über seinen neuen Anzug freute, lag seine Mutter im Sterben. Auch an ihrem Begräbnis trug er seine neue Kleidung, mit einem schwarzen Band um den linken Arm. Am Grab zog er seinen Hut, nahm von Melchior den Weihwasserwedel, um den Sarg zu besprengen, gab ihn weiter an seinen Bruder, übernahm die kleine Schaufel mit etwas Erde, schüttete diese ins Grab, gab die Schaufel weiter, bekreuzigte sich auf Stirn, Mund und Brust und folgte Melchior. Erst zu Hause begann er hemmungslos zu weinen.

    Drei Tage nach Emmas Begräbnis erhängte sich ihr Vater in der Tenne neben dem Stall. Im Dorf waren die Menschen entsetzt.

    Melch arbeitete zusammen mit einem Knecht und einer Magd auf dem Hof von früh bis spät und versuchte, nicht auf das Gerede zu achten. Nur wenige Monate nach Göpfs Tod verliessen ihn auch sein Knecht und seine Magd, Grund für neues Gerede.

    Als Knecht zog der 20-jährige Lorenz Gramper aus dem Entlebuch, der Melchior in vielem an seine eigene Herkunft erinnerte, in den Verschlag über dem Stall, als Magd fand er eine ledige Frau aus der Ostschweiz. Er bezahlte einen guten Lohn und zu essen gab es genug. Das war den beiden das Wichtigste. Melch wurde sehr, sehr einsam.

    Das alles geschah noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Brand-Cigars war im kleinen Kreuzach zu einem der grossen Betriebe der Region angewachsen. Was weder im Dorf noch im Schmauchtal kaum jemand ausser der Konkurrenz wusste, war, welche Bedeutung Brand-Cigars in Deutschland noch vor dem Zweiten Weltkrieg erreichte. Zweitausend Arbeiterinnen und Arbeiter produzierten dort für die deutsche Marktführerin Brand-Cigars.

    Maria und Lorenz

    Der Entlebucher Lorenz kam 1933 nach seiner Rekrutenschule auf den Stadelhof. Nur Melchior, der Gemeindeschreiber, der Ammann und der Armen- und Waisenvogt kannten seine Herkunft. Als Sohn einer Serviererin und eines durchziehenden Wandergesellen, der, als die Schwangerschaft der bedauernswerten Magd klar wurde, nicht mehr zu finden war, verbrachte seine ersten Jahre mit seiner Mutter im Wirtshaus und kam danach als Verdingbub zu einem Bauern, einem entfernten Verwandten seiner Mutter und wurde so in einer sehr harten Jugend mit Prügeln, Hunger, Lieblosigkeit und Einsamkeit ein Melker und Knecht. Melchior übernahm ihn als Knecht, weil er sich an seine eigene ärmliche Geschichte erinnerte und dem jungen Mann eine Chance geben wollte.

    Seinen Werdegang sah man Lorenz nicht an. Er besass einen einwandfreien Sonntagsanzug, zwei schöne Hemden, einen Hut und gutes Schuhwerk. So ging er jeden Sonntag zur Messe, trank danach im Kreuz ein Bier, gönnte sich eine einfache Zigarre, setzte sich dabei allerdings nicht zu den besitzenden Bauern und führte auch keine grossen Reden. Er benahm sich so, wie die wichtigen Leute im Dorf dies von ihm erwarteten – anständig und bescheiden.

    So wirkte er auch auf Mädchen, genauer auf die nicht gerade wohlhabenden, aber durchaus anständigen ledigen jungen Frauen im Dorf, als ansehnliche Erscheinung, mit der man sich zeigen durfte. Nach und nach lernte er sie auch kennen. Die meisten von ihnen arbeiteten bei Brand-Cigars und viele sah er auch am Sonntag in der Kirche.

