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ALINAS MÄNNER: Roman
ALINAS MÄNNER: Roman
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eBook328 Seiten4 Stunden

ALINAS MÄNNER: Roman

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Über dieses E-Book

Eine mondäne Galeristin, ihr Mann und eine verwöhnte Tochter, ein schwangeres Vergewaltigungsopfer und ihre lesbische Freundin, eine Domina, ihr Haussklave und ihr Enkelsohn, ein Supermarktleiter, der im Nebenberuf seine Frau schlägt, ein Kommissar, der seinen letzten Fall lösen will - Einander völlig fremde Menschen geraten durch das Schicksal in einen unseligen Strudel, der sie gemeinsam in düstere Abgründe zieht.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum13. März 2020
ISBN9783347037748
ALINAS MÄNNER: Roman
Autor

Ruben Schwarz

Ruben Schwarz wurde 1955 im Herzen des Ruhrpotts geboren und ist seiner Heimatstadt Essen sechzig Jahre lang treu geblieben. Heute lebt der ehemalige Medienkaufmann im Bergischen Land. Inspiriert durch Werke großer schreibender Vorbilder fühlte er sich irgendwann bereit dazu, selbst seine Geschichten aufzuschreiben. Von ihm wurden mittlerweile eine ganze Reihe Thriller und einige Science-Fiction-Romane veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    ALINAS MÄNNER - Ruben Schwarz

    ALINAS MÄNNER

    -4 Monate später-

    1

    Die Art und Weise, mit der die Sache Fahrt aufnahm, war fast schwindelerregend. Offensichtlich hatte sie es jetzt mit echten Profis zu tun. Um Punkt zehn Uhr am Morgen war der dunkelgraue geschlossene Transporter, der auf beiden Seitentüren das gediegene silberne Logo von Severing Wohndesign trug, auf dem Hof vorgefahren.

    Britta Röder hatte die beiden Männer in den grauen Overalls eingewiesen, und der Fahrer hatte das Fahrzeug rückwärts bis an den Eingang des Ateliers heranmanövriert. Jetzt waren sie dabei, die bereitgestellten Bilder fachgerecht mit großen Bögen Seidenpapier zu verpacken. Zusätzlich wurden alle Bilder in Luftpolsterfolie gehüllt. Die Männer trugen bei ihrer Arbeit weiße Stoffhandschuhe.

    „Na siehst du, die wissen, wie man mit Kunst umgeht", sagte Phil, der sich zusammen mit seiner Freundin Becky zu Britta gesellt hatte. Der lange dünne Mann mit den imposanten Dreadlocks hatte seinen Arm um die eher kleine mollige Becky mit den lustigen Zöpfen und dem fast bodenlangen, bunten Rock gelegt.

    „Ja, voll", erwiderte Britta.

    Noch gestern Nacht hatte sie sich Gedanken darüber gemacht, was während des Verladens mit den Bildern hätte passieren können, wenn es heute Morgen immer noch geregnet hätte. Aber sowohl auf Grund der fachmännischen Verpackung als auch, weil es heute, am Montagmorgen um zehn Uhr bereits über elf Grad warm war und zeitweise die Sonne durch die Wolken lugte, bestand überhaupt keine Gefahr für die empfindliche Leinwand und die Ölfarben.

    Es hatte damit begonnen, dass ein paar Tage vor Weihnachten in der Wohnstube des alten Bauernhauses, in dem Britta Röder zusammen mit den anderen Bewohnern der kleinen Landkommune wohnte, der Song Someone like you von Adele ertönt war. Es war die Melodie, die Britta an Ihrem Handy als Klingelton eingespeichert hatte.

    Am anderen Ende hatte sich Carla Severing gemeldet und sich als Inhaberin der Galerie Severing vorgestellt. Am Anfang hatte Britta gar nicht verstanden, worauf die Galeristin hinauswollte. Natürlich war ihr die renommierte Gemäldegalerie in der Ernst-Reuter-Allee seit Jahren bekannt, und sie hatte mehr als einmal die ausgestellten Kunstwerke durch die großen Schaufenster bewundert. Bisher hatte sie sich jedoch nicht getraut, das exklusive Ladenlokal zu betreten. Irgendwie hatte sie immer gefunden, dass das ein paar Nummern zu groß für sie war, dass die hier ausgestellten Bilder nicht ihrer Gewichtsklasse entsprachen.

