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Die Seeweite: Heil und Unheil im Mittelland
Die Seeweite: Heil und Unheil im Mittelland
Die Seeweite: Heil und Unheil im Mittelland
eBook576 Seiten8 Stunden

Die Seeweite: Heil und Unheil im Mittelland

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Über dieses E-Book

Der Roman spielt im schweizerischen Mittelland, vorwiegend in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts, leuchtet aber auch in seine leid- und gewaltvolle erste Hälfte. Er erzählt von den enormen Umbrüchen einer bisher scheinbar heilen Gesellschaft.

Geschildert werden die Familiengeschichten von 'Nachbarn' – in ihren Strukturen und ihrem beruflichen Wandel wird klar, wie die Neuerungen der Zeit ihren Weg bis in das letzte Dorf in die einzelnen Biografien der Menschen hinein finden.
Liebe und Leid, Eifersucht und Hoffnung; Aus diesem Garn sind viele der Fäden gesponnen, die Leo Buss bei einem Rehaaufenthalt in die Hand gedrückt werden mit dem Auftrag: 'Kümmere dich darum'. Geduldig fädelt Buss einen faden nach dem anderen auf, sortiert, legt, überblickt und staunt. Die gesamte Bandbreite menschlicher Existenz findet in den Einzelschicksalen ihren Niederschlag. Ein grosses Sittengemälde bis in unsere Tage.
SpracheDeutsch
HerausgeberMünster Verlag
Erscheinungsdatum1. Mai 2020
ISBN9783907301012
Die Seeweite: Heil und Unheil im Mittelland

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    Buchvorschau

    Die Seeweite - Albert T. Fischer

    Liberté

    Rolfs Garn

    Ich, Leo Buss, musste mir im Spätherbst 2003 meine verengten Herzkranzarterien durch Bypässe überbrücken lassen. Wenige Tage nach der erfolgreichen Operation konnte ich mich oben, an der Südflanke des Jura, in einem Zimmer mit wunderbarer Fernsicht von diesem doch ziemlich einschneidenden Ereignis erholen. Die Klinik war von vielen Patienten mit den unterschiedlichsten Krankheiten belegt. Viele trafen sich in Gruppen zu zwar nicht angeordneten, aber doch stark empfohlenen Wanderungen, Spielen, Hometrainerstrampel- und Entspannungsübungen. So lernte ich nach und nach einige Patienten kennen, solche, die viel reden wollten und eher schweigsame.

    Im Übrigen konnte ich mich auf mein sehr komfortables Einzelzimmer mit Sonnenterasse zurückziehen. Die tiefliegende Herbstsonne liess die bunten Wälder nochmals Tag für Tag strahlen, während sich die Bäume sachte, kaum wahrnehmbar, aber unaufhaltsam entblätterten. Wer wollte, begegnete sich bei den Mahlzeiten. Wenn ich dazu keine Lust hatte, brachte man mir mein Essen aufs Zimmer.

    Die etwa 30 Patienten der Abteilung, in der ich gepflegt wurde, waren zwar alle krank, aber sie hatten nicht nur sehr unterschiedliche Leiden, sondern auch sehr verschiedene Biographien. Sie kamen aus allen Teilen der Deutschschweiz und erinnerten mich an die Menschen aus meiner Kindheit. Da gab es Bäcker, Schreiner, Versicherungsverkäufer, Forstgehilfen, Fabrikarbeiter und Bürolisten, einen Juristen, eine Wirtin, eine Lehrerin, eine Raumpflegerin, alles in allem aber weit weniger Frauen als Männer, unter ihnen Raucher, Trinker, Fettleibige, Hypertoniker, Choleriker, Rechthaber und so weiter.

    Für alle gab es ein gefaltetes Schild mit Namen und Vornamen und alle stellten das Schild vor ihren Teller – mit Ausnahme von Rolf Schneider. So fragte ich ihn ganz einfach, wie er heisse, und er sagte es mir ohne Umstände. Er erschien mir unter den Männern an unserem Tisch, wenigstens anfänglich, der Wortkargste oder gar Schweigsamste, und gerade deshalb versuchte ich, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Ich folgte ihm in die Cafeteria und setzte mich, höflich bittend, zu ihm an die Bar.

    Mit der Frau hinter der Theke machte er einen kleinen Spass. Sie sei aus dem Kosovo, erklärte er mir und schob «immer fröhlich» nach. Wir blieben beim Thema. Ohne Ausländer – oder speziell ohne Ausländerinnen – könnte man die Klinik schliessen. Sogar der katholische Geistliche sei aus Ungarn, er spreche dieses drollige Hochdeutsch, wie es eben für Ungarn typisch sei. Wenigstens sei es einfach gewesen, ihn abzuwimmeln. Der Chefarzt komme ursprünglich aus Polen, sei aber, wie er, Neuschweizer wie fast alle. Der Abteilungsarzt aus Islamabad hätte es allerdings noch nicht soweit gebracht, der sei noch immer nur ein Pakistani, kicherte Rolf. Zuletzt kamen wir auf die Putzfrauen zu sprechen, diese unzähligen Kleinverdienerinnen, auch sie meist aus dem ehemaligen Jugoslawien. Ich erzählte ihm, wie eine hübsche 18-Jährige in den ersten Tagen meine Schlaftabletten geklaut hatte für ihren ebenfalls aus dem Kosovo stammenden Freund, wie sie der Oberschwester gegenüber, von der sie ertappt wurde, tränenüberströmt zugab. Sie werde es bestimmt nicht wieder tun. Sie kam damit durch. Die Oberschwester war eine italienische Seconda. Er erwarte den Besuch seiner Freundin, erklärte Rolf nach einer Weile. Ich entschuldigte mich und ging auf mein Zimmer.

    Auch Rolf Schneider lebte in einem Einzelzimmer, ein paar Türen von mir entfernt. Anfänglich trafen wir uns, ausser bei den Mahlzeiten, meistens an der Kaffeebar. Später bestellten wir Tee oder Kaffee auf unser Zimmer. Wir luden uns gegenseitig ein. Es war nicht teurer, fanden wir heraus, vor allem aber freuten wir uns, nicht sofort bezahlen zu müssen.

    Es war dieser kleine Humor, zwanzig Rappen zu sparen oder zwischen Schweizern, Neuschweizern, Fastschweizern und Edelschweizern zu unterscheiden, den wir gemeinsam hatten und der es uns vermutlich leicht machte, miteinander noch und noch zu reden, über Gott, die Welt, unsere Welt und uns.

    Rolf litt an seiner zerstörten Lunge und war schon längere Zeit hier. Auch er war, wie ich, Opfer zehntausender gerauchter Zigaretten, nur viel direkter, nicht über den Umweg der Herzkranzgefässe. Seine Lunge, soweit es sie noch gäbe, sei so etwas wie ein Teerfass, hatte er, unsicher lächelnd, gespöttelt. Vor zwei Monaten sei er zum zweiten Mal an der Lunge operiert worden, wo und wie hatte er mir genau erklärt, und doch kann ich das alles nicht wiedergeben ohne Gefahr zu laufen, irgendwelche medizinischen Ungenauigkeiten auszubreiten. Jetzt war er zur Erholung und weiteren Beobachtung hier.

