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Schattenfuge: Roman
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eBook142 Seiten2 Stunden

Schattenfuge: Roman

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Über dieses E-Book

Ein einziger Raum. Eine einzige Nacht. Ein Mann und eine Frau, die eine Abmachung haben: Sie will schweigend sein Porträt malen, er soll währenddessen von sich erzählen. Er, ein Architekt, der seinen Beruf an den Nagel gehängt hat, beginnt seine Erzählung mit der Schilderung seines Scheiterns. Als sie das nicht mehr aushält, schickt sie ihn fort.
Er kommt zurück und beginnt, von seiner Fußwanderung nach Finisterra zu erzählen. Schritt für Schritt hört sie ihm zu, Strich für Strich entsteht das Porträt eines Liebenden, in dem sie sich selbst erkennt.
SpracheDeutsch
HerausgeberLimbus Verlag
Erscheinungsdatum23. Okt. 2012
ISBN9783902534798
Schattenfuge: Roman

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    Buchvorschau

    Schattenfuge - Gabriele Bösch

    Gabriele Bösch

    Schattenfuge

    Roman

    Für Gernot

    Hohenems, April 2003

    Was hatte sie erwartet?

    Das Foto einer Geliebten?

    Fast wäre es ihr lieber gewesen.

    Sie starrte auf die Zeichnung in ihrer Hand, auf diese nackte Frau, die in wenigen einfachen Linien auf das Papier geworfen worden war: Wie lasziv sie dasaß, mit breit gespreizten, aufgestellten Beinen, das rechte viel zu kurz. Und viel zu dick. Das Gesicht war ihr seitlich vom Hals gerutscht. Es war ihr unmöglich, dieser Frau in die Augen zu sehen, der Strahlenkranz aus dicken Kohlestrichen lenkte den Blick unweigerlich auf die sanft geöffneten Lippen der Vagina.

    Elenor wusste, dass sie ihm für dieses Bild nie Modell gesessen war. Sie glaubte auch zu wissen, dass er sie nie so betrachtet hatte, nicht im Bett, nicht im Auto und auch nicht unter freiem Himmel.

    Mit wie viel Schwung diese Frau gezeichnet war!

    Plötzlich vermisste sie etwas.

    Finisterre, Juni 2003

    Der Meister hatte gesagt: Zwinge dem Strich eine Wiederholung auf. Aus der Wiederholung entsteht die Bewegung. Bewegung induziert Farbe.

    Er blickte auf den Strand hinunter. Die Menschen in ihren weißen Monturen sahen wie Michelinmänner aus. Sie kratzten das Öl aus den Kluften, es hatte die Fugen im Fels abgedichtet. Als hätte das Meer Schaufeln angespült anstatt Muscheln, und Fässer statt Holz. Als wäre die Zeit aus den Schuhen gekippt. Als wäre Vergangenheit an der Zukunft gestrandet und die Gegenwart untergegangen. Niemand zählte die Stunden. Man zählte lebende Vögel. Jemand sprach von Prestige.

    Er zündete seine Urkunde an. Es gibt keine Irrwege oder Umwege, dachte er. Das Leben ist ein offenes Meer. Man kann es befahren. Neues Land suchen. Unentdeckte Ufer. Man kann es betauchen. Wir können es rückwärts denken, zu jenen Gipfeln, von denen wir träumen. Auf dem offenen Meer gibt es keine Linien, es gibt nur Momente wie Striche. Das Leben zeichnet nicht in Geschichten. Erst in der Wiederholung, im Erzählen, wird das Erlebte zu Küstenstrichen.

    Das Meer im Rücken trat er seine Heimkehr an.

    1

    Als er ankam, war es dunkel. Die mittlere der drei Straßenlaternen war ausgefallen. Er hatte keine Lust, diese Tatsache zu interpretieren, sie fiel ihm nur nebenbei auf, wie der spürbare Zweifel, der ihn beim Griff zur Klinke elektrisierte. Es war offen. Er setzte einen Schritt ins Stockdunkel, die Tür hinter ihm fiel mit metallenem Klang in ihr Schloss. Links befand sich kein Lichtschalter, rechts griff er an aufgestellte Rollen und Stelen. Er tastete sich an ihnen entlang, Zentimeter für Zentimeter sich fürchtend, diese potenziellen Kunstwerke umzuwerfen. Die zweite Tür stöhnte hölzern, als er sie öffnete. Worauf hatte er sich da eingelassen? Ein Bild gegen eine Erzählung. Das konnte nur einer Frau einfallen! Er brauchte kein Porträt von sich und im Erzählen war er nicht geübt. Er hatte sich dem Schweigen verschrieben wie sie sich offensichtlich dem Dunkeln. Dass sie ihn nicht instruiert hatte, irritierte ihn. Dass sie es immer noch nicht tat, verunsicherte ihn. Sie musste ihn längst gehört haben. Er zuckte zusammen, als er das verspätete Klacken der Falle hörte. Die Tür war wohl mit einem Schließer versehen. Noch einmal überwand er sich und ging zwei Schritte weiter. Auch hier standen mannshohe Rollen, deren Bedeutung er nicht ermessen konnte, dahinter zeigte ein Lichtstreifen die Schwelle einer dritten Tür an. Er ging auf sie zu und hob seine Hand. Noch im Klopfen fragte er sich, ob er ihr „Herein!" nicht schon kurz zuvor gehört hatte.

