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DIE CAPELLA-SINGULARITÄT
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eBook334 Seiten4 Stunden

DIE CAPELLA-SINGULARITÄT

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Über dieses E-Book

Aus Handelspartnern werden Gegner. Aus einer freien Gesellschaft wird ein totalitäres Regime. Nach Jahrhunderten des Friedens rüstet das Sol-System auf, um der Bedrohung durch das Kaiserreich Jia zu begegnen. Das Gleichgewicht der Kräfte gerät aus den Fugen und die totale Vernichtung droht. Und dann tritt ein weiterer Gegner auf den Plan, den keine der beiden Parteien auf dem Schirm hatte. Plötzlich liegt nicht weniger als das Schicksal der Menschheit in den Händen einer kleinen Gruppe von Deserteuren, die das scheinbar Unmögliche wagen und durch die Singularität gehen. Eine abenteuerliche Jagd durch Raum und Zeit beginnt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum8. Juni 2021
ISBN9783347189577
DIE CAPELLA-SINGULARITÄT
Autor

Ruben Schwarz

Ruben Schwarz wurde 1955 im Herzen des Ruhrpotts geboren und ist seiner Heimatstadt Essen sechzig Jahre lang treu geblieben. Heute lebt der ehemalige Medienkaufmann im Bergischen Land. Inspiriert durch Werke großer schreibender Vorbilder fühlte er sich irgendwann bereit dazu, selbst seine Geschichten aufzuschreiben. Von ihm wurden mittlerweile eine ganze Reihe Thriller und einige Science-Fiction-Romane veröffentlicht.

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    Buchvorschau

    DIE CAPELLA-SINGULARITÄT - Ruben Schwarz

    DIE CAPELLA-SINGULARITÄT

    Ruben Schwarz

    Prolog

    Wenn ich meine Dehnungsübungen mache, mag es für Außenstehende Anlass zur Heiterkeit sein. Es ist eine Kombination aus Hüpfen, Yoga und Sit-ups, und ich merke dabei, dass ich eigentlich noch ganz gut in Form bin. Dieses Herumzappeln, wie Clive es mal genannt hat, ist notwendig, um den Blutkreislauf der alten Dame wieder in Gang zu bringen. Außerdem dient es der Regeneration der Muskulatur, die im Moment geradezu schockiert ist, wenn nach der langen Ruhezeit plötzlich wieder Leistung von ihr erwartet wird.

    Nicht, dass der Tiefschlaf für das Herz ein ernsthaftes Problem dargestellt hätte; es ist schließlich schon mein drittes mit einem bionischen Taktgeber. Die gerinnungsfreie Substanz, die über Jahrhunderte anstelle des üblichen Blutplasmas meine Gefäße elastisch gehalten hat, hatte es möglich gemacht, den Körper ohne aktiven Stoffwechsel bei einer Temperatur von minus zweiundachtzig Grad Celsius am Leben zu erhalten.

    Warum ich mich vorzeitig habe wecken lassen? Nun, es ist schon allein wegen der Stille an Bord des im freien Fall befindlichen Schiffs lohnend, die ich brauche, um mit der nötigen Konzentration den Aufzeichnungen im Logbuch ein paar persönliche Ergänzungen hinzuzufügen. Während ich schreibe, weiß ich natürlich nicht, ob jemals ein Mensch oder irgendein anderes denkendes Wesen, das fähig ist meine Aufzeichnungen zu entschlüsseln, dies jemals auch tun wird.

    Ich weiß auch nicht, wann es geschehen wird, und noch viel weniger wo. Vielleicht findet auch nie jemand meinen Bericht, oder es interessiert sich niemand dafür. Möglicherweise wird auch das Schiff mit allen Menschen und Daten an Bord irgendwann in der langen Zeit des Wartens von einem unbekannten Angreifer zerstört, der zufällig unseren Weg kreuzt.

    Ich weiß nur, dass ich nicht mehr am Leben sein werde, wenn meine Mitreisenden programmgemäß aus dem Kälteschlaf erwachen. Denn meine Lebenszeit ist begrenzt. Du, lieber Leser, der du ja nun offensichtlich meine Daten in Händen hältst, oder besser gesagt auf deinem Visor betrachtest, wirst fragen, wessen Lebenszeit ist das nicht? Und damit hast du natürlich recht. Ich werde es anders formulieren - meine Tage sind gezählt.

    Aber ich sollte weiter vorn anfangen, sonst verstehst du mich nicht. Du, der oder die jetzt vielleicht gespannt oder stirnrunzelnd (vielleicht ungeduldig mit den Augen rollend) darauf wartest, dass ich endlich konkreter werde, bevor du dich abwendest oder sogar alles löschst, du hast ein Recht darauf. Es ist schließlich in meinem Interesse, dass die Erinnerung an die Geschichte der Menschheit nicht in Vergessenheit gerät. Vielleicht wird mein Bericht von anderen Vertretern meiner Spezies gefunden, die irgendwo in der Unendlichkeit einen unentdeckten und sicheren Winkel gefunden haben, um den Sturm der Vernichtung zu überstehen, die Ergreifung der Macht durch die nächste Evolutionsstufe.

    Ich wäre sogar schon froh, wenn überhaupt noch irgendwo organische Lebensformen existierten, völlig egal ob eure Körper nun von Fell, Schuppen oder Gefieder geziert werden. Dann nämlich hätte sich unsere Mission wenigstens ein bisschen gelohnt.