    Carla Severing hatte erzählt, sie sei im Frühjahr in Brittas Ausstellung im Foyer der Stadtsparkasse gewesen und habe dort ihren Flyer mitgenommen. Sie würde gerne im Februar des kommenden Jahres, so hatte sie weiter erklärt, mit einer Auswahl von Brittas Werken in ihrer Galerie eine Vernissage veranstalten.

    Britta konnte sich gut erinnern, wie sie die Worte von Carla Severing wie durch eine schallschluckende Wand aus Styropor wahrgenommen hatte. Sie hatte ziemlich lange gebraucht, bis sie überhaupt eine Antwort herausgebracht hatte. Zu unglaublich schien ihr, dass das angesehene Kunsthaus, das über die Stadtgrenzen hinaus einen guten Klang hatte, Interesse an ihren Bildern haben könnte.

    Noch zwischen Weihnachten und Neujahr hatte Britta dann die elegante Dame in ihren großen hellen Räumlichkeiten besucht, und sie hatte festgestellt, dass Carla Severing (nennen Sie mich doch Carla) von allen ihren Bildern, die damals in der Stadtsparkasse ausgestellt gewesen waren, Fotos geschossen hatte. Zu jedem einzelnen Bild hatte die Kunsthändlerin sich Notizen gemacht. Die Preise, zu denen die Galeristin Brittas Bilder anbieten wollte, nahmen ihr den Atem. Wenn das klappen sollte, könnte sie der Wohngemeinschaft nicht nur ihren Anteil zur neuen geplanten Pelletheizung beisteuern, sondern diese sogar komplett finanzieren.

    Während sie mit Frau Severing sprach, hatte sie sich so leicht gefühlt, als könne sie problemlos vom Boden abheben und zu den LED-Spots an der glänzenden Kunststoffdecke der Galerie emporschweben, wenn sie es nur wirklich wollte.

    Am zweiten Januar war Carla Severing dann persönlich auf dem Bauernhof erschienen, um sich weitere Bilder von Britta anzusehen. Gemeinsam hatten sie in der zum Atelier umgebauten ehemaligen Scheune festgelegt, welche Bilder ausgestellt werden sollten, und ein Konzept für zwei unterschiedliche Themenbereiche entworfen. Gleich am kommenden Montag sollten die entsprechenden Gemälde abgeholt werden, die eben in diesem Moment von zwei Männern in grauen Overalls sicher im Wagen verstaut wurden.

    Als der Mercedes Sprinter abfuhr und seine Winterreifen knirschend über den mit Kopfsteinen gepflasterten Hof zum Tor rollten, gingen Britta, Becky und Phil ins Haus. Britta wollte gleich nach oben, um nach Alina zu sehen, die sich heute Morgen mit Übelkeit nach dem Frühstück noch einmal ins Bett gelegt hatte.

    Als sie die engen, ausgetretenen Holzstiegen erklomm, glühten ihre Wangen vor freudiger Erregung.

    2

    „Scheiße Mutter, warum nicht?" Die Stimme von Isabelle Severing klang schrill, und das Wort warum hatte sie unnatürlich gedehnt. Ihre blauen Augen waren zu Schlitzen geschrumpft und versprühten zornige Funken.

    „Du weißt es sehr gut, Isa!" Auch ihre Mutter Carla war in nicht eben deeskalierender Stimmung, und ihre Stimme klang scharf. Mutter nannte Isabelle sie nur, wenn sie ihre Stimmungen hatte. Und die hatte sie leider in letzter Zeit sehr oft.

    Isabelle warf ihre lange, weizenblonde Mähne mit einer energischen Kopfbewegung nach hinten und stöckelte wütend in ihr Zimmer. Wer gute Ohren hatte und dazu Isabelle gut kannte, wie zum Beispiel ihre Mutter, dem war das halblaut gezischte „Fick dich" nicht entgangen, kurz bevor die Mahagonitür mit einem trockenen Knall ins Schloss fiel.

    Carla Severing hatte rote Flecke im Gesicht und ihr Busen hob und senkte sich unter schnellen und flachen Atemzügen. Manchmal war ihr danach, diese Tussi zu erwürgen.

    Sie lief zur Zimmertür ihrer Tochter, pochte drei Mal heftig dagegen und rief aufgebracht: „Und denk dran, den Stellplatz freizumachen, bevor dein Vater nach Hause kommt!"