    Zigaretten waren also unser kleinster gemeinsamer Nenner. Wir rauchten keine mehr, aber an sie knüpften sich viele weitere Gespräche an, etwa über die Subventionen für die Tabakbauern, die Tabaksteuern und die Zigarrenfabrikanten der Seeweite. Den Zigaretten verdankten wir, darüber waren wir uns einig, unsere bösen Krankheiten. Wir erzählten uns, wie wir zu Rauchern wurden, ich als 14-jähriger Forstgehilfe, der sich, grossmäulig ein grosses Beil schwingend, schon fast als Mann fühlen wollte, und er, wie hunderttausend andere, in der Rekrutenschule. Er steigerte sich in seinen Konsum durch Beruf und Lebensgewohnheiten schon bald zum eigentlichen Kettenraucher, der ohne Zigarette kaum leben konnte. Erst seine Beziehung zu Erna, seiner früheren Freundin, wirkte gegenläufig, aber da war er schon weit über 40, zudem begann er sich damals nur leicht zu mässigen. Wirklich aufhören konnte er erst nach der letzten grossen Operation, in der man ihm einen Teil seiner Lungenflügel entfernt hatte. Seither lebte er zwar ohne Zigaretten, aber nicht ohne Sauerstoffflasche.

    Wenn ich mit ihm sprach, irritierte m ich der diskret farblose und doch unübersehbare Luftschlauch, der von der Sauerstoffflasche zur Nase führte. Im Lauf der Tage gewöhnte ich mich daran. Irgendwie strahlte Rolf Gelassenheit aus, obwohl ich sie für die Oberfläche einer durchaus unruhigen Seele hielt. Er war gross, etwas blass und schien kräftig, daran hatte ich jedoch so meine Zweifel. Auch da vermutete ich ein Aussehen, das mit seiner wirklichen Verfassung wenig gemeinsam hatte.

    In wenigen Wochen würde er – gegenüber früher etwas reduziert, geschwächt und vermutlich für immer auf medizinische Betreuung angewiesen – zu einem nach wie vor lebenswerten Leben nach Hause gehen können. Kurz vor seiner zweiten Operation sei er zu seiner langjährigen Freundin gezogen.

    Er hatte mir Susanne vorgestellt, als sie ihn besuchte – sie kam beinahe täglich, meistens zum gemeinsamen Frühstück am kleinen Tisch, danach müsse sie in ihren «Schuppen» zur Arbeit fahren. Ich schätzte sie um zehn bis 15 Jahre jünger als er, also um die 50. Sie betreibe im gleichen Dorf eine Konditorei mit Cafeteria – die meinte sie mit «Schuppen».

    Susanne erzählte fröhlich und ungefragt von ihrer Familie, von ihrem Bruder Marcel, der mit seiner einstigen Frau am Bielersee lebe und dort dem Mann ihrer Tochter, einem Weinbauern, im Rebberg helfe. Auch von Aldo, ihrem jüngeren Bruder, der jetzt mit Rolfs ehemaliger Freundin zusammenlebe, berichtete sie. Sie selbst sei ein paar Jahre verheiratet gewesen und im Hinblick auf eine unglaublich einschneidende Erfahrung und Enttäuschung glücklicherweise kinderlos geblieben. Aber sie liebe ihre Nichten und Neffen. Sie fahre ihnen jedes Jahr mindestens einmal nach. Das wären ihre Ferien.

    Bei einem ihrer Besuche gab sie einigermassen humorvoll preis, wie ungeschickt, geradezu naiv oder gar dumm sie sich in jüngeren Jahren Männern gegenüber verhalten habe, bis Rolf in ihr Leben getreten sei. Als ihr einmal mehr, einfach so im Reden, bewusst wurde, Rolf könnte sterben, bekam sie feuchte Augen, ohne wirklich zu weinen. Sie würde es überstehen, dachte ich mir dabei.

    Einer der ersten Besucher, die mir Rolf nach Susanne vorstellte, war Lukas, ein junger Mann, höchstens 30, den ich spontan für einen Marathonläufer hielt, kein Gramm Fett zu viel, mit einigermassen harten Zügen.

    Er war der Sohn von Rolfs früherer Freundin Erna. Sein Vater, ein Tscheche, war vor beinahe 20 Jahren gestorben. Die Mutter hatte den Knaben zusammen mit seiner etwas älteren Schwester Sarah mehr oder weniger alleine aufgezogen. Die beiden Kinder entwickelten auch zu Rolf ein freundschaftliches Verhältnis, Lukas besonders in der Zeit seiner Pubertät. Seine Mutter hatte ihm von Rolfs Krankheit geschrieben, und so war er für diesen Besuch aus Paris hergereist.

    Leider, sagte Rolf, nachdem Lukas gegangen war, war die Freundschaft mit seiner Mutter aus einem unerfreulichen Anlass, den er selbst verschuldet habe, in die Brüche gegangen. Als seine Mutter eine neue Bindung eingegangen war, protestierte der inzwischen beinahe erwachsene Lukas mit Weglaufen. Seine Mutter bat er in einem Brief, ihm nicht nachzuforschen, es gehe ihm gut. Letztes Jahr, nach etwas mehr als fünf Jahren, war Lukas wieder aufgetaucht, unter neuem Namen und mit einem französischen Pass, den er am Ende der regulären Dienstzeit als Legionär bekommen hatte. Lukas gab im Nachhinein zu, damals mit seiner Flucht unangemessen reagiert zu haben, obwohl er fand, die Legion hätte ihm nicht geschadet, im Gegenteil, er hätte zwar den Dienst regulär quittiert, er wolle aber in Frankreich bleiben und dort leben, in Paris mit einer Freundin. Er fühle sich nicht mehr unbedingt als Schweizer, gab er zu bedenken.

    Nur wenige Tage später lernte ich auch Erna und Sarah, Mutter und Schwester von Lukas, kennen und war von beiden beeindruckt. Bei Erna war es die Ausstrahlung einer leicht ergrauten, gescheit und erfahren wirkenden, aber völlig unverbraucht aussehenden Frau mit einer angenehm dunklen und warmen Stimme, und bei ihrer Tochter Sarah die natürliche Sicherheit, mit der die mehr als nur hübsche junge Frau auftrat und sprach, was mein Interesse weckte. Auch für Sarah war Rolf so etwas wie Vaterersatz geworden, wobei sich zwischen ihr und ihm aber nie ein Vertrauensverhältnis wie bei Lukas gebildet habe.

    Rolf erzählte davon unumwunden und gab auch zu, selbst Distanz gesucht zu haben, aus purer Vorsicht, um niemals in den Verdacht zu kommen, dem Mädchen zu nahe gekommen zu sein. Erst viel später konnte ich nachvollziehen, was er damit wirklich meinte.

