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HIRNGESPINSTE: Thriller
HIRNGESPINSTE: Thriller
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eBook328 Seiten4 Stunden

HIRNGESPINSTE: Thriller

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Über dieses E-Book

Manfred Schuster ist ein friedfertiger Mensch. Ob bei Kollegen, Freunden und Familie oder bei fremden Leuten, er versucht meistens Konfrontationen zu vermeiden und Ärger aus dem Weg zu gehen, auch wenn er dabei die Fäuste in den Taschen ballt. Erst als er nach einem Treppensturz ins Koma fällt und verbittert im Rollstuhl landet, ändert sich alles. Manfred Schuster findet heraus, dass er in seinen Träumen die eigene Vergangenheit aufsuchen und sein jüngeres Ich dazu benutzen kann, um mit ehemaligen Widersachern gnadenlos abzurechnen. So kommt es zwischen den Sechzigerjahren und der Jetztzeit zu rätselhaften, für die Polizei unerklärlichen, Todesfällen. Der einzige Mensch, der eine winzige Chance hat, den Amoklauf zu stoppen, den Schuster in seinem Kopf steuert, ist zugleich die Frau, die ihn liebt. Es beginnt ein dramatischer Wettlauf gegen die Zeit.
HIRNGESPINSTE spannt den Bogen von den 1960er Jahren bis in die Gegenwart und bringt trotz aller
Spannung einen Hauch von Musik und Lebensgefühl der Vergangenheit zurück. Neben Momenten der Hochspannung ist HIRNGESPINSTE auch ein facettenreicher Gesellschaftsroman.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum6. Okt. 2022
ISBN9783347748033
HIRNGESPINSTE: Thriller
Autor

Ruben Schwarz

Ruben Schwarz wurde 1955 im Herzen des Ruhrpotts geboren und ist seiner Heimatstadt Essen sechzig Jahre lang treu geblieben. Heute lebt der ehemalige Medienkaufmann im Bergischen Land. Inspiriert durch Werke großer schreibender Vorbilder fühlte er sich irgendwann bereit dazu, selbst seine Geschichten aufzuschreiben. Von ihm wurden mittlerweile eine ganze Reihe Thriller und einige Science-Fiction-Romane veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    HIRNGESPINSTE - Ruben Schwarz

    1

    August 2016

    Um festzustellen, dass es kurz vor 14:00 Uhr war, musste man nicht auf die Uhr sehen. Das helle Klappern auf dem Flur und das geräuschvolle Öffnen und Schließen der benachbarten Zellentüren waren eindeutige Indizien dafür, dass die Essensgeschirre eingesammelt wurden.

    Evelyn faltete langsam und sorgfältig den Brief zusammen, den die Pfarrerin der Jakobus-Gemeinde in Magdeburg-Fermersleben ihr geschickt hatte.

    Wenn es tatsächlich einen lieben Gott gab, so dachte sie, und man ihm keinen Sadismus unterstellen wollte, dann hatte er zumindest eine merkwürdige Art von Humor. Ein anderer Beweggrund fiel Evelyn nicht ein, warum er die Menschen am Anfang des Lebens mit Vitalität und Optimismus ausstattete, ihnen zeigte, wie schön das Leben sein konnte, um sie am Ende mit Demenz, Arthritis, Inkontinenz und anderen Liebhabereien zu demütigen. Ihr Vater Arthur Brandes war immerhin fünfundachtzig Jahre alt geworden, hatte aber die letzten zwei Jahre in seinem Pflegeheim in völliger geistiger Umnachtung zugebracht.

    Man hatte ihr angeboten, an der Beisetzung teilzunehmen, sie hatte aber dankend darauf verzichtet, ihrem Vater an dessen Grab Seite an Seite mit zwei Polizeibeamten die letzte Ehre zu erweisen. Diese Show hatte sie der Verwandtschaft und ihren früheren Nachbarn nicht gegönnt. Außerdem hatte es in den vergangenen Jahren ohnehin keinen Kontakt zwischen Vater und Tochter gegeben.