    Als Lorenz sich beim Kirchenchor meldete, um der einen oder anderen der jungen Frauen etwas näher zu kommen, mischte sich Melchior nicht ein, obwohl ihm die Sache nicht wirklich passte. Aber er erinnerte sich an seine eigene Zeit als Jungmann. Der Lorenz hatte eine recht gute Stimme und der Dorflehrer, gleichzeitig Chorleiter und Organist, sah in ihm einen zwar völlig ungebildeten, aber brauchbaren Bariton. Einmal die Woche musste er am Abend zur Probe gehen und jeden Sonntag sang er um neun Uhr zum Hochamt. Gegen Jahresende gab der Chor ein kleines Konzert im Kreuzsaal mit einem anschliessenden Theaterstück und danach war die Bühne frei zum Tanzen. Der Chor wurde für Lorenz zu einer Gelegenheit, mit Maria Körber bekannt und im Lauf der Wochen und Monate ein wenig vertraut zu werden. Als Kind lebte sie zusammen mit ihrer Mutter, einer Wasch- und Putzfrau, und einer jüngeren Schwester in Wirrwil.

    Als Kindermädchen bei den jungen Brands, zurück aus der Grossstadt München, die sie nie mochte, verfügte sie zwar über sehr wenig Freizeit, aber die reformierten Brands liessen die katholische Maria selbstverständlich in den Kirchenchor gehen, schärften ihr jedoch ein, sich von Männern fernzuhalten. Bis zu dem Tanzabend im November hatten sie denn auch keine Ahnung, was da lief, denn die Geschichte der beiden war bisher mehr als harmlos gewesen.

    Das änderte sich an jenem Abend. Bis in den frühen Morgen, bis Lorenz zurück zu seiner Arbeit gehen musste, blieben sie zusammen, erzählten sich ihr bisheriges Leben und fanden heraus, dass sie beide einsam waren und sich gegenseitig hilfreich sein könnten. Maria hatte sich verliebt und war nicht mehr zu bremsen.

    Nur wenige Wochen später war Maria schwanger und damit gab es kein Zurück. In der Fastenzeit konnten die beiden nicht getraut werden, da war der Dorfpfarrer strikt dagegen und als Ostern vorbei war, konnte, wer wollte, schon sehen, wie dringlich die Hochzeit für die beiden geworden war und es gab, auch für jedermann sichtbar, kein weisses Kleid, keinen Kranz und keinen Schleier. Dummes Geschwätz und Gespött gingen durchs Dorf und meistens auf Kosten der werdenden Mutter. Beides erreichte auch den Kirchenchor. Maria wurde von den übrigen Frauen systematisch geschnitten und die Männer verzogen ihre Gesichter in verächtliches Lächeln oder machten gar doppelbödige Bemerkungen. Bei einer Probe verliess Maria weinend das Lokal im Schulhaus und trat aus dem Chor aus. Lorenz zog mit. Dafür war sie ihm dankbar.

    Sie fanden im Haus beim Stocker, einem alten Kleinbauern mit zwei Kühen, dem seine Schwester den Haushalt führte, weil seine Frau ein paar Jahre zuvor gestorben war, zwei kleine Zimmer unter dem Dach. So konnte Lorenz seine Arbeit bei Melchior behalten. Maria, die ihre Stelle als Kindermädchen hatte aufgeben müssen, arbeitete jetzt bei den Brand-Cigars in Packerei und Spedition.

    Ende September kam Erwin zur Welt und ein Jahr danach Theo, der eigentlich Theodor hiess.

    Es wurde eng beim Stocker, aber auch schwierig, ein anderes Dach über dem Kopf zu finden, das die beiden bezahlen und bei dem sie gleichzeitig ihre Stellen behalten konnten. Das Zuwarten lohnte sich. Der Stocker starb und seine Schwester, einzige Erbin, verkaufte Haus und Land an Mama Brand. So konnten die Grampers in die weit grössere Wohnung im gleichen Haus ziehen.

    Maria hatte inzwischen auch ihre Fabrikarbeit aufgeben müssen. Sie machte jetzt Heimarbeit. Woche für Woche holte der Lorenz mit Melchiors kleinem Leiterwagen Tabakblätter zum Ausrippen im Nachbardorf bei der Tabak AG. Brand-Cigars setzte zum Ausrippen längst auch Maschinen ein. In der Tabaki, wie viele Leute die Firma auch nannten und bei den meisten anderen, vor allem kleineren Konkurrenten, blieb man bei der Handarbeit und schlachtete diese Feinheit in der Werbung um Kunden aus.

    Es war wenig Geld, das Maria mit ihrem Rippenzupfen verdienen konnte. Und mit dem, was Lorenz an Bargeld nach Hause brachte, konnten sie kaum die Wohnung bezahlen. Lorenz bekam seine Mahlzeiten bei Melchior und er brachte auch häufig etwas Fallobst und Gemüse oder Kartoffeln mit nach Hause.