    Im Lauf der Tage und Wochen erzählte Rolf selbst aus seiner Welt, von Sulzach, vom See, vom Heimberg, von der Seeweite, von Achstadt. Es war der Einstieg in ein Gespräch über seine Workaholic-Vergangenheit als Informatiker. Auch hier in der Klinik verbrachte er Stunden hinter seinem Laptop, im Internet surfend blieb er in Verbindung mit seinem eigenen Unternehmen für Informatik-Systeme und mit einzelnen Kunden. Er war offiziell nicht arbeitsfähig, aber als Inhaber der Firma hatte er keinen Augenblick daran gedacht, seine – wenn auch stark reduzierte – Mitwirkung im Geschäft aufzugeben. Er hänge noch immer drin mit seinem Knowhow, seinen Verbindungen und «last but not least» seinem Geld, und so lange werde er versuchen, keine Verluste aus Nachlässigkeit oder Dummheit hinnehmen zu müssen. Sein Stellvertreter mache zwar mit grossem Einsatz eine gute Arbeit, aber selbst so liessen sich Ungereimtheiten nicht ganz ausschliessen. Dabei sei er einst ein Roter gewesen und fühle sich manchmal noch immer als ein Mann der kleinen Leute. Er habe an Mao und seine Kulturrevolution geglaubt und die Sowjetunion als so etwas wie die Schutzmacht der ausgebeuteten und machtlosen Massen im Westen gesehen. Nur unter der fernen Drohung der Roten Armee, diesem lauernden Drachen im Osten, so glaubte er damals, sei es möglich gewesen, den unersättlichen Kapitalisten ein gutes Stück Wohlfahrt abzutrotzen. Zum eigentlichen Aufruhr habe er sich nie verführen lassen, auch nicht 1968, da hätte er sich mit 30 schon ein wenig zu alt gefühlt. Zwar habe er insgeheim die Heisssporne verstanden, sie gar angefeuert, aber Zeit für Radau habe er sich nie genommen. In Zürich hätten sich junge Leute mit der Polizei richtige Schlachten geliefert. Aus dieser Zeit seien ihm auch einige Kontakte geblieben. Aus einzelnen jener Revolutionäre seien inzwischen ernsthafte Politiker, gar ein Bundesrat, aber auch viele kleine Spiesser geworden, die jeden Abend ihr Geld zählten.

    Andere hätten sich einfach wie er so gut wie möglich eingerichtet und seien dabei gar erfolgreich geworden, wie etwa der Jurist Thomas Richter, sein Berater für schwierige Verträge, oder hätten sich durchgewurstelt oder durchgekämpft wie sein einstiger Genosse Kurt Streit, ein Zeitungsschreiber. In Zürich habe Letzterer Prügel mit Kopfverletzungen bezogen. Danach begann er für die Achstädter Rote Zeitung unermüdlich nach kapitalistischen Sünden zu suchen und kam dabei, als Beispiel unter vielen, den nicht bezahlten Beiträgen für die Pensionskasse der Aasbachschen Spinnereiarbeiter auf die Spur.

    «Er hat damit die Rente meines Vaters gerettet», erklärte Rolf und fuhr fort: «Wenige Jahre später, der rote Kurt, wie wir ihn nannten, hatte es inzwischen zum Stellvertreter seines Chefs gebracht, musste das rote Blatt sein Erscheinen einstellen. Da begann der Eiferer ein Buch über den Faschismus in der Schweiz zu schreiben, welches allerdings nie gedruckt wurde. Seinetwegen habe ich die Festplatte und damit die Tagebücher einer zwar gewendeten, aber vormals strammen Hitler-Anhängerin kopiert. Das war eine unverzeihliche Dummheit mit für mich beinahe traumatischen Folgen. Die ehemalige Deutsche war die Mutter meiner Freundin. Mehr den wirtschaftlichen Zwängen, denen sich ein Familienvater gelegentlich ausgesetzt sieht, als seiner inneren Stimme gehorchend, wurde Kurt danach zum umtriebigen Redaktor eines Landanzeigers, Träger für Inserate mit bescheidenem redaktionellem Umfeld und dem stramm rechtsbürgerlichen Hintergrund der Achstädter Tageszeitung. Kurts Sozialismus existierte nur noch in seinem Reptiliengehirn. Endgültig erfolgreich wurde er, als ein bislang kleines, aber topfittes Regionalblatt den durch überdimensionierte Investitionen überschuldeten Zeitungsverlag kappte und die Redaktionen der Blätter straffte. Die Zeit der Medienkonzentration war angebrochen. Die Zeitung wurde eine Zeitung für alle und Kurt zum unermüdlichen Schreiber für alle. Später soll er in eine PR-Agentur für nichtstaatliche Organisationen gewechselt haben. Vor einem Jahr ist der Mann 55-jährig gestorben, angeblich an einem Krebsleiden.»

    Rolf meinte, manchmal schlage sein Herz noch immer links, vor allem, wenn es um ein wenig mehr Gerechtigkeit gehe. Aber mit den Menschen, die sich lauthals als Sozialisten gebärdeten und in komfortablen Amtsstuben ihre ruhige Kugel schöben, hätte er mehr und mehr Mühe und dies nicht erst, seit der Koloss im Osten zusammengebrochen sei. Kurts früherer Eifer sei ihm manchmal beinahe lästig gewesen.

    Seit über 20 Jahren besitze und führe er sein kleines Unternehmen und wisse daher, wie schwierig es sei, sich im Wettbewerb zu bewähren und erfolgreich durchzusetzen. Dieser meistens enorme und unermüdliche Einsatz verdiene Anerkennung und materielle Vorteile. Andererseits erscheine ihm ein kapitalistisches Haudegen- und Raubrittertum, wie es die Amerikaner vorlebten und der ganzen Welt aufzupfropfen versuchten, noch immer nicht nur dumm, sondern auch sehr gefährlich. Er glaube nicht an das Ende des Kampfes der Unterprivilegierten.

    «Wenn die Besitzenden weiter raffen wie gegenwärtig, wird ‹Die Internationale› früher oder später wieder in Mode kommen», glaubte Rolf zu wissen.

    Einerseits fühlte ich mich von seiner Vergangenheit und von seinem noch immer vorhandenen Ehrgeiz und Fleiss beeindruckt, andererseits – und dies bei weitem nicht zum ersten Mal – aber auch etwas beschämt über meine eigene banale Geschichte und meine etwas abgehobene Untätigkeit oder gar Faulheit in den paar Jahren als Rentner.

    Um meine leichte Verlegenheit zu vertuschen, versuchte ich, mich mit meiner einstigen Arbeitswelt im Bereich von Werbung und Public Relations wichtig zu machen und von meinen eigenen kleinen Ausflügen ins weltweite Netz und seine virtuellen Räume zu erzählen.

    Nur scheinbar beiläufig erwähnte ich meine Versuche, Geschichten aus meiner Vergangenheit und meiner Mitwelt zu schreiben. Es gelang mir sogar, zu einem kleinen Vortrag auszuholen: «Ich glaube an die therapeutische Wirkung des Schreibens, eines absichtslosen Schreibens ohne irgendwelchen literarischen oder künstlerischen Ehrgeiz, nur um so etwas wie Klarheit, Wahrheit, Ordnung, Übersicht in mir selbst zu finden, schmerzliche Bilder auszublenden, gute Tage zurückzuholen, Inventur zu machen, Bilanz zu ziehen und mich dabei nicht um Spannung oder schwierige Zeitsprünge, Gewichtung der Sätze, Rechtschreibung und Interpunktion, nicht um die Ärmlichkeit des Vokabulars, um die Ausgefeiltheit geistreicher Dialoge, die es im Alltag ohnehin kaum gibt, zu kümmern. Nicht einmal die faktische Wahrheit soll dominieren, sondern nur die erfühlte», erklärte ich dazu.