    Bei Arthur Brandes hatte es sich nicht um einen wirklich lieben Menschen gehandelt. In der Blüte seiner Jahre war er ein Quartalssäufer gewesen. Während seiner Phasen, wie Evelyns Mutter es oft verharmlosend auszudrücken pflegte, hatte er Frau und Kinder verdroschen und war auch nicht davor zurückgeschreckt, mit allen möglichen Gegenständen nach ihnen zu werfen, die er gerade zur Hand hatte. Wundersamerweise war Evelyn im Gegensatz zu ihren beiden Schwestern und der Mutti von diesen Attacken immer verschont geblieben. Nach einem Entzug Mitte der Siebziger, da hatte Evelyn schon nicht mehr zu Hause gewohnt, hatte er nie mehr einen Tropfen angerührt. Trotzdem waren auch danach Jähzorn und permanente Unzufriedenheit mit Allem und Jedem seine herausragendsten Eigenschaften geblieben.

    Es klopfte zweimal kurz an der Zellentür, bevor aufgeschlossen wurde. Frau Diepholz war eine nette Vollzugsbeamtin. Sie war immer freundlich zu Evelyn und – sie klopfte an. Wie man in den Wald hineinruft …

    „Na, Frau Lengsfeld, wie isset? Geht’s wieder besser?"

    Frau Diepholz war eingetreten und nahm das Tablett mit dem Plastikgeschirr entgegen, dass Evelyn von dem kleinen Schreibtisch genommen hatte und ihr reichte. Flora, die kleine Rothaarige mit den unzähligen Tattoos, wartete draußen auf dem Gang. Sie war wie Evelyn Insassin im Frauentrakt der Justizvollzugsanstalt in Essen-Frintrop und assistierte Frau Diepholz beim Einsammeln des Geschirrs.

    „Ja, geht schon wieder, Frau Diepholz, antwortete Evelyn und nickte. „Vielen Dank, fügte sie hinzu, denn Frau Diepholz war wirklich nett.

    „Ach, Sie haben ja wieder nich aufgegessen, klagte Frau Diepholz, „kein Wunder, dat sie schlappmachen.

    „Danke, es war echt lecker, aber ich kann bei der Hitze nicht so viel essen", erklärte Evelyn.

    Es hatte Geflügelgeschnetzeltes mit Reis gegeben, dazu eine Art Brei, der mutmaßlich aus Erbsen und Möhren bestand.

    „Ja, is aber auch echt heiß, stimmte Frau Diepholz zu, „den ganzen Juni un Juli nur Scheißwetter, un jetzt gleich wieder über dreißig Grad. Dat geht auf ’n Kreislauf. Sie warf einen Blick auf den halbvollen Teller. „Na ja, morgen gibbtet Currywurst un Pommes. Dat is hier immer ganz lecker."

    Evelyn hatte heute Morgen vergessen, ihre Blutdrucktabletten einzunehmen, dazu kam die schwüle Hitze. Ihr war schwindlig geworden, und sie hatte sich hinlegen müssen.

    „So sind die Sommer doch hier immer", sagte Evelyn. Fast hätte sie gesagt: Hier bei euch im Westen. „Entweder nass und kalt oder Schwüle und Gewitter. Aber mir geht’s gut", fügte sie hinzu, als sie erneut den besorgten Blick der Beamtin bemerkte.

    „Tja, dat is der Klimawandel, entschied Frau Diepholz, „dat ham die jetzt davon. Demnächst is dat hier wie inne Tropen, warten Se ma ab. Frau Diepholz mochte Anfang vierzig sein, so genau konnte man sie in ihrer hellblauen Berufskleidung - heute trug sie wegen der Hitze nur ein kurzärmeliges Uniformhemd zur Diensthose - nicht einschätzen, und sie behandelte Evelyn, die im Mai zweiundsechzig geworden war, wie eine zerbrechliche alte Dame. Dabei wirkte Evelyn trotz ihrer Falten im Gesicht viel jünger als die meisten Sechziger. „Na gut, ich muss", sagte Frau Diepholz und wies mit dem Kinn zur offenen Zellentür.