    Die Frau hinter der Leinwand regte sich nicht. Waren ihre Haare immer schon so rot gewesen? Sie hatte recht. Er hatte sie nie wirklich angesehen.

    Er steht immer noch auf der Schwelle, dachte sie, zwischen Licht und Dunkel. Er wird sich entscheiden müssen.

    Ihr Lächeln war ein stummer Befehl, der ihn die Tür schließen hieß. Links neben dem Türblatt sah er den Haken. Er zog seinen Mantel aus und hängte ihn an die Wand. Wie oft hatte er sich auf genau dieselbe Art und Weise schon umgedreht, zögernd, hoffnungsvoll und doch irgendwie leer? Wollte sie ihn denn nicht begrüßen? Fast bereute er seine Zusage. Was sollte das bringen? Was würde sie anfangen wollen, mit dem Wenigen, das er zu erzählen hatte?

    „Sie sind pünktlich", stellte sie fest, glitt von einem Stuhl, der höher sein musste als ein gewöhnlicher, genau konnte er ihn nicht sehen, weil sie sich auf ihn zu bewegte. Sie kam ihm größer vor, oder er sich selbst kleiner. Er hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Was hatte er sich erwartet? Dass sie ihm die Hand reiche? Dass sie ihn umarme? Dass sie wenigstens ein Zeichen von Nervosität erkennen ließe? Nichts von alldem. Stattdessen zog sie einen weiteren Stuhl unter einem der Tische hervor und platzierte ihn, als hätte sie das zuvor geübt. Kein überflüssiges Rücken, kein orientierender Blick in den Raum, keine Frage in ihrem Gesicht, ob ihm dieser Ort auch recht sei.

    „Setzen Sie sich doch", sagte sie und deutete auf den Stuhl, der nun in der Mitte des Raumes stand.

    Er zögerte.

    Wie schwer fielen Schritte, die ein Mann auf eine Frau zugehen sollte? Erst als sich ihre unausgesprochene Frage im Raum verflüchtigte, kehrte sie ihm den Rücken zu.

    Sie lächelte noch immer, als sie sich, an der Leinwand angekommen, ihm wieder zuwandte. Er ging die wenigen Schritte um eine Säule herum und ließ sich auf dem ihm zugewiesenen Stuhl nieder. Der wunde Punkt, dachte er, liegt haarscharf zwischen Schein und Sein. Er würde stürzen. Zuvor aber wollte er ihr geben, wonach sie verlangte. Nur, wie und wo sollte er beginnen?

    „Wann haben Sie zeichnen gelernt?", fragte er.

    „Danach, antwortete sie, „ich wollte wissen, wie das ist, gestrichelt zu denken. Die Welt in Linien zu zerlegen.

    Wie hatte er auch denken können, sie würde ihn schonen? Er räusperte sich, um für einen längeren Moment zu schweigen.

    „Haben Sie je einen Mann von einer Brücke fallen sehen?", fragte er dann.

    „Nein."

    „Der freie Fall ist eine schnurgerade Linie. Und am Ende dieser Linie lag er. Es war ein Toter, der mich auf diese Reise gezwungen hat. Aber das ist nichts Besonderes. Wir haben wohl alle unsere Toten. Nicht wahr?"

    War da ein leises Lauern in seiner Stimme? Sie holte tief Luft, straffte die Schultern, öffnete den Mund und schloss ihn wieder.

    Sie stieg auf ihren Hocker, ihre Hände nestelten an ihrem Hemd. Und doch, sie schien sich zu konzentrieren. Ob sie nach etwas suchte? Auch er würde sie nicht schonen.

    „Diese Stadt, fuhr er fort, „ich hielt sie nicht mehr aus. Und dieser Name: Gehmacher. Zunächst haben sie mir ja nur eine Verbindung untergeschoben. Durch das Büro. Dann aber haben sie unsere beiden Namen im Doppelpack weitergetragen. Sie haben uns zusammen in die Taschen gesteckt. In lederne Handtaschen mit Schnappverschluss, habe ich mir vorgestellt. In Brusttaschen verschwitzter Hemden. In einfache Hosentaschen, die ausgebeult an den dazugehörenden Hintern hingen. Hinter vorgehaltenen Händen, verstehen Sie, haben sie die Namen weitergereicht. Als hätten sie sich an ihnen anstecken können. Ich hätte nicht zurückkommen sollen.