    Für ihn erstaunlich sei, dass ihm mehr und mehr Kunden und andere Leute die ihm durch seine Arbeit begegneten, erzählten, sie versuchten Geschichten, Erlebnisse oder gar Einsichten aus ihrem Leben auf dem PC aufzuschreiben. Vielleicht sei der Computer für viele so etwas wie eine einsame Insel, auf der man sich ausschreien, ganz einfach entspannen oder sich mit sich selbst auseinandersetzen könne, ohne Spuren zu hinterlassen. Vieles würden diese Menschen kaum je einem Papier überlassen und zudem zwinge das Papier zu einer unwillkommenen Disziplin oder Denkarbeit. Der Raum im PC hingegen lade geradezu ein, frisch von der Leber weg zu schreiben. Eine Ordnung lasse sich im Nachhinein errichten oder eben nicht. Zudem lasse sich alles mit einem einfachen Klick löschen, abfallfrei. Im Zweifel war alles nur virtuell und leer, sagte Rolf.

    Gegenwärtig sei ich am Versuch, die Erinnerungen an meine Eltern zu Papier zu bringen, berichtete ich. Am meisten aber beschäftige mich das Scheitern meiner eigenen Ehe. Ich sei in einer intakten katholischen Familie aufgewachsen und hätte alles mitbekommen, was es brauche, um eine harmonische Ehe zu führen. Und doch seien meine Frau und ich daran gescheitert, schon zu einer Zeit, als im Schnitt nur fünf oder sechs von hundert Ehen zerbrachen. Wir hätten uns dabei allerdings wie erwachsene Menschen benommen, alles vernünftig beredet und uns mit Anstand und gegenseitigem Respekt getrennt, liess ich gegenüber Rolf immer wieder durchblicken. Inzwischen werde jede dritte Ehe geschieden und dies ohne die Brüche der sogenannten festen Partnerschaften mitzuzählen.

    «Alles in allem trennt sich jedes zweite Paar: Eins, zwei, eins, zwei … und hinter jedem Bruch steht eine mehr oder weniger traurige Geschichte. Jede Trennung, unabhängig vom Trauschein, ist schmerzhaft, hinterlässt Wunden und im besten Fall verheilte Narben», resümierte ich und fügte an, am meisten hätten die Kinder darunter zu leiden, obwohl von diesen Wunden im Alltag kaum die Rede sei. Davon wären vermutlich auch meine Kinder nicht verschont geblieben, obwohl deren Mutter und ich alles so schonend wie möglich durchgezogen hätten.

    Rolf Schneider, mit dem ich inzwischen längst auf Du und Du stand, zeigte sich erstaunlich offen gegenüber diesem Thema. Er meinte, sein Vorteil sei gewesen, sich nie zu verheiraten und keine eigenen Kinder zu haben.

    Das gemeinsame Leben seiner Eltern war aus seiner Sicht ein Albtraum gewesen. Seine Mutter hätte ein besseres Leben verdient gehabt. Was Norbert – so nannte Rolf seinen Vater beinahe ausnahmslos – ihr, ihm und seinen Schwestern zugemutet habe, sei abscheulich gewesen, und ihn, Rolf, habe durch das ganze Leben als Erwachsener die Angst verfolgt, so zu werden wie Norbert. Dabei hätte er als Kind diesen Mann bewundert, weil er als Aufseher über viele Frauen in der Sulzacher Spinnerei so mächtig gewesen war und Norbert über die Spinnerei und Autos so viel wusste. Rückblickend aber erscheine ihm Norberts Leben, auch als Aufseher in der Spinnerei, noch jetzt als ein Knäuel offener Fragen.

    Rolf fand, in den letzten 50 Jahren hätten in unseren westlichen Gesellschaften Millionen von Menschen ähnliche Schwierigkeiten durchgestanden, oft nur in Angst und Schrecken überlebt und notgedrungen neue Wege des Zusammenlebens finden müssen.

    Die Ehe seiner Schwester habe in einer Tragödie geendet. Nach 20 gemeinsamen, aber kinderlosen Ehejahren habe sich der Mann seiner Schwester erschossen, weil sie von einem anderen Mann ein Kind erwartete.

    Auf Umwegen zwar, und doch durch dieses Thema, kamen wir zur Rolle der Frau in unserer Zeit. Seit 10 Jahren streben die Frauen beinahe unorganisiert und führungslos, aber unermüdlich zur Macht. Keine Bewegung des Jahrhunderts war und ist in Wirklichkeit stärker und gleichzeitig gewaltloser als diese. Sie hat ihre Ziele längst nicht erreicht, das trifft auch zu. Wir streiften Pionierinnen wie Simone de Beauvoir oder Simone Weill, spöttelten über Alice Schwarzer und machten uns Gedanken zum Einfluss des die Frauen diskriminierenden, ja geradezu unterdrückenden Islam. Vielleicht war es nicht der Glaube, der das wollte, aber die faktische Wirklichkeit.

    Und doch waren es nur wenige Jahrzehnte her, seit in unserer Welt die Väter ihre Töchter, die sich «auffällig» benahmen, züchtigten, sie so ihrer Würde beraubten, sie in Heime versenkten oder die gebrochenen in der eigenen Küche «versteckten». Bis vor kurzem noch hatten unsere Männer das Recht, ihren Frauen die Schlüsselgewalt zu entziehen, sie zur Arbeit zu schicken oder solche zu verbieten und konnten sie ungestraft verprügeln …

    Der Machtzuwachs der Frauen in unseren Gesellschaften war Rolfs Ansicht nach die Ursache des labil gewordenen intimen Zusammenlebens zwischen dem in seinen alten Traditionen verharrenden Mann und der zu neuen Verhaltensweisen, aber mit den Auswirkungen noch wenig vertrauten Frau. Aus diesen völlig verunsicherten Beziehungen würde die grösste Umwälzung in unserer Welt erwachsen und ihre vermutlich tiefschürfenden Folgen seien, nicht zuletzt auf Grund der diesen Veränderungen wehrlos ausgesetzten Kinder, noch über viele Generationen hinweg nicht ausgestanden.

    «Einerseits habe ich nie verstanden», erzählte Rolf, «warum ich mich erst nach dem Tod meines Vaters in eine Frau – in Erna – verlieben konnte, und ich habe sie, als es geschah, nicht nur begehrt, da war viel mehr, sie war damals für mich so wichtig wie Susanne heute. Ich denke, es war Liebe, mindestens kannte und kenne ich kein Gefühl, auf das dieses Wort besser passt und doch habe ich andererseits diese Beziehung durch meine eigene Unbeherrschtheit oder gar Dummheit zerstört. Das Phänomen hat mich durch Jahre beschäftigt. Interessant dabei ist: Ich kenne die Familien der beiden Frauen seit meiner Kindheit. Alle sind – wie meine Schwester – mit ihren Ehen gescheitert, da und dort – wie ich – auch in den offenen Beziehungen, und ich habe keine Ahnung, warum.»

    Rolf schwieg für einen Moment, ehe er fortfuhr: «Daneben kenne ich doch Dutzende verheirateter Paare, die durch schwierige Jahre alle Klippen und Hürden überstanden haben, und es gibt diese wirklich oder scheinbar Erfolgreichen in allen Milieus.»