    Bernd würde zwar erst morgen, am Samstag, aus Köln zurückkommen, aber irgendwie half es ihr ein bisschen herunterzukommen, wenn sie das letzte Wort hatte.

    „Lass mich in Ruh!", kreischte Isabelle durch die Tür, und das letzte Wort ging damit eindeutig an sie.

    Carla Severing presste hörbar die Luft aus ihren Lungen und wandte sich ab. Sie ging ins weitläufige Wohnzimmer, nahm die aktuelle Cosmopolitan vom Glastisch und ließ sich wütend auf das weiße Designersofa aus Italien fallen. Sie schlug das Heft auf und schaute sich einen Artikel mit dem Titel „Gleicher Mann – besserer Sex" an. Mit einer schnellen, fast gewalttätigen Bewegung blätterte sie um, wobei die Seite einriss.

    „Coole Sommerkleider für heiße Tage" wurden auf den beiden Folgeseiten journalistisch aufgearbeitet, und dazu passend wertvolle Tipps für eine „Endlich schöne Haut" abgegeben.

    Sie warf die Illustrierte mit einem Schwung, der heftiger ausfiel als geplant, auf den Glastisch zurück und war froh, dass die teure Tischlampe nur leicht wippte, aber zum Glück nicht umfiel.

    Carla Severing war das, was man allgemein als schöne Frau bezeichnet. Die zweiundvierzigjährige Galeristin trug die mittellangen blonden Haare mit einem Seitenscheitel, wobei die längere Seite schräg nach vorn gebürstet war und, wenn sie den Kopf neigte, federnd vor ihre rechte Gesichtshälfte fiel. Das fein geschnittene Gesicht trug in seiner Mitte eine schmale, nicht sehr kleine Nase, und die blauen Augen wirkten zugleich klug und reif. Ihre Figur war schlank, aber fraulich.

    Der Ärger über das Verhalten ihrer Tochter nagte noch immer an ihr. Sie stand auf und ging zur Fensterseite, die fast über die ganze Wandbreite und bis zum Boden verglast war. Das riesige Panoramafenster gab den Blick frei über eine weitläufige Dachterrasse hinweg, bis hinunter auf die Stromelbe, den Sülzehafen und den am anderen Ufer gelegenen Rotehorn Park. Letzterer war allerdings wegen der trüben und feuchten Witterung in der Ferne kaum zu erkennen.

    Die obere Etage der fünfgeschossigen Stadtvilla hatte ihnen der stellvertretende Leiter der hiesigen Volksbank vermittelt, der Kunde von Severing Wohndesign war. Die drei identischen Häuser in Traumlage, nur durch die schmale Uferstraße vom Fluss getrennt, erlaubten bei besserem Wetter aus den oberen Stockwerken einen unglaublichen Blick weit über den östlichen Teil der Stadt.

    Die Luxuswohnung mit ihren über 220 Quadratmetern Wohnfläche hatte dabei sogar nicht einmal vierhunderttausend Euro gekostet. In Hamburg zum Beispiel war solch eine Immobilie nicht unter eineinhalb Millionen zu bekommen.

    Carla Severing zuckte zusammen, als im Hausflur wieder eine Tür knallte. Für einen kurzen Moment gab der Rundbogen der offenen Wohnzimmertür den Blick auf eine gertenschlanke und modisch gekleidete Blondine mit langen glatten Haaren frei, deren Oberkörper in eine kurze rote Lederjacke von Valentino gehüllt war und an den Füßen ebenso rote Stöckelschuhe von Manolo Blahnik trug.

    Carla holte tief Luft und rief: „Wann warst du eigentlich das letzte Mal bei Horatio im Stall?" Sie hatte es sich nicht verkneifen können, auf den Trakehner Wallach hinzuweisen, den Isa zu ihrem sechzehnten Geburtstag geschenkt bekommen und ziemlich genau zwei Jahre lang innig geliebt hatte. In letzter Zeit jedoch kümmerte sie sich leider kaum noch um das Pferd, das im Stall des Reitclubs Herrenkrug einquartiert war.

    Als Antwort auf Carlas Frage fiel die Wohnungstür, mit kaum weniger Geräuschentwicklung als zuvor die Zimmertür, ins Schloss.

    Hoffentlich fährt sie wenigstens den Smart von Bernds Stellplatz, dachte Carla, immer noch mit einem Ruhepuls von deutlich über Hundert.