    Draußen neben dem vierstöckigen Servierwagen aus Stahlblech lächelte die rothaarige Flora trotz ihres unvollständigen Gebisses ein freundliches Lächeln. Ihr Typ hatte ihr die oberen Schneidezähne auf einem seiner Acid-Trips mit einem schweren Glasaschenbecher ausgeschlagen. Flora, die wirklich extrem dünn war, hatte in der Haft einen Entzug hinter sich gebracht, schien aber noch immer nicht ganz darüber hinweg zu sein.

    „Tschüss dann", sagte Frau Diepholz und ging hinaus.

    „Tschüss", rief Evelyn ihr hinterher.

    Das Zuknallen und Verriegeln der Tür klang wie in einem dieser Gefängnisfilme, die man gelegentlich im Fernsehen sieht. Ansonsten war hier drin das meiste ganz anders, und zwar besser, als sie befürchtet hatte.

    Die JVA Essen-Frintrop lag an der Grenze zwischen Essen und Mülheim in einem ansonsten unbebauten Gebiet, umgeben von einem Grüngürtel. Früher hatte hier mal ein großes Stahlwerk produziert. In den Achtzigerjahren war das komplett von den Chinesen demontiert und in Nanjing neu aufgebaut worden. Die JVA bestand aus fünf langgestreckten, jeweils viergeschossigen Gebäuden, die zusammen einen Halbkreis bildeten und ein großes Areal mit Sportplatz und einer modernen Sporthalle umgaben, die in ihrer annähernd linsenförmigen Architektur und der glänzenden Fassade aus Glas und Aluminium einem gelandeten UFO ähnelte. Das mittlere der fünf Gebäude beherbergte zum großen Teil die Verwaltung, Gemeinschaftseinrichtungen, Küche und Vorratsräume. Nur eines der vier verbleibenden Häuser war weiblichen Strafgefangenen vorbehalten. In der Strafanstalt saßen sechshundertdreißig Männer und zweihundertsiebzehn Frauen ein. Die bösen Buben waren also auch in emanzipierten Zeiten immer noch deutlich in der Überzahl.

    Die Frauenquote ist bei uns immerhin viel besser als in den DAX-Vorständen, hatte die Leiterin der JVA Frau Doktor Wegener am zweiten Tag nach Evelyns Überstellung nach Frintrop in launigem Tonfall zu ihr gesagt. Frau Doktor Wegener war eine stämmige Frau Mitte fünfzig und hatte eine erstaunlich warmherzige Art, mit Leuten umzugehen. Es war das Einführungsgespräch gewesen. Neue Häftlinge bekamen hier immer ein Einführungsgespräch, in dem ihnen die Abläufe in der JVA nähergebracht und der Sinn der Haftstrafe im Allgemeinen noch einmal ausführlich erläutert wurde, die schließlich eine problemlose Wiedereingliederung in die Gesellschaft draußen zum Ziel hatte. Evelyn konnte sich deshalb so gut an das Gespräch erinnern, weil sie bei dem Vergleich zwischen den Insassen der Frintroper JVA und den DAX-Vorständen trotz des ansonsten ernsten Gesprächs hatte schmunzeln müssen. Es war ihr nämlich die Frage in den Sinn gekommen, in welcher der beiden Personengruppen unter dem Strich die kriminelle Energie wohl stärker ausgeprägt sein mochte.

    Evelyn blickte auf den kleinen Reisewecker, der auf ihrem Nachttischchen neben dem schmalen Einzelbett stand. Es war viertel nach zwei. Um drei Uhr sah der Stundenplan sechzig Minuten Hofgang vor.

    Evelyn setzte sich matt auf ihr Bett und blickte in den gegenüberliegenden kleinen Spiegel an der Wand. Die Haut unter ihren müden blauen Augen glänzte vom Schweiß. Die hellblond gefärbten Haare, die sie zu einem Knoten gebunden hatte, zeigten am Scheitel einen grauen Ansatz. Das orangefarbene T-Shirt (man gestattete hier auch einige private Kleidungsstücke) zeigte deutliche Schweißflecke. Dazu trug sie die dunkelblaue Arbeitshose der JVA. Die Hosenbeine hatte sie bis zu den Knien umgeschlagen. Sie blickte auf den zusammengefalteten Brief, der neben der kleinen gerahmten Fotografie auf dem Schreibtisch lag, und eine Welle der Trauer überrollte sie wie die Brandung, die sich schäumend auf den Strand wälzt und auf dem Rückweg ins Meer an einem zerrt. Evelyns Augen wurden feucht, und ein Teil der Trauer mochte durchaus ihrem toten Vater gelten. Der weitaus größere Teil ihres Kummers begleitete sie nun jedoch schon seit fast zehn Monaten und war der Grund dafür, dass ihr Leben aus den Fugen geraten war. Und es war der Grund dafür, dass sie hier gelandet war.