    Mit solchen nicht immer tröstlichen Sätzen begegnete Rolf meiner Ratlosigkeit.

    Bei aller Trauer um mein eigenes wirkliches oder vermeintliches Versagen waren mir tragische Entwicklungen erspart geblieben. Andere Menschen waren durch viel schwierigere Zeiten gegangen. Vielleicht konnte mir die Auseinandersetzung mit dem Scheitern jener Paare mehr Einsichten vermitteln als das Wühlen im eigenen kleinen Sumpf. Etwas überrascht war ich, dass Rolf darauf einging.

    Er habe seinerseits versucht, durch Schreiben Klarheit zu gewinnen. Es sei ihm immer leicht gefallen, Ereignisse und Einsichten festzuhalten, zu jedweder Erinnerung einen Anfang zu finden und diesen aufzuschreiben. Nie aber seien daraus mehr als abgerissene Spindeln mit unbrauchbarem Garn entstanden. Er habe es nicht einmal geschafft, sie zu einem einigermassen sinnreichen Ganzen zu verknüpfen und meinte etwas resigniert: «Vielleicht würdest du es schaffen.»

    Mehr und mehr wäre er zur Überzeugung gekommen, das Leben sei eben nie und für niemanden eine Geschichte, sondern ein grosser Spindelhaufen mit langfädigem Garn, und jede ordentliche oder aufgeräumt erscheinende, verständliche Geschichte sei nie auch nur annähernd die Wahrheit, sondern bloss eine Sicht, die oft das Wichtigste übersehe. Keine Biographie oder Autobiographie einer noch so bekannten Grösse sei ein echtes Abbild ihres Lebens, sondern bestenfalls eine mehr oder weniger glaubwürdige Annäherung an Sein und Wesen eines Menschen – und schlimmstenfalls der Versuch, alles Negative zu vertuschen. Dazwischen gäbe es jede Mischung, jede Spielart. Auch die Summe aller Geschichten gebe unmöglich das Leben wieder, diese blieben mehr oder weniger bemerkenswerte Fragmente der Vergangenheit, Splitter eben. Wer wisse schon etwas von den bösen Hirngespinsten berühmter Gutmenschen, aber offensichtlich kenne jeder deren rührselige Verlautbarungen.

    Selbstverständlich verbrachten wir nicht die ganze Zeit mit den Geschichten, Verdiensten und Versäumnissen aus unserem Leben. Als in jenen Tagen in Istanbul die Bomben hochgingen, sprachen wir über Palästina und den Krieg im Irak, diese Katastrophe, die die Regierung unter dem sektiererisch frömmelnden Präsidenten Bush vom Zaun gerissen hatte und die uns zuhauf Stoff bot, über die Sorgen der Gegenwart zu reden, etwa über Gewalt im Alltag, nicht nur im weit entfernten Bagdad, sondern auch hier, in den Familien, unter den Halbwüchsigen, überall.

    Wie sollen Menschen Krieg, wirklichen Krieg, ablehnen, wenn sie es gewohnt sind, bei Chips und Bier Gewalt in heroisch verbrämten Filmen als Unterhaltung zu konsumieren, wobei sich die kriegswütigen Szenen von den realen kaum unterscheiden lassen? Wir waren uns einig: Amerika hatte für einen grossen Teil der Menschheit die Hoffnung auf eine gerechtere und freiere Erde zerstört.

    Wir orteten Mängel in unserem Land, meckerten mit unterschiedlichen Ansichten über die Politik und ihre Träger, sprachen über gelesene Bücher und gesehene Filme, lästerten über die Fernsehprogramme und was uns ganz allgemein im Klinikalltag begegnete. Mitunter versuchten wir auch in tiefere Schichten vorzustossen.

    Rolf glaubte nicht mehr an Gott. Wie könne dieser in lauter Liebe unser Leben begleiten, wie wir jammervoll oder gar fordernd beteten, während er gleichzeitig Millionen unschuldiger Kinder an Hunger, Krankheit und Elend sterben lasse? Etwa, weil diese kleinen Seelen noch gar nicht beten konnten? Er verstehe, dass Menschen die fromme Mutter Teresa bewunderten und ihr ein Denkmal setzten. Er verstehe aber nicht, warum Menschen für Teresas arme Seele beten sollten. Gott könne doch Teresas gute Taten gar nicht übersehen haben. Warum beteten Menschen für einen verstorbenen Papst, wo er doch ohnehin Gottes Stellvertreter war, ihm also kein göttliches Unrecht geschehen konnte? Verstehen könne er allenfalls, sollte es dieses grässlich kleinkarierte Jüngste Gericht tatsächlich geben, dass Menschen für die armen, verirrten Seelen aus begründeter Angst vor einem Fehlurteil beten wollten. Aber die Frage müsse doch erlaubt sein: «Kann Gott ein Fehlurteil fällen, ein Blatt in einem umfangreichen Aktenbündel übersehen? Doch wohl kaum, doch nicht Gott!»

    Er könne nicht glauben, was er nicht verstehe, und er habe keine Angst vor dem Tod, nur vor dem Sterben, vielleicht sei es schmerzhaft, zu erlöschen. Doch vor dem Nicht-mehr-Sein fürchte er sich nicht. Seele und ewiges Leben seien Illusionen und Erfindungen überheblicher Menschen, die nicht bereit seien, alles aufzugeben, loszulassen und in aller Bescheidenheit einfach zu gehen, auch durch die eigene Entscheidung, den eigenen Vollzug.

    Alle müssten wir sterben. Sieben Milliarden Menschen lebten auf der Erde, diese sieben Milliarden würden sterben, alle kommenden Milliarden dazu – und ungezählte Milliarden seien schon gestorben. «Natürlich ist es für jeden von uns das Ende der Welt, aber eben einer kleinen Welt – und wofür diese Welten stehen? Keine Ahnung! Ich weiss auch nicht, warum tödliche Unfälle oder Verbrechen mehr Aufmerksamkeit gewinnen als der schleichende gemeine Tod Kranker oder still Eingeschlafener. Da sterben landauf und landab pro Tag zwei Leute im Auto und zweihundert im Bett, sozusagen ein tägliches Massensterben, doch niemand fordert für sie die Schlagzeile des Tages oder landesweite Trauer.»

    Zudem, die Sinnfrage mache eben keinen Sinn, unsere Welt sei nur eine Welt von vielen und das Grosse fände sich im Allerkleinsten und umgekehrt. Vielleicht seien die Milchstrassen und Spiralnebel nichts anderes als Moleküle einer der anderen Welten, und der Urknall nur ein leiser Bang, ein kleines Phänomen im Sandkasten der Unendlichkeit gewesen. Er habe dieses und vieles mehr auch dem katholisch-ungarischen Spitalbruder erzählt und ihm vorgeschlagen, Feuerbach und Deschner zu lesen. Letzterer behaupte, nur die Ohnmacht des heutigen Klerus schütze dessen Gegner davor, verbrannt zu werden. Danach hätte der Geistliche ihn nicht mehr besucht, wozu auch.

    Ich hatte Rolfs letztem Bekenntnis nichts beizufügen.