    Den nagelneuen, schneeweißen Smart hatten sie Isabelle zu ihrem bestandenen Abitur geschenkt. Mit einem Notendurchschnitt von 1,2 hatte sie ohne Probleme den Studienplatz für Medizin bekommen. Umso größer war der Aufruhr im Hause Severing gewesen, als Isabelle den akademischen Pfad von heute auf morgen verlassen, und erklärt hatte, dass sie nun erst einmal ein oder zwei Jahre für sich brauchte, um sich selbst zu finden und ein bisschen zu leben. Chillen war so ein Begriff in dem Zusammenhang, den Carla auf den Tod nicht ausstehen konnte.

    Sie hatte den Verdacht, dass Isas Sinneswandel mit diesem Johannes zu tun hatte, mit dem sie in den letzten Monaten viel Zeit in den Clubs verbrachte, und der ebenfalls seinen hauptsächlichen Lebensinhalt darin sah, Sohn wohlhabender Eltern zu sein.

    Isabelle Severing war spätestens seit der Oberstufe immer mit reichlich Taschengeld ausgestattet gewesen. Als sie kürzlich jedoch von ihrer Mutter verlangt hatte, ihr einen Zwei-Wochen-Trip auf die Seychellen zu finanzieren, hatte diese entschieden abgelehnt. Nach Carlas Auffassung war Isabelle auf dem besten Wege, eine verwöhnte, nichtsnutzige Faulenzerin zu werden. Und sie hatte Angst davor, dass das Mädchen in ein Milieu aus Kokain- und Designerdrogen konsumierenden Tagedieben abrutschen könnte. Darüber hatte sie erst letzte Woche wieder im Fernsehen eine Reportage gesehen.

    Es machte Carla traurig, dass sie im letzten halben Jahr völlig den Zugang zu ihrer Tochter verloren hatte. Davor waren die beiden beinahe so etwas wie beste Freundinnen gewesen, die sogar manchmal ihre Klamotten getauscht hatten.

    Auch Carla liebte den Luxus, in dem sie lebte, hatte ein Faible für ausgefallenen Schmuck und teure Designermode. Aber im Gegensatz zu Isa wusste sie, dass man dafür arbeiten musste. In diesem Moment wünschte sie sich, Bernd wäre hier. Sie würde morgen dringend mit ihm über Isa sprechen müssen.

    3

    Die schlanke junge Frau mit den zum Teil lila gefärbten Haaren hieß Britta Röder. Obwohl sie sich keine sonderliche Mühe gegeben hatte, die zum Atelier umgebaute Scheune leise zu betreten, stellte sie fest, dass Alina ihr Kommen nicht bemerkte. Stattdessen stand diese konzentriert vor der Staffelei und schuf mit einem groben Pinsel und tupfenden Handbewegungen eine düstere und bedrohliche Wolkenformation auf die Leinwand, die im oberen Drittel des Bildes ihren Ursprung genommen hatte, sich nun aber immer weiter in die Bildmitte hinunterarbeitete. Im Vordergrund sah man eine junge Frau in einem sommerlichen Kleid, die auf einem grasbewachsenen Hügel stand und einen bunten Blumenstrauß in der Hand hielt.

    Gestern noch hatte die etwa eineinhalb Quadratmeter große Leinwand ein wahres sommerliches Idyll gezeigt. Die dunklen, flächenweise fast schwarzen Gewitterwolken, die inzwischen aufgezogen waren, gaben dem Bild einen völlig anderen Charakter und ließen ahnen, dass die heitere Stimmung in Kürze dramatisch kippen würde.

    Britta beobachtete still ihre Freundin und bekam einen traurigen Gesichtsausdruck. Diese Entwicklung nahm in letzter Zeit jedes Bild, das Alina begann. Stets endeten die mit frischem Mut begonnenen, am Anfang freundlichen und nicht untalentierten Malversuche in einer furchteinflößenden, beklemmenden Atmosphäre. Britta war keine Psychologin, aber die Vermutung, dass Alina die Erlebnisse ihrer Vergewaltigung, die gerade mal ein gutes halbes Jahr her war, noch längst nicht überwunden hatte, drängte sich auf. Damals war ein Psychopath in ihre Wohnung eingedrungen und hatte sie über Stunden mit dem Tode bedroht, brutal misshandelt und vergewaltigt.