    Manfreds Tod, der Tod der späten Liebe ihres Lebens, der letzten Liebe, dessen war sie sich ziemlich sicher, hatte ihr die Perspektive geraubt. Pläne, die sie noch miteinander geschmiedet hatten, Träume, die sie noch gemeinsam geträumt hatten, waren vom Tisch gewischt worden wie Krümel von einem abgeräumten Frühstückstisch.

    Von dem Foto auf dem Schreibtisch lächelte er sie an, mit geschlossenen Lippen, wie er es meistens getan hatte, die Wangen voller, als er es sich gewünscht hatte, die ehemals blonden Haare ergraut und dünn geworden. Damals war die Welt noch in Ordnung gewesen, damals im Sommer 2014 auf Langeoog, als sie mit den Fahrrädern ein gutes Stück weit nach Osten gefahren waren. Dorthin, wo der ohnehin breite Strand, durch die Ebbe noch fast verdoppelt, schon relativ menschenleer gewesen war. Sie hatten sich am Rand der Dünen in den Sand gelegt und gemeinsam die vorüberziehenden Wolken beobachtet, die vom Wind ins Landesinnere getrieben wurden.

    Evelyn legte sich auf das Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Für einen Moment hörte sie das Rauschen des Meeres.

    Die Zellendecke war weiß. Die Wände waren bis zur halben Höhe mit glänzender Ölfarbe in einem freundlichen Hellgrün gestrichen. Die Farbkombination aus Grün und Weiß war wohl das Konzept derjenigen gewesen, die für die Gestaltung der Vollzugsanstalt verantwortlich gewesen waren. Auch auf den Fluren und in den Treppenhäusern waren Grün und Weiß die vorherrschenden Farben. Aus dem vergitterten Fenster neben dem Kopfende ihres Bettes konnte sie nur hinunter auf den Sportplatz und die gegenüberliegenden Trakte blicken, wenn sie aufrecht davorstand. Trotzdem bekam die Zelle genügend Tageslicht ab. Es wäre schön gewesen, wenn man jetzt bei der schwülwarmen Wetterlage die Tür zum Lüften öffnen könnte. Dagegen sprach jedoch nicht nur die Hausordnung der JVA, sondern auch der gesunde Menschenverstand. Evelyn hatte sich schon immer ganz gut stundenlang allein in einem Raum aufhalten können und war sich dabei selbst genug. Aber zu wissen, dass sie diesen Raum nicht jederzeit verlassen konnte, dass sie sich hinter einer verriegelten Tür befand, bereitete ihr Unbehagen.

    Sie setzte sich auf und strich sich ein paar Haarsträhnen hinter die Ohren, die stets den unwiderstehlichen Drang zu verspüren schienen, sich aus dem Knoten an ihrem Hinterkopf zu lösen. Dann ging sie zu dem Edelstahl-Waschbecken an der gegenüberliegenden Wand und ließ sich kaltes Wasser (was da aus der Leitung kam, war eher irgendetwas zwischen fast kühl und lauwarm) über Unterarme und Hände laufen. Sie legte die nassen Handflächen auf ihr Gesicht und sog die Luft tief durch die Nase ein.

    Evelyn war ungeschminkt. Das hatte nichts damit zu tun, dass sie in Haft war, sondern sie schminkte sich grundsätzlich nie.