    Susanne würde ihn am Freitagabend abholen. Im Augenblick bestehe für ihn kein Anlass, in der Klinik zu bleiben, sofern er sich zu Hause an die vorgegebenen Regeln und Medikamente halte. Er freue sich auf die Zeit zu Hause und auf die kommenden Jahre mit seiner Freundin. Am Nachmittag, als er sein Zimmer geräumt hatte, besuchte er mich.

    Wir bestellten nochmals Kaffee und er übergab mir eine Anzahl CDs. Sie enthielten vieles, was er in den vergangenen Jahren zusammengeschrieben hatte. Er bat mich, mit den Inhalten diskret umzugehen. Es würde ihn freuen, wenn ich ihm bei Gelegenheit einen Kommentar oder eine Idee für die weitere Verwendung seiner Texte und Notizen machen könnte. Ich versprach ihm, dies gerne zu tun und bat um genügend Zeit. Er machte keine Einschränkung. «Vielleicht kannst du daraus einen Roman machen», lächelte er, und ich fühlte mich ausgelacht.

    Dann kam Susanne. Wir nahmen Abschied wie Freunde, die sich morgen wiedersehen wollen.

    Mich selbst wollte Valerie erst am Montag abholen. Sie hatte vor, das Wochenende mit Freunden in den Bergen zu verbringen. So blieb ich die beiden letzten Tage allein und ohne Besucher.

    Am Samstag schob ich die eine oder andere von Rolfs CDs in meinen Laptop, las einzelne der unzusammenhängenden Texte und kopierte sie auf meine Festplatte. Auf Anhieb fand ich alles etwas wirr, ein zum Teil bizarres Durcheinander mit enormen Handlungs-, Orts- und Zeitsprüngen. Inhaltlich gab es da nicht nur Bemerkungen zu Rolfs eigener Familie, sondern auch zu seiner gescheiterten Freundschaft mit Erna und deren neuem Freund Aldo, dem jüngeren Bruder von Susanne, ja der ganzen, offenbar ausufernden Familie Amrein: eine Fülle von Ansätzen, auch zu Eifersucht und Wut …

    Neben unzähligen Notizen, Kurzaufsätzen und Kommentaren las ich unzusammenhängende Aufzeichnungen zu Ilse Pfister, der offenbar umstrittenen Mutter seiner einstigen Freundin Erna. Das Ganze erschien mir als undurchdringliches Dickicht, das zu entwirren mich zu viel Aufwand kosten würde. Die Scheiben wollte ich Rolf irgendwann einmal zurückschicken oder zurückbringen und ihn ermuntern, einfach daran zu arbeiten, bis sich ein Konzept aufdränge oder aus der Sache ergebe, nahm ich mir vor.

    In der Nacht zum Sonntag hatte es stark geschneit. Am Morgen zogen leichte, von einer Flut von Sonnenstrahlen durchschienene Nebelschwaden über die Juralandschaft. Die wunderbare Stimmung lockte mich in den weiss verschneiten Wald. An Wochenenden gab es keine Therapien, keine Untersuchungen, keinen Arztbesuch, keine begleiteten Wanderungen. Ich war somit zeitlich nur an die Mahlzeiten gebunden. Zum ersten Mal seit meiner Operation wagte ich es, die Klinik allein zu verlassen und durch die Gegend zu streifen. Ich stapfte im bisher unberührten Schnee durch eine märchenhafte, fantastisch sonnendurchstrahlte Welt, vorbei an weiss und silbern glitzernden Spitzen verschneiter Tannen, bergwärts zur nächsten Jurahöhe. Ich spürte zwar meinen Puls, aber da war keine Enge, mein ganzer Körper erwärmte sich angenehm und ich fühlte mich geheilt, gesund und stark. Eine tief aus dem Inneren heraufströmende Dankbarkeit machte mich weinen, und ich liess es ohne jegliche Scham zu. Auf der Höhe angekommen schaute ich ins weite Land, über die Stadt, die Wälder, die beinahe ineinander fliessenden Dörfer und hinüber auf den in der Sonne glitzernden See.

    Schön strahlte das weite offene Land, das ich mit Rolf, seiner Geschichte, seinen Geschichten und seiner Welt teilte. Schön, noch immer zu leben, zu hoffen, zu lieben. In vier Wochen war Weihnachten und danach begann ein neues Jahr. Später würde ich nochmals versuchen, Rolfs etwas roh gesponnenes Garn besser zu verstehen.

    Zu Weihnachten schickte ich ihm eine Karte und erhielt als Antwort etwa zehn Tage nach Neujahr eine E-Mail mit angefügten Dateien. Rolf schrieb:

    Lieber Bypass-Schreiber

    (Entschuldige die Anrede, aber sie erscheint mir passend.)

    Herzlichen Dank für deine guten Wünsche.

    Susanne und ich haben die Weihnachtstage still und allein verbracht. Hingegen hat sie am Sonntag danach ihre Cafeteria nicht geöffnet, eventuelle Gäste mit dem Schild «Wegen familiärem Anlass geschlossen» vertrieben und ihre ganze Sippe zu einem Brunch eingeladen. Sie wolle meine Rückkehr feiern, hat sie gesagt.

    Alle Geladenen, mit den Kindern zusammen mehr als 20 Leute, sind gekommen.

    Nun, der Tag war zwar ermüdend, aber auch beglückend und ich habe Susanne dafür gedankt. Ich glaube, auch für sie war er wichtig, ein bescheidener Anlass, um unser gemeinsames Leben zu festigen, ohne grosse Worte, ohne Versprechungen. Wir haben darüber nicht gesprochen. Zu gross sind alle meine Vorbehalte gegen feste Bindungen, obwohl sie mir vielleicht durchs ganze Leben fehlten. Durch Susanne habe ich in diesen Tagen zum ersten Mal Liebe, Familie und Heimat erlebt.

    Am zweiten Januar haben meine Schwester Rös und ihre Freundin Yvonne Gretler bei mir hereingeschaut. Sie hatten zusammen Yvonnes Mutter im Pflegeheim besucht. Was die beiden Frauen von der alten Martha, über sie und aus ihrem Leben erzählten, war so überraschend und aufregend, dass ich am Tag danach, etwas beruhigt, begann, ihre Geschichten aufzuschreiben. Du findest sie unter den übrigen Dateien.

    Mein lieber Freund,

    Seit Neujahr geht es mir nicht sehr gut.

    Die Schmerzen sind wieder da, und ich nehme dagegen starke Mittel, lebe danach während Stunden in einer Art Dämmerzustand. Ohne Sauerstoff würde ich vermutlich sehr schnell ersticken.

    Ich will und werde sterben und fühle mich deswegen nicht besonders unglücklich. Ich würde für Susanne zunehmend eine unzumutbare Belastung oder eben ein Fall fürs Pflegeheim, und in kurzer Zeit wäre ich ein armer Mann.

    Schliesslich sende ich Dir im Anhang neben den neuen Geschichten nochmals eine Anzahl älterer Dateien.