    Die Frau blickte auf das Stück Kohle in ihrer Hand.

    Sie sah aus, als wünschte sie sich einen Pinsel. Haare so dünn wie Fliegenbeine. Sie wollte nicht hören, was er ihr erzählte. Das ermunterte ihn.

    „Sie haben unsere Namen durch die ganze Stadt getragen, durch alle verbliebenen Geschäfte. Durch das Schuhgeschäft am Schlossplatz, durch die Apotheke und das Lebensmittelgeschäft ein Eck weiter. Manche wagten sich ins Schmuckgeschäft. Kauften neue Batterien für ihre alten Uhren. Andere trugen ihre Uhren zum Optiker in der Marktstraße, weil sie die Zeiger nicht mehr sehen konnten. Der Sehtest dort war kostenlos. Und unsere Namen wurden zum Werbegeschenk. Arnold Gehmacher und sein Architekt."

    Sie stellte fest, dass er seinen eigenen Namen immer noch nicht aussprechen konnte. Entschlossen drückte sie das Stück Kohle auf die Leinwand und drehte es einmal um sich selbst. Ein leises Bürstgeräusch ertönte. Das Innere des Punktes kratzt, dachte sie, und dass Linien vielleicht tatsächlich imstande sind zu schreien.

    „Als die zwei Namen allein nicht mehr ausreichten, zogen sie vom einen zum anderen eine Linie und knüpften Wörter daran. Die Geschichte entstand. Als wären sie dabei gewesen. Sie bestimmten den Preis der Schieferplatten, der Südwestverglasung, der Sicherheitsanlage und der Sarnafilfolie, die das Dach abdichten hätte sollen. Sie rechneten sich eine Summe aus, die es wert war, dafür zu sterben. Verschiedene Summen waren im Umlauf, ich konnte mir eine aussuchen. Hör nicht hin, sagte Elenor."

    Die Schultern der Frau senkten sich merklich, sie drehte den Kopf. Er hatte sie nie so bezeichnet. Aber er hatte sie auch selten bei ihrem Namen genannt. Es schien ihm Jahre her zu sein.

    „Warum haben Sie nicht auf sie gehört?", fragte sie.

    „Wie hört man nicht hin?", gab er zurück.

    Sie nickte. Beim dritten Nicken blieb ihr Kopf unten. Sie drehte sich zurück. Erst vor dem Bild, oder dem, was das Bild werden sollte, hob sie ihn wieder und setzte die Kohle erneut ins Bild. Er hätte sich gern dorthin gesetzt. Ins Bild. Auch sie hatte ihn nie wirklich angesehen. Er dachte an den Magritte im Wohnzimmer. Eine einsame Pappel. Und eine Kugel darunter. Er sah auf seine Hände.

    „Sie sind Architekt, fragte der Metzger, als er das Fett von meinen Hühnerbrüsten löste. Ab diesem Zeitpunkt kaufte ich im Supermarkt ein. Das hat auch andere Vorteile, sagte ich mir. Genügend Parkplätze. Und ein Geldautomat. Als ich das erste Mal dort einkaufte, habe ich das Geld im Schlitz stecken lassen. Jemand hatte mich gegrüßt. Mit Namen. Siebzig Euro für ein Grüß Gott mit meinem Namen. Das Grinsen war umsonst gewesen."

    Sie hielt die Kohle viel zu fest. Elenor hatte ihm die Todesanzeige entgegengehalten. Es war kein Foto in der Anzeige erschienen. Nur der Name. Und sie hatte ihn sich gemerkt.

    Er sah sich um. Die beiden Fensterscheiben zur Straße hin waren aus Muschelglas. Ornament, Kathedral weiß, glaubte er. Ebenso wenig, wie er von draußen hereinsehen hatte können, konnte er jetzt hinaussehen. Er könnte ahnen, wenn es da etwas zu ahnen gäbe. Sein Blick blieb am Sims des rechten Fensters hängen. Ein Gefäß aus Messing stand dort, Zweige in einem Kerzenständer. Sie waren von hier nicht zu erkennen.

    „Da haben Sie alles aufgegeben? Wegen eines Siebzigeurolächelns?"

    Sie biss sich auf die Lippen. Um nichts in der Welt hatte sie ihn unterbrechen wollen.

    Wie sollte er ihr erklären, was nicht zu erklären war? Wie er manchmal versucht gewesen war, an seinem eigenen Bett ein Namensschild anzubringen. Weiß, mit einem schlichten

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