    Immerhin, Marias Familie drohte mindestens anfänglich auch im Winter weder Hunger noch Kälte. Die Stube liess sich mit dem aus der Küche befeuerten Kachelofen wärmen. Für Weihnachten brachte der Lorenz jeweils ein Tännchen aus dem Wald, ohne es zu stehlen, so etwas wäre für das ganze Dorf unverzeihlich gewesen, er hatte es jeweils vom Förster erbettelt. Geschenke gab es kaum, aber ein wenig Gebäck, das ihm Melchiors Magd zusteckte.

    Das war gut so, denn inzwischen erwartete Maria mit ihren knapp 24 Jahren ihr drittes Kind, Felix. Die Geburt war schwierig, dauerte zu lange und so ganz harmlos war die Sache nicht, aber schliesslich begann der Junge zu atmen und zu schreien.

    In dem Jahr, in dem Maria Felix zur Welt brachte, entbrannte der Zweite Weltkrieg. Lorenz musste einrücken. Maria hatte keine Ahnung, wovon sie und ihre Kinder leben sollten. Am Anfang gab es noch keinen Lohnausgleich und Lorenz› Sold reichte gerade, um seine eigenen Bedürfnisse zu decken.

    Wenn Lorenz zu kurzem Urlaub nach Hause kam, gab es für wenige Stunden Freude über das Wiedersehen und danach Streit um die schwierigen Verhältnisse. Weihnachten kam, den beiden älteren Buben fehlten Schuhe für den Winter, im Sommer und im Herbst gingen sie barfuss. Lorenz brachte den Buben zu Weihnachten Schuhe. Männer mit kleinen Kindern durften für die Weihnachtstage nach Hause gehen. Lorenz hatte das Geld für die Schuhe beim Melchior ausgeliehen und Maria davon nichts erzählt.

    Drei Wochen nach Weihnachten wurde Lorenz überraschend für einen längeren Urlaub entlassen. Er nahm seine Arbeit bei Melchior wieder auf. An Stelle von Bier trank er jetzt Apfelmost. Melchior beobachtete ihn aufmerksam und machte ihm Vorhaltungen, wenn er übertrieb. Es gab Spannungen, hin und wieder beinahe Streit. Lorenz fühlte sich bevormundet, er wurde der Arbeit als Knecht ohnehin überdrüssig.

    Es gab für ihn keine Arbeitszeitbeschränkung. Er verliess das Haus vor fünf Uhr früh, um in Melchiors Stall die Kühe zu melken, während dieser das Futter für den Tag mähte oder im Winter das Heu vom Stock aufbereitete. Danach trafen sie sich in der grossen Küche bei der Babs zu Kaffee und Rösti. Brot gab es nur, wenn die gebratenen Kartoffeln nicht reichten. Beim Essen erhielt der Lorenz die Arbeiten für den Tag zugeteilt. Das waren in der Regel die jahreszeitlich anfallenden Feldarbeiten. Um fünf Uhr abends begannen wieder die Arbeiten im Stall, um halb acht kamen wieder Kaffee mit Rösti auf den Tisch, danach bekam jede Kuh ihr Wasser vom Brunnen in einem grossen Eimer hergeschleppt. Das war jeweils Lorenz’ letzte Arbeit.

    Verschwitzt und nach Kuhdreck stinkend kam er danach nach Hause, die Kinder waren dann schon im Bett. In der kleinen Küche wusch er sich mehr schlecht als recht und zog sich für die Nacht um. Wenigstens hatten sie fliessendes kaltes Wasser, das gab es in einzelnen abgelegenen Häusern noch immer nicht. Warmes Wasser war ohnehin nur durch den holzbefeuerten Herd zu haben. Für Holz war gesorgt, das konnte der Lorenz beim Melch einfach holen, es war Teil des Lohns.

    Aber Letzteres zählte für Lorenz nicht. Er begehrte auf, er wollte mehr Lohn, was Melchior ihm verweigerte und meinte, er überlege ohnehin, ihm zu kündigen. Beinahe ein halbes Jahr hätte er alle Arbeit alleine, mit der Magd oder alten kraftlosen Tagelöhnern machen müssen, während sein Knecht im Militär herumsass und Bier soff.