    Auf ihrem Schreibtisch lag eine Reihe von Büchern, die sie sich schon vor Tagen aus der Bücherei ausgeliehen hatte. Effi Briest war dabei, von Fontane. Auch Der Schimmelreiter. Beide Bücher kannte sie aus ihrer Jugend und hatte sie mehr als einmal gelesen, aber sie gehörten immer noch zu ihren Lieblingsbüchern, und sie verband damit viele Erinnerungen. Außerdem beschwor es sowohl schöne als auch traurige Momente ihres Lebens herauf, den Namen Effi auf dem Buchdeckel zu lesen. Allerdings hatte sie es bisher nicht geschafft, mit dem Lesen eines der Bücher zu beginnen.

    Nicht, dass sie dafür keine Zeit hätte, bewahre. Sie hatte sich noch nicht einmal für eine Tätigkeit entschieden, von denen in der JVA jede Menge angeboten wurden. Die kleine Flora, zum Beispiel, arbeitete in der Küche. Wahrscheinlich hoffte man, dass sie beim Umgang mit den Lebensmitteln ein bisschen zunehmen würde. Viele Häftlinge bastelten Geschenkartikel, die im Onlineshop der JVA verkauft wurden. Jenny Lumbeck, mit der Evelyn bis vor zwei Wochen vorübergehend wegen Platzmangel eine Gemeinschaftszelle hatte teilen müssen, arbeitete in der Wäscherei. Jenny hatte ihrem Mann seinen Bowlingpokal, auf den er mächtig stolz war, zielgenau ins Gesicht geschmettert und ihm dabei das Nasen- und das linke Jochbein gebrochen. Auf einem Auge hatte er bei der Attacke außerdem siebzig Prozent seiner Sehkraft eingebüßt. Anschließend hatte sie versucht, sein Flittchen übers Balkongeländer zu werfen, was zum Glück von Nachbarn, die durch das Geschrei alarmiert worden waren, im letzten Moment verhindert werden konnte.

    Viele Wege führen nach Alcatraz.

    Das Gefängnis war schon ein merkwürdiges Paralleluniversum. Evelyn erinnerte sich, dass Jenny Lumbeck durch das Zellenfenster über das Sportgelände hinweg eine Beziehung zu einem männlichen Häftling im gegenüberliegenden Trakt aufgenommen hatte. Dabei war auf diese Distanz bestenfalls schemenhaft ein Gesicht im Fenster zu erkennen, vorausgesetzt, der Lichteinfall war günstig. Und dies war durchaus kein Einzelfall. Massenhaft kam es im Knast zu Fernkontakten zwischen männlichen und weiblichen Insassen. Es hatte sich eine regelrechte hausinterne Zeichensprache entwickelt, mit der sich Männlein und Weiblein über die große Distanz miteinander verständigten. Sogar Prügeleien zwischen Frauen hatte es beim Hofgang gegeben, wenn eine es gewagt hatte, dem falschen Fenster zu winken.

    Wenn beide Häftlinge einen Antrag stellten, war es durchaus möglich, dass Pärchen einen unbeaufsichtigten, sogenannten Langzeitbesuch, oder auch Intimbesuch genehmigt bekamen. Dafür musste es sich aber in beiden Fällen um Häftlinge mit sehr guter Führung handeln. Soweit Evelyn gehört hatte, kamen solche Zusammenkünfte häufiger vor, als man annehmen sollte. Der Trieb sucht sich seinen Weg, hatte sie bei sich gedacht und sich die absurde Situation damit erklärt. Am Ende kamen dort schließlich zwei Menschen zusammen, die sich zuvor niemals näher als hundert Meter gekommen waren. Ihr hatte sich der Vergleich von Laborratten aufgedrängt, die, sich einander völlig unbekannt, in einen Glaskäfig gesetzt wurden, um ihr Paarungsverhalten zu beobachten. Die immerhin recht wohnlich eingerichteten Besuchszimmer wurden zwar nicht beobachtet, aber schließlich wusste jeder Außenstehende, ob Vollzugsbeamter oder Häftling, was in den kostbaren Stunden darin geschah. Letzten Monat hatte ein Häftling seine Angebetete in einer solchen Begegnungszelle zusammengeschlagen, weil diese es sich plötzlich doch anders überlegt hatte. Seitdem hatte die Anstaltsleitung die Möglichkeit solcher Zusammenkünfte einstweilen auf Eis gelegt.