    Die regelmäßige psychologische Betreuung und der Umzug zu Britta und ihren Freunden in die ländliche Wohngemeinschaft hatten ihr damals sehr geholfen. Alina war richtig aufgeblüht, war fröhlich und offen zu jedermann geworden und hatte dann irgendwann die Sitzungen bei ihrer Therapeutin abgebrochen.

    Obwohl Alina ihre Probleme oft mit lockeren Sprüchen überspielte, war Britta inzwischen sicher, dass das ein Fehler gewesen war. Außerdem waren in letzter Zeit Alinas Albträume zurückgekommen, die für Monate ganz verschwunden gewesen waren. Mindestens jede dritte Nacht wachte sie stöhnend oder schreiend auf, nachdem sie wieder einmal das Martyrium ihrer Vergewaltigung durchgemacht hatte. Britta nahm sie dann immer in die Arme, bis sie gemeinsam wieder einschlafen konnten.

    Zum Malen war Alina durch Britta inspiriert worden, die Kunst studiert, und auf dem Gebiet des Surrealismus und des Fotorealismus schon erste Erfolge erzielt hatte. Seit Kurzem hingen sogar einige Bilder von ihr in der Galerie Severing in der Innenstadt. Darauf war sie besonders stolz. Im Februar würde es dort eine Vernissage geben.

    Britta trat von hinten an ihre Freundin heran und umarmte sie. Die nahm den Pinsel von der Leinwand und lehnte ihren Kopf zurück an Brittas Schulter. Britta drückte ihren Mund in Alinas Nacken. „Hallo meine Süße, flüsterte sie ihr ins Ohr, „das sieht toll aus.

    „Das sagst du nur so, zweifelte Alina. „Nein wirklich, man hat tatsächlich das Gefühl, man könnte die Windböen vor dem Gewitter spüren. Nur statt dem Blumenstrauß solltest du der Dame lieber einen Schirm in die Hand geben.

    Alina prustete. „Du bist doof!, schimpfte sie und musste lachen. „Außerdem bist das doch du.

    „Ich weiß doch, Süße", sagte Britta. Das Gesicht der Frau auf dem Bild war nicht zu erkennen. Dazu stand sie zu weit vom Betrachter entfernt. Aber die Frisur und die Haarfarbe waren ein eindeutiges Indiz.

    „Ich liebe dich, sagte Britta ernst und schlang ihre Arme ganz fest um Alinas Brustkorb. „Ich dich auch, entgegnete Alina, „aber drück mir bitte nicht die Luft ab."

    „Okay", stimmte Britta zu und gab Alina noch einen Kuss auf den Hals.

    „Huch, machte die auf einmal, „er strampelt wieder. Fühl mal. Britta legte von hinten beide Hände auf Alinas Bauch, der jetzt schon, immerhin im sechsten Monat, eine deutliche Wölbung zeigte. Tatsächlich konnte sie fühlen, wie der Kleine zwei Mal von innen gegen die Begrenzung seines warmen und geschützten Lebensraumes boxte.

    „Hast du´s gemerkt?", fragte Alina begeistert.

    „Ja, und ob, bestätigte Britta, „ganz schön aktiv, das Kerlchen.

    Alina sprach immer von ihm und von dem Kleinen, obwohl die Ultraschallbilder bisher keine eindeutige Auskunft über das Geschlecht des Kindes gegeben hatten. Alina jedoch war so fest davon überzeugt, dass in ihr ein Junge heranwuchs, dass Britta und auch die anderen Mitglieder der Wohngemeinschaft diese Auffassung übernahmen, und inzwischen kaum jemand daran zweifelte, dass es demnächst männlichen Nachwuchs geben würde.

    Alina Semjonowa war auch vor ihrer Schwangerschaft schon ein wenig mollig gewesen und hatte jetzt noch ein bisschen zugenommen. Ihre fast pechschwarzen Haare waren schon wieder so lang wie die ihrer Freundin und endeten knapp über den Schultern. Sie stellte den von blauschwarzer Ölfarbe getränkten Pinsel in ein Glas mit Wasser und Farbverdünner, drehte sich zu Britta um und küsste sie lange und intensiv.

    Konnte man das Kind eines Vergewaltigers ohne Vorbehalte austragen und lieben? Für Alina Semjonowa, die Tochter russischer Eltern aus Woronesch, war das von Anfang an keine Frage gewesen. Es war schon immer ihr Lebensentwurf gewesen, die große Liebe zu entdecken und mit ihr zusammen mindestens ein Kind großzuziehen. Den einen Teil der Erfüllung hatte sie in Britta gefunden, und der andere Teil war ihr auf ungewöhnliche, wenn auch schmerzhafte Weise, ebenfalls durch das Schicksal zugeführt worden. Für Alina stand außer Zweifel, dass hier ein großer Plan am Werk war, der es am Ende mit ihr gut meinte.