    Bitte schicke, was ich Dir hier überlasse und zuvor überlassen habe, nicht zurück. Aus der Einsicht heraus, selbst damit nichts mehr gestalten zu können, habe ich alles gelöscht, auch das, was Erna nicht aufhörte zu suchen: Die Tagebücher ihrer Mutter und das Jammerheft ihres Bruders mit allen mütterlichen Erinnerungen und Kommentaren. Keine Ahnung, warum Erna damals nicht auf die Idee gekommen war, Ilses Festplatte zu durchstöbern. Sie hatte den Computer der Schule geschenkt und ich habe ihn dort installiert, alles nochmals kopiert und dann gelöscht, endgültig gelöscht.

    Ich überlasse dir alles, auch was ich einst für den roten Kurt sammelte und schrieb und ihm glücklicherweise nie zugänglich machte. Zudem vieles, was mir Susanne aus ihrem und dem Leben ihrer Eltern und Brüder erzählte.

    Wie ich dir schon in der Klinik sagte, sind es, mit einzelnen Ausnahmen, wilde Knäuel von schlecht gesponnenem Garn. Ich weiss, du wirst alles mit Sorgfalt und Feingefühl entwirren.

    Wenn es dir gelänge, aus all den rohen Faserbändern ein feines Garn zu spinnen, wäre das mehr als ich erwarten dürfte. Ich werde es selbst mit Bestimmtheit nicht mehr können. Dass du niemandes Würde verletzen wirst, traue ich dir zu. Vielleicht findest du bei der Arbeit Trost für die eigenen Stolpersteine, Empörung und Trauer um die fragile oder gar beschädigte Beziehung zu deinen erwachsenen Kindern.

    Allerdings, Kinder kommen in meinen Erinnerungen zu kurz. Ein bisschen habe ich die Jugend von Sarah und Lukas begleiten können und dabei erlebt, wie fragil junge Seelen sind. Sie tragen immer die Narben ihrer frühen Verletzungen, wie ein Baum, und geben sie ihrerseits weiter. So oder anders. Vielleicht weisst du mehr und du wirst darüber schreiben.

    In diesen Tagen habe ich mich oft an unsere Gespräche erinnert. Sie haben mir gut getan. Es entstand da so etwas wie Freundschaft, ein Gefühl, das ich nur in meiner Jugend erlebt habe. Ich möchte dir dafür danken.

    Zum neuen Jahr wünsche ich dir nochmals alles Gute, auch gute Gesundheit.

    Neidlos.

    Rolf

    Leider habe ich danach weder spontan geantwortet noch ihn besucht. Ich kopierte die neuen, umfangreichen Dateien ungelesen zu den anderen. Ich war voll mit mir selbst und den Erinnerungen an meine Eltern beschäftigt und in ein paar Tagen wollten Valerie und ich im Engadin Freunde besuchen.

    Mitte Januar starb Rolf Schneider. Er sei: «Friedlich eingeschlafen, nach langer, mit grosser Geduld ertragener Krankheit» – Susanne hatte mir Ende des Monats «nach dem stillen Begräbnis im engsten Freundeskreis» die mit dem einfachen Text bedruckte Karte geschickt. Als ich mich hinsetzte, um ihr einen Brief zu schreiben, erinnerte ich mich an Rolfs Dateien auf meiner Festplatte und begann, mich hineinzulesen, anfänglich bloss, um etwas Schönes, Tröstliches oder gar Geistreiches für meinen Brief zu finden. Je mehr ich las, desto mehr begannen mich vor allem seine erst kurz davor geschickten Texte zu interessieren. Da fand sich wirklich mehr als in meiner eigenen kümmerlichen Vergangenheit!

    Ich schrieb Susanne ein paar tröstliche Worte und versprach, sie gelegentlich in ihrer Cafeteria zu besuchen.

    Erst Monate später begann ich Rolfs «Garn aus der Sulzacher Spinnerei» – so nannte er seine Texte – zu ordnen, die Erzählungen um Susanne, Erna, Rös und Waldemar und die Geschichte ihrer Familien und der Seeweite zu entwirren. Nicht alles, was ich fand, passte lückenlos zusammen und so habe ich über Seiten auch mein eigenes Garn hineingesponnen. Jede Ähnlichkeit mit Rolfs Wirklichkeit – so gewollt sie war – ist eine mehr oder weniger glaubwürdige Annäherung und somit zufällig geblieben. Zudem, alle Namen sind ohnehin frei erfunden.

    Die Seeweite

    Im weitesten Sinn beginnt die Seeweite am Südfuss des Jura, und dazu gehört auch Achstadt, die Kleinstadt mit ihrem bemerkenswerten historischen Kern, einem erstaunlich vielfältigen kulturellen Angebot, mit Schulen bis zur mittleren Reife, einer Fachhochschule für Ingenieure, einem florierenden Gewerbe und einer zwar nicht besonders grossen, aber doch vielseitigen und prosperierenden Industrie.

    Von hier aus gegen Osten, Süden und Westen breiten sich viele vormals ländliche Dörfer aus, deren einstige unzählige kleine Bauernhöfe zum grössten Teil verschwunden sind und die jetzt eine anscheinend ungeplante, unübersehbare, nach und nach mit der Ausdehnung ausufernde Ansammlung von mehr oder weniger in Reihen oder losen Haufen gebauten Wohnhäusern, Kaufhäusern, Industrie-, Klein- und Handwerksbetrieben bilden. Viele Dörfer sind in den letzten 50 Jahren mehr und mehr zusammengewachsen und kaum noch auseinander zu halten. Aus ihnen sind stadtähnliche Gebilde geworden. Nur einzelne markante Bauten, Kirchen und Plätze deuten bisweilen auf die einstigen Dorfkerne hin.

    Hügelzüge mit Wäldern und Wiesen trennen noch immer die sanften Täler und damit auch die gewachsenen Siedlungen, denen in der Weite zwei geradezu liebliche Seen so etwas wie eine fliessende Grenze setzen.

    Als eine Art Parklandschaft oder Erholungsraum mit Spiegeln – so könnte die Idylle sehen, wer von Sulzach her, dem letzten grösseren Dorf vor dem Sulzachsee, über den Heimberg wandert und die unbestritten reizvolle Weite geniesst. Dieser Weite schliesslich verdankt die Gegend ihren Namen. Je nach Wetterlage bildet, bei guter Sicht, weit hinter den Seen die Alpenkette eine imposante, hin und wieder gar dramatische, jedenfalls von Einwohnern und Besuchern gleichermassen bewunderte Kulisse. Vielleicht haben einst diese lieblichen Spiegel Melchior Müller, den Gründer des «Seespiegel», zum Namen für sein Lokalblatt angeregt. Doch Weitsicht hat sein «Seespiegel» aus der Seeweite kaum gewonnen.

    Die Zahl der Einwohner hat sich in den letzten 100 Jahren vor allem durch Zuwanderer unterschiedlichster Herkunft vervielfacht. Die früher sozusagen selbstverständliche, einer ungeschriebenen Hackordnung folgende dörfliche Kontrolle über jeden Einzelnen ist den kleinen wirklichen und vermeintlichen Machthabern entglitten. Wie die einzelnen Orte, so sind auch viele Menschen vor allem in den letzten 50 Jahren, zu einer neuen Zeit aufgebrochen. Ihre Berufe, Ansichten, Bräuche und Wünsche haben sich verändert. Andere versuchen zu verharren, misstrauen jeder Öffnung der Zäune und der Überbrückung alter Gräben. Sie sehen in allem Aufweichung, Verflachung oder gar Preisgabe bewährter Werte. Ältere Bewohner sind zur Anpassung vielleicht gar nicht mehr in der Lage. Wenn sie nach Achstadt fahren, fahren sie in die Stadt, und viele verachten das noch weiter entfernte Zürich als Grossstadt, hinter der alles andere bereits Ausland ist.