    Natürlich hatte Evelyn irgendwo Verständnis für Jenny. Schließlich stand diese mit ihren fünfunddreißig Jahren voll im „Saft". Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie selbst, auch in früheren Jahren, jemals Gefahr gelaufen wäre, so tief zu sinken.

    Manfred, dachte sie spontan. Das Foto blieb stumm, das Lächeln unbeweglich. Sie hatten sich spät gefunden. Für beide war es das zweite Glück gewesen, die zweite Chance, nun ja, was sie selbst betraf, wohl eher die dritte. Beide hatten gemeinsam die Leidenschaft neu entdeckt, die Schmetterlinge im Bauch (riesige Falter zuweilen) neu verspürt. Aber es hatte ihnen auch gereicht, einfach nur beisammen zu liegen, sich anzusehen, sich zu berühren.

    Als der Hofgang fällig war, ging Evelyn nach draußen. Sie hätte auch darauf verzichten können, aber vielleicht wehte draußen ein angenehmes Lüftchen. Und was brachte es, in der Zelle die grün-weißen Wände anzuschauen, das ewige, stille Lächeln mit geschlossenen Lippen, den zusammengefalteten Brief auf liniertem Papier, den Waschtisch und die Kloschüssel aus Edelstahl. Viel zu selten konnte sie Letztere benutzen. Evelyn hatte nie, oder zumindest selten, Probleme mit der Verdauung gehabt, aber seit sie im Knast war, schien der Darm in einen Ruhemodus umgeschaltet zu haben.

    Sie reihte sich ein in den Strom der überwiegend blau gekleideten Frauen, der sich die Treppen hinunter ergoss, hörte das schnatternde, kreischende Stimmengewirr aus unzähligen Frauenkehlen, das an eine Geflügelfarm erinnerte, und trat hinaus in grelles Sonnenlicht auf der Außenseite des Gebäudehalbkreises, von wo aus der Männertrakt nicht zu sehen war. Die Mauer, die das gesamte Areal der Justizvollzugsanstalt umgab, war an die sechs Meter hoch, und darauf befand sich eine glitzernde Walze aus gerolltem Stacheldraht.

    Das war es, was ihr Probleme machte. Das gesamte Gebäude, die Zellen, die Gänge, das Treppenhaus, Gemeinschaftsräume, Sporthalle, auch die Kapelle, alles war freundlich eingerichtet und in warmen Farben gehalten. Jedoch gab es keinen Blick durch irgendein wie auch immer geartetes Fenster, der nicht durch Gitterstäbe zerteilt wurde. Hier wurde die Welt in kleine rechteckige Einheiten unterteilt. Das Leben wurde von hier aus durch ein grobes Raster betrachtet. Die einzige Ausnahme war, wenn man beim Hofgang den Kopf in den Nacken legte und in den freien Himmel hinaufsah. Dann zogen an manchen Tagen die Wolken dahin wie am Strand und über den Dünen von Langeoog. Nicht heute, denn das Thermometer zeigte vierunddreißig Grad Celsius, und der Himmel war nicht ganz blau, sondern milchig weiß, als hätte der liebe Gott (der mit dem merkwürdigen Humor) eine durchsichtige, aber nicht ganz neuwertige Folie über die Welt gespannt.

    In dem einen Monat, den sie bisher hier verbracht hatte, und in den vier Monaten Untersuchungshaft davor, bis zu ihrem Prozess und währenddessen, hätte Evelyn schon viel Gelegenheit gehabt, sich an die Omnipräsenz von Gittern zu gewöhnen. Es war ihr bisher nicht wirklich gelungen.

    Aus der Tageszeitung, die in der Gefängnisbibliothek eingesehen werden konnte, wusste sie, dass es vielen anderen Menschen ähnlich ging. In der Türkei zum Beispiel war der Staatspräsident dabei, nach einem gescheiterten Putschversuch unzählige Menschen, die nach seiner Auffassung von der Linie abwichen, unter dem Vorwurf terroristischer Umtriebe ins Gefängnis zu werfen. Unter ihnen waren neben Militärs auch Staatsanwälte, Lehrer und Journalisten in so großer Zahl, dass es kaum vorstellbar war, dass es sich tatsächlich ohne Ausnahme um Sympathisanten und Unterstützer staatsfeindlicher Organisationen handelte. Evelyn wusste, dass es diesen Leuten hinter ihren Gitterstäben weitaus schlechter ging als ihr. Sie war schließlich zu Recht hier. Sie war mit ihrem Urteil absolut einverstanden. Der Richter hatte keine Chance gehabt, anders zu entscheiden.