    Die Mitbewohner und auch Britta hatten sich am Anfang nicht ganz leicht damit getan, Alinas Entscheidung zu verstehen, das Kind auszutragen. Mittlerweile freuten sich jedoch alle auf den erwarteten Nachwuchs. Schließlich konnte der nichts für die Taten seines Erzeugers.

    „Musst du los?, fragte Alina, nachdem sich die Lippen der beiden Frauen voneinander gelöst hatten. „Ja, ich sollte jetzt wohl. Es hat aufgehört zu regnen. Lenny will auch los.

    „Okay, aber pass auf dich auf, mein Schatz, du weißt, bei den nassen Straßen…"

    „Klar, keine Sorge, unterbrach Britta, „ich bin vorsichtig.

    „Geht das Rücklicht wieder?", fragte Alina.

    „Alles bestens, Phil hat das Kabel repariert."

    Eigentlich war es Alinas und Brittas Plan gewesen, gemeinsam mit dem Auto Brittas Mutter in Magdeburg-Kannenstieg zu besuchen. Allerdings hatte sich herausgestellt, dass Phil sich vom 23. bis 25. Januar für den großen Indoor- Antik- und Trödelmarkt in Halle angemeldet hatte. Er war heute Morgen in aller Frühe mit dem Trabbi abgefahren. In der kalten Jahreszeit gab es ansonsten keine Handwerker- oder Mittelaltermärkte, auf denen er seine Töpferwaren anbieten konnte.

    Lenny, der Landmaschinenvertreter, ebenfalls ein Mitbewohner, musste mit dem Corolla, dem anderen der beiden Fahrzeuge der Gemeinschaft, in die Gegend zwischen Neuruppin und Rheinsberg, wo er Termine bei landwirtschaftlichen Großbetrieben ausgemacht hatte. Er hatte angeboten, Britta zusammen mit ihrem Fahrrad in Kannenstieg abzusetzen. Den Rückweg würde sie jedoch dann mit dem Rad bewältigen müssen. Alina hatte wegen ihres Zustandes, was eine Radtour betraf, natürlich passen müssen.

    Sie hatte sich daraufhin angeboten, Becky beim Flaschenspülen zu helfen. Die Landkommune in der Nähe von Klein-Wanzleben bestand aus sechs Leuten und betrieb unter anderem Obstanbau. Einen nicht unwesentlichen Teil der Einnahmen bestritten die autodidaktischen Landwirte durch die Herstellung biologischer Säfte.

    In einem Schuppen hinter dem Bauernhaus stapelten sich Holzkästen mit leeren Glasflaschen bis unter die Decke, die gespült werden mussten, bevor sie im nächsten Sommer wieder befüllt werden konnten.

    „Also mach´s gut meine Schöne, sagte Britta fröhlich und fasste Alina bei den Händen, „und pass gut auf unseren kleinen Prinzen auf.

    „Mach ich, versprach Alina und streichelte zärtlich über ihren Bauch. Dann verließ Britta die Scheune. In der Tür drehte sie sich noch einmal um und sagte: „Und male mal ein Bild mit etwas freundlicherem Wetter. Dabei lachte sie und spitzte die Lippen zu einem Luftkuss. Dann ging sie hinaus in die kühle Januarluft.

    Alina blieb allein in dem provisorischen Atelier zurück. In einer Ecke verbreitete der Heizstrahler mit rötlichem Glühen eine Wärme, die es nie schaffte, jeden Winkel der Scheune zu erreichen. Von der hohen Holzdecke hingen zwei große Lampen in der Form umgedrehter Trichter an langen Ketten herab und beleuchteten mit ihren 100-Watt-Glühbirnen den gepflasterten Steinboden und die Staffelei. Alina wurde von einer unbestimmten Traurigkeit befallen, die sich wie ein dunkles Tuch über sie legte. Dabei konnte sie noch gar nicht ahnen, dass sie vor ein paar Sekunden zum letzten Mal die Stimme ihrer Geliebten gehört hatte. Sie drehte sich um und begann damit, ihre Pinsel auszuspülen. Ihr Bild mochte sie überhaupt nicht mehr.