    Für allzu viele endet mit der Seeweite auch ihr Horizont. Früher brach die Seeweite bereits beim unsichtbaren Zaun zur katholischen Nachbarschaft ab. Und jenseits des Zauns waren die Leute um kein Haar besser. In den Reformierten und Protestanten mit all ihren unzähligen Sekten sahen sie des Himmels unwürdige Verführte, Abtrünnige oder gar Ketzer. Gewiss, man wollte nach dem verlorenen Sonderbundkrieg schon zusammen Schweizer sein, zum gemeinsamen Wohl, und die Arbeit in den Fabriken und Werkstätten der unermüdlich fleissigen Calvinisten und Zwinglianer verachtete auch niemand, aber im Herrschaftsbereich ihrer Kirchen wollten die schwarzen Pfaffen möglichst wenig liberales Unternehmertum dulden, um so das fromme Volk vor der Sünde aufklärerischer Freiheit und Selbstbestimmung zu schützen. So blieb die Landschaft südlich der Sulzachsee noch weitere 100 Jahre geprägt von lieblichen Bauerndörfern mit blühenden Obstbäumen und päpstlicher Kirchturmpolitik.

    Erstaunlicherweise liegt der Kern von Sulzach nicht direkt an seinem lieblichen See, sondern leicht darüber. Vor 100 Jahren befand sich das verschlafene Dorf ohnehin im Abseits. Der See war weder als Wasserstrasse noch sonst von wirtschaftlicher Bedeutung. Sich an seinem Ufer auszuziehen, um stundenlang in der Sonne zu liegen oder gar in seinem Wasser zu schwimmen wäre niemandem eingefallen. Man hatte anderes zu tun. Selbst die Kinder wurden neben Schulstunden und Kirchgang oft zur stundenlangen Heimarbeit angehalten.

    Auch für die Anmut der Gegend hatten nur wenige ein Auge oder gar Zeit. So bildete sich das Dorf entlang der einzigen, von Norden nach Süden führenden, im Sommer staubigen und im Winter meist matschigen oder gefrorenen Strasse. Erst die der Strasse entlang gebaute Eisenbahn brachte eine für den Aufschwung der Gegend wichtige Verbindung mit den anderen Dörfern, der Stadt, dem ganzen Land und damit der modernen Zeit. Für die Eisenbahn wurde Sulzach zur Endstation. Das katholische Schwarzfeld, das nächste Dorf im Süden, musste noch lange Jahre auf einen Anschluss an die weite Welt warten und blieb eben auch für weitere Jahrzehnte ein unberührtes Bauerndörfchen.

    In Sulzach hingegen wurden binnen kurzer Zeit aus kleinen Gewerbebetrieben grössere Unternehmen. Zwar gab es schon lange eine ansehnliche Mühle, eine Sägerei und die Spinnerei unten am See, weil man dort das Wasser vom Sulzbach nutzen konnte, aber nach der Jahrhundertwende kamen, auch dank der neuen elektrischen Energie, beinahe Jahr für Jahr neue Betriebe dazu.

    Neu wurden Aluminium und Buntmetalle geschmolzen, gegossen, getrieben, gewalzt und gezogen. In einem anderen Betrieb entstanden Drehbänke und Werkzeugmaschinen, die sich im ganzen Land einen guten Ruf erwarben. Neben der wachsenden Spinnerei versuchten junge Unternehmer mit Strickwaren reich zu werden. Viele kleine und einzelne grössere neue Betriebe stellten Zigarren und die im Alltag beliebten Stumpen her. Letztere lieferten ihre Abfälle und Säfte zur weiteren Verarbeitung einem Betrieb, der sich auf die Herstellung chemischer Produkte spezialisierte. Eine Mosterei versuchte über die Region hinaus Kunden im ganzen Land zu gewinnen. Sie erinnerte vielleicht am stärksten an die ländliche Vergangenheit des Dorfes. Zur Mosterei brachten die Bauern der weiteren Umgebung die Tonnen von Fallobst, aus dem der Sulzacher Apfelsaft gepresst, als Süssmost konserviert oder in Fässern zu Apfelwein vergoren wurde. Und alle diese Betriebe stellten neue Leute ein.

    Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begannen die aufkommenden Autos die Dörfer auf ihrer Durchfahrt mit Gestank und riesigen Staubwolken zu belasten, und bei schlechtem Wetter bewarfen sie die Leute am Strassenrand mit Dreck. In den folgenden Jahren wurde die Strasse nach Achsttadt – unter anderem mit tatkräftiger Hilfe italienischer Arbeiter – ausgebaut und ein Jahrzehnt später asphaltiert. Mit der Verbreiterung der Strassen entstanden die ersten Trottoirs für die Fussgänger. Trotzdem verfluchten viele Dörfler, vor allem die Bauern, den aufkommenden Verkehr, vor dem ihre Pferde scheuten oder gar durchbrannten und waren kaum bereit, den neuen Komfort zu würdigen oder gar die Schwerarbeit der Tschinggen (so nannten sie die Italiener) wirklich wahrzunehmen.

    Inzwischen wurde aus der langsam durch die Gegend ratternden elektrischen Kleinbahn, auf die Jugendliche – sie machten sich daraus einen Sport – anfänglich auch während der Fahrt aufspringen konnten, nach und nach eine schnelle Regionalbahn, die im Halbstundentakt alle Dörfer bediente.

    Allerdings blieb das Dorfbild von Sulzach bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der Landwirtschaft und den vielseitigen Gewerbebetrieben und Krämerläden geprägt. Fünf Schmiede verpassten den Pferden der Bauern und Fuhrleute die neuen Hufeisen. Zwei Wagner hatten genug zu tun, neue Leiterwagen zu bauen und andere zu flicken oder hin und wieder gar eine vornehme neue Kutsche aus der Werkstatt zu fahren. Zur Sägerei am See gehörte auch eine Zimmerei, die sich vor allem auf den Bau von Chalets spezialisiert hatte. Vier Schreinereien im oberen Dorfteil stellten auf Bestellung allerlei Möbel her, waren aber doch eher für Arbeiten im Wohnungsbau eingerichtet; sie lieferten und montierten individuell und nach Mass Türen, Fenster, Jalousien, Holzdecken und anderes. Schon seit Ende der 20er Jahre stritten sich zwei Elektrogeschäfte mit allen möglichen, mehr oder weniger fairen Mitteln um Aufträge. Vor allem der Anlagenbau für die Fabriken mit all den vielen Lampen und Motoren warf Auftragsbrocken mit guten Margen ab.

    Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Nachfrage nach Haushaltmaschinen massiv an. Jedermann kaufte Staubsauger, Kühlschränke und Waschautomaten im so genannten Fachgeschäft. Das Handwerk bekam wirklich einen goldenen Krämerboden.

    Trotz der Fabriken und Gewerbebetriebe

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