    2

    Juli 1962

    Manfred saß am Küchentisch und zeichnete. Draußen war schönes Wetter, und das war es, was seine Eltern schon immer gewundert hatte. Es konnte das schönste Wetter sein, die Kinder aus der Nachbarschaft spielten johlend und rufend zwischen den Häusern – aber Manfred beschäftigte sich stundenlang mit seinen Bilderbüchern und vertiefte sich in die Abenteuer von Meckie und seinen Freunden. Oder er malte. Wobei das Malen mit Farben nie in besonderem Maße sein Interesse fand. Er zeichnete mit dem Bleistift. Voller Andacht entstanden die grauen Konturen einer Ritterburg mit Zinnen und Schießscharten auf dem frischen Blatt seines Zeichenblocks. Das unberührte weiße Blatt übte eine sinnliche Anziehungskraft auf ihn aus. Einen ganz neuen Zeichenblock zu beginnen, das bunte Deckblatt aufzuschlagen und die ersten Striche auf dem makellosen, holzfreien Papier auszuführen, war für ihn ein beinahe religiöser Akt.

    Er genoss es, in der Küche allein zu sein. Der Papa war nebenan im Wohnzimmer und nahm Musik auf. Dabei kam es für Papa darauf an, genau im richtigen Moment, wenn der Ansager verstummte, gleichzeitig die Start- und Aufnahmetaste zu drücken, bevor die Musik einsetzte. Der Papa war stolz auf sein Grundig TK 23 Tonbandgerät. Mit den Magnetbandspulen von BASF konnte er bis zu zwei Stunden Musik am Stück aufnehmen.

    Die Mama war noch mal zu Petzelberger gelaufen, einem kleinen Gemischtwarenladen ein paar hundert Meter entfernt an der Ecke auf der anderen Seite der Gelsenkirchener Straße.

    Manfred nahm das stumpfe Ende seines Bleistifts in den Mund und sah gedankenverloren zum Küchenfenster hinaus. Direkt gegenüber war der „Stall", in dem der Papa allerlei Gartengeräte aufbewahrte und in dessen oberem Teil sich ein Taubenschlag befand. Tauben hielten die Eltern zwar nicht, dafür versorgte Susi, die schwarz-weiße Katze aus der Nachbarschaft, dort im Stroh ihren Wurf von vier kleinen Welpen, die ihre Augen noch geschlossen hielten. Das hatte Manfred erst gestern noch überprüft.

    Oberhalb der grauen Dachschindeln des Stalls konnte Manfred sehen, dass die beiden Kühltürme der Zeche dicke weiße Dampfwolken ausstießen, die sich kompakt und träge in den Himmel hinaufwälzten wie schwereloser Rasierschaum. Die Sicht auf die Kühltürme selbst wurde durch den Stall verdeckt.

    Manfred zeichnete im Umfeld der Ritterburg mit schwungvollen Bögen ein paar Sträucher und Bäume. Den groben und unregelmäßigen Mauersteinen verlieh er durch Schraffierungen und Schatten ein möglichst realistisches Aussehen. Auf einem der Türme entstand ein kleiner, einsamer Ritter, der aus nicht ersichtlichen Gründen sein Schwert erhoben hatte und aussah wie eine Miniatur des Hermannsdenkmals.

    Manfred hörte die Haustür ins Schloss fallen. Kurz darauf öffnete sich die Küchentür. Noch halb im Korridor (so nannten sie die Diele ihrer Erdgeschosswohnung) rief Elfriede ins Wohnzimmer: „Schorsch, willße am Sonntach Pellkartoffeln oder Bratkartoffeln?"

    Durch die offene Küchentür drang die weiche, aber männliche Stimme von Gerhard Wendland. Darf ich bitten zum Tango um Mitternacht?