    4

    Durch das Kabinenfenster konnte man direkt auf den Parkplatz und den Promenadenweg blicken, der parallel zum Rheinufer verlief. Es war schon dunkel und das Wetter unangenehm nasskalt. Deshalb waren auch kaum Leute unterwegs. Die Bogenlaternen beleuchteten den feinen Nieselregen, der vom Wind gegen das Fenster getrieben wurde.

    Bernd Severing war dabei, die vielen Visitenkarten und Prospekte zu ordnen, die sich in den vergangenen drei Tagen angesammelt hatten. Die Möbelmesse in Köln war für den Innenarchitekten seit Jahren Pflichtprogramm. Vor allem die Trends im Bereich der hochwertigen Polstermöbel, die sich variabel den Bedürfnissen ihrer Benutzer anpassten, und bei den modernen Wohn-Schranksysteme waren für ihn in diesem Jahr von Interesse gewesen. Seit Jahren arbeitete Bernd Severing vorwiegend mit festen Herstellern aus Italien und der Schweiz zusammen, die auch in diesem Jahr wieder wertvolle Impulse gegeben hatten. Allerdings hatte er auch mit Ausstellern aus Dänemark und der Türkei interessante neue Kontakte geknüpft. In seinem kleinen, aber feinen Geschäft in der Magdeburger Innenstadt fand man ausschließlich Einrichtungsbeispiele mit einer modernen, schnörkellosen und nahezu puristischen Anmutung. Severing verstand sich nicht als Möbelhändler, sondern sein Arbeitsplatz war das Wohnumfeld des Kunden, wo er unter Berücksichtigung der örtlichen Gegebenheiten und der individuellen Bedürfnisse ganzheitliche Einrichtungskonzepte entwarf, bei denen von den Farben an den Wänden und der Platzierung der Möbel, über Gardinen und Teppiche bis hin zu Lampen und Bildern alles stimmig ineinander greifen musste. Severings Lieferanten arbeiteten mit Werkstätten zusammen, in denen die Möbel in alter Tradition von Hand gefertigt wurden. Qualität und Langlebigkeit hatten dabei einen hohen Stellenwert. Dies alles hatte natürlich seinen Preis, und somit zählten die Kunden von Severing Wohndesign in aller Regel zu den Besserverdienenden, die allerdings auch dementsprechend hohe Ansprüche stellten.

    In diesem Jahr hatte der Inneneinrichter vom 21. bis zum 23. Januar erstmalig eine Kabine auf dem Hotelschiff MS Antonio Bartocelli gebucht, welches für die Dauer der Messe seinen Liegeplatz am Kennedy Ufer, also direkt am Messegelände eingenommen hatte. Das hatte den Vorteil, dass Severing zu Fuß zwischen Messe und Unterkunft pendeln konnte. Mit einem Übernachtungspreis von 175 Euro, inklusive Frühstück, lagen die Kosten zwar in etwa auf dem normalen Level der anderen Messehotels, aber die Kabinen auf dem Schiff waren etwas kleiner als durchschnittliche Hotelzimmer. In Sachen Komfort ließ das Schiff ansonsten jedoch nichts vermissen.

    Bernd Severing verstaute die Messeprospekte in der Laptop-Tasche und legte diese neben seinen Koffer aufs Bett. Dann beugte er sich über den kleinen Klapptisch zum Kabinenfenster und sah hinaus. Hinter dem Parkplatz und ein paar dunklen Gebäudeumrissen konnte man von hier aus die gewölbte Dachkonstruktion des Hauptbahnhofs und dahinter die beleuchteten Türme des Kölner Doms erkennen. Wenn man den Kopf an die Scheibe des Kabinenfensters legte, war links die ebenfalls hell erleuchtete Hohenzollernbrücke zu sehen, die 1911 von Kaiser Wilhelm II. eingeweiht worden war, bei dem Namen der Brücke sicherlich ein Pflichttermin für Wilhelm, dessen eigentlicher Fetisch zwar eiserne Schiffe mit möglichst vielen Kanonen gewesen war, der aber auch monumentale Baukunst zum Ruhme des Reiches durchaus zu schätzen gewusst hatte.

    Die Beleuchtung beider Gebäude, Dom und Brücke, war erst vor Kurzem als Zeichen gegen eine geplante fremdenfeindliche Demonstration für über zwei Stunden abgeschaltet

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