    Der letzte Satz war zu viel gewesen. Lorenz ging in sichtbarem Zorn und mit starken Worten auf die Kündigung ein. Melchior traute seinen Ohren nicht. Er versuchte erfolglos, den fluchenden Mann zu besänftigen. Er wandte sich ab und sagte nur: «Vergiss die Kühe nicht, sie wollen gemolken sein!» Lorenz nahm sich zurück, ging in den Stall und molk auch an diesem Abend Melchiors Kühe. Er suchte sich eine andere Arbeit. Melchior versuchte nicht, ihn umzustimmen, aber sie konnten sich auf Ostern als Abgang einigen. Lorenz war überzeugt, eine Stelle zu finden. Viele junge Männer waren noch immer in der Armee und die Ausländer, die es vor dem Krieg noch gegeben hatte, waren alle weg.

    Für Maria war Lorenz› Schritt ein schwerer Schlag. Als es gegen Ende Februar sehr kalt wurde und sie sich sicher war, erneut schwanger zu sein, ging Maria zum Gemeindeschreiber, um sich über mögliche Hilfen zu erkundigen. Ja, es würde eine Lösung geben, eine Art Lohnausgleich, aber viel werde das nicht sein, da der Lorenz wenig verdiente und sein Naturallohn, sie wusste anfänglich nicht, was der Schreiber damit meinte, nicht sehr ins Gewicht falle. Andere Möglichkeiten zu helfen sehe er nicht. Sie sei im Dorf nicht die Einzige, die der Hilfe bedürfe, es gäbe viele Familien, die sich einschränken müssten, die Meisten im Dorf hätten auch nichts zu lachen. Sie erwähnte nichts von Lorenz› Kündigung.

    Aber Maria hatte ihren Mann unterschätzt. Er wusste um die kommende Hilfe für Soldatenfamilien. Mit einer Arbeit in der Fabrik würde diese Hilfe bei einem nächsten Aufgebot besser ausfallen, als wenn er bei Melchior arbeitete. Er erklärte Maria mit grimmiger Miene: «Ich werde nicht mehr Knecht, sondern Arbeiter oder gar Angestellter sein!»

    Als Maria der Gemeindeschwester von ihrem Zustand erzählte, zeigte die sich entsetzt. Sie könne sich doch nicht einfach so gehen lassen. Die Schwester war selbstverständlich ledig, ein Fräulein, und hatte keine Ahnung. Lorenz hingegen freute sich auf das Kind, bestimmt ein Mädchen!

    Im März fand Lorenz bei Grosshändler Stöhr, Bier, Most und Limonaden, eine Stelle, vorläufig als Mann für alles, wie ihm sein neuer Patron jovial erklärte. Der Lohn erschien ihm eher spärlich, doch bei grossem Einsatz würde der wie von selbst klettern, meinte sein Arbeitgeber.

    Melchior fand einen wegen einer groben Fussverletzung leicht hinkenden, vom Militär ausgemusterten, aber fleissigen Knecht aus dem Wallis.

    Maria bat Lorenz, sich mit Melchior auszusöhnen, immerhin blieben sie Nachbarn, und wer weiss, vielleicht würde man sich wieder brauchen. Melchior zeigte sogar ein gewisses Verständnis und meinte zu Lorenz, er habe nun eine Hilfe, auf die er zählen könne.

    Als Melchs Magd zu einem familiären Notfall gerufen wurde, machte sie ihm den Vorschlag, Maria Gramper als Aushilfe zu nehmen. Melchior zögerte einen Augenblick und sagte zu. Maria brauchte nicht lange nachzudenken, sie sah für ihre stets hungrigen Kinder nur Vorteile. Lorenz grollte ein paar Tage. Aber schliesslich gab er nach.

    Milch, Brot, Käse, Kartoffeln, Gemüse, ab und zu Geräuchertes aus dem Kamin und Kaffee gab es beim Melch wirklich genug, davon durfte Maria mit nach Hause nehmen.

    Im September 1940 musste Lorenz wieder einrücken. Die deutsche Wehrmacht überrannte Belgien und besetzte beinahe ganz Frankreich. Die Schweiz sah sich unmittelbar gefährdet. Ende Oktober kam Franz zur Welt. Maria fürchtete sich, im

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1