    Und dann die weniger weiche, jedoch ebenfalls männliche Stimme von Georg Schuster. „Bratkartoffeln!"

    Tanze mit mir in den Morgen.…

    „Manfred, du muss gleich ma hier den Küchentisch freimachen", bemerkte die Mama und stellte ihre Einkaufstasche auf der Spüle ab.

    Tanze mit mir in das Glück … Die Stimme wurde begleitet von einem beschwingten Tangorhythmus.

    „Setz dich doch anne Fensterbank", schlug die Mama vor.

    In deinen Armen zu träumen ist so schön bei verliebter Musik…

    Sie schloss die Küchentür.

    Der Papa hatte damals keine abgeschlossene Lehre absolvieren können. Daran waren die Kinderlandverschickung schuld, die ihn als Heranwachsenden ins Oberhessische verschlagen hatte, und die Turbulenzen sowohl in den letzten Kriegs-, als auch in den ersten Friedensjahren. Trotzdem besaß er eine Menge handwerkliches Geschick. So hatte er die Küchenfensterbank um das Dreifache verbreitert und darunter einen Schrank mit Schiebetüren gebaut, sodass die neue Fensterbank den oberen Abschluss des Schrankes bildete. Die Materialien stammten ausnahmslos aus Zechenbeständen. Hinter den Schiebetüren verbargen sich Stapel von Meckie Bilderbüchern, Malbüchern, mehrere Autoquartette und eine große, rot lackierte Holzkiste mit verschieden großen Fächern (ebenfalls von Papa gebaut) in denen sich die Lego-Steine befanden.

    Manfred klappte seinen Zeichenblock zu und räumte die Malsachen vom Tisch. Dann kniete er sich vor den Schiebeschrank und zog die Legokiste vor.

    Mama begann, das Viertelpfund Aufschnitt, die Gurken und einen halbes Pfund Butter in den Bosch-Kühlschrank zu räumen, der friedlich und vertrauenerweckend vor sich hin brummte.

    „Mensch, Manfred, sagte sie, „warum gehße denn nich ma’n bisschen in’n Garten? Es is so’n schönes Wetter.

    „Nee, keine Lust", bemerkte Manfred und begann, auf einer Lego-Bodenplatte die Außenmauern eines Hauses zu errichten.

    „Ich hab Ingo und Siechfried draußen gesehn, ließ die Mama nicht locker, „die haben gefracht, ob du nich raus komms.

    „Mhm … Mhm …", machte Manfred und schüttelte den Kopf, was Mama nicht sehen konnte, weil sie ihm an der Spüle stehend den Rücken zuwandte. Er bemühte sich, die roten und weißen Steine abwechselnd zu verwenden, weil er wusste, dass er von jeweils einer Farbe nicht genügend Steine für ein Haus besaß. Und nichts war schlimmer, als eine Bauruine auf halber Strecke notgedrungen mit einer anderen Farbe weiterzubauen. Ein geordnetes rot-weißes Schachbrettmuster an den Mauern wirkte da erheblich ansprechender. Die Schwierigkeit stellte sich erst ein, wenn es an die Errichtung des Daches ging und man auf der einen Seite darauf achten musste, dass die Dachsteine genügend solide zusammengedrückt wurden, auf der anderen Seite jedoch aufpassen musste, dass das Dach nicht ab der dritten oder vierten Reihe einstürzte.

    Als sich die Küchentür erneut öffnete, gab es im Wohnzimmer offenbar gerade die Nachrichten, irgendwas mit Adenauer, Chruschtschow und so weiter.

    Tanze mit mir in den Morgen, hatte auf der Magnetspule in der Reihenfolge hinter der italienischen Sängerin Mina mit Heißer Sand seinen Platz gefunden. Es war das Jahr, in dem sich in England eine Bluesband namens The Rolling Stones gründete, damals noch mit Brian Jones und Ian Stewart. Zu der Zeit gab es die Beatles schon seit zwei Jahren. Der Tsunami, den die beiden Musikgruppen in der Musikbranche und in der Jugendbewegung insgesamt auslösten, würde erst mit Verspätung bei Manfred Schuster

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