    Mein Name ist Chiara. Das sollte fürs Erste reichen. Wir reden uns hier an Bord schon lange nur noch mit den Vornamen an. So lange, dass einige ihren Nachnamen bereits vergessen haben. Ich bin seit … Moment, ich checke die Bordzeit … seit sage und schreibe einhundertfünfundsiebzig Jahren mit diesem Schiff unterwegs.

    Das ist allerdings nur bedingt richtig, denn korrekt sind es nur einhundertfünfundsiebzig Jahre, die ich in lebendigem, wachem, bewusstem Zustand auf diesem Schiff verbracht habe. Meine Eltern hätten gesagt einhundertfünfundsiebzig Dekaden, aber im Sol-System wurde für die Zeiteinteilung noch immer traditionell die Spanne zugrunde gelegt, die Terra für einen Sonnenumlauf benötigt.

    Wie lange ich mich tatsächlich, die Kryostase eingeschlossen, innerhalb dieser Biosphäre befinde, behalte ich einstweilen für mich. Das schockiert dich sonst nur.

    Als Mam und Pap mit mir zusammen die Flucht ins All ergriffen haben, bin ich acht oder neun Jahre alt gewesen, wenn die Aufzeichnungen stimmen.

    Meine Organe, Gefäße und Gelenke, die zum größten Teil bioplastisch repliziert wurden, und dazu regelmäßige Zellduschen verleihen mir das äußere Erscheinungsbild einer einigermaßen guterhaltenen Mittfünfzigerin, und eigentlich hätte ich noch locker fünfzig weitere gesunde Jahre dranhängen können, wenn nicht … Ja, wenn nicht dieses verfluchte Taubenei direkt in der Mitte meines Schädels wäre, das sich schon vor Jahren dort eingenistet hat. Laut Medoanalyse sitzt das Drecksding direkt neben dem Hörzentrum, irgendwo am Schnittpunkt zwischen dem sensomotorischen Bereich und der Region, die für die akustische Assoziation verantwortlich zeichnet. Und dummerweise kann man dem Übeltäter weder durch Laserchirurgie noch durch Nanosonden auf den Leib rücken. Das Taubenei wächst exponentiell. Bis daraus ein Hühnerei wird, das aus mir eine mit Drogen vollgepumpte Idiotin macht, werde ich nicht abwarten.

    Beschwerden habe ich bisher keine, wenn man von der Tatsache absieht, dass menschliche Stimmen ab einer gewissen Lautstärke in meinen Ohren ein metallisches Klirren erzeugen, als würde jemand eine Handvoll Nägel auf eine Stahlplatte fallen lassen. Aber daran kann man sich gewöhnen. Einigermaßen jedenfalls.

    Meine Prognose lag zum Beginn der letzten Kryostase bei sechs bis acht Monaten. Im Kälteschlaf der letzten Jahrhunderte (Ups! Jetzt hätte ich beinahe zu viel verraten) war die Entwicklung des Tumors selbstverständlich im wahrsten Wortsinn auf Eis gelegt, und im gefrorenen Zustand wäre ich vermutlich unsterblich. Nur was bringt mir die schönste Unsterblichkeit, wenn ich nichts davon mitbekomme?

    Um das hier klarzustellen, ich will kein Mitleid von dir. Das ist nicht der Grund, warum ich das alles erzähle. Mit dem Gedanken an meinen baldigen Tod habe ich mich längst abgefunden. Vielleicht kann man sogar sagen angefreundet. Denn im Prinzip habe ich alles erlebt, was man so erleben kann. Glaube ich zumindest. Und ehrlich gesagt habe ich auch keine große Lust mehr, ewig so weiterzumachen.

    Zur Erde zurück will ich jedenfalls nicht. Niemand hier an Bord hat auch nur die Spur einer Ahnung davon, wie es dort heute aussehen mag. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist unüberschaubar. Und zu weiteren Abenteuern bin ich einfach nicht mehr bereit. Meine Mitreisenden werden es wahrscheinlich erleben. Wenn sie aufwachen, werden sie nach Terra fliegen und sich der Realität stellen, wie immer sie auch aussehen mag. Ich werde nicht dabei sein. Ich habe für jeden von Ihnen eine persönliche Nachricht hinterlegt und hoffe, dass sie mich verstehen.

    Geboren bin ich auf einem Planeten, der knapp 28 Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Wie es dazu kam, will ich hier gar nicht weiter ausführen. Ich will dich nicht langweilen, und vielleicht komme ich später noch dazu, wenn du meinen Bericht liest. Ich muss an der Stelle einbauen, dass mein Bericht aus Gedächtnisprotokollen besteht. Du weißt selbst, dass heutzutage niemand mehr ein Blatt Papier in die Hand nimmt, um aus einzelnen Schriftzeichen Wörter und Sätze zu bilden. Der Bericht besteht aus akustischen und optischen Signalen, die der Visor in deinem Kopf zu telenotisch generierten Geschichten formt, so als wärst du selbst dabei gewesen und könntest die Geschehnisse mit eigenen Augen und Ohren miterleben. Wenn ich also hier vom Schreiben und vom Lesen spreche, dient das nur der Vereinfachung. Eine begriffliche Vereinbarung zwischen uns beiden, die wir gleichermaßen zu deuten wissen.

    Aber was rede ich, du weißt das alles selbst viel besser als ich, denn du lebst in der Zukunft. Du bist jemand, der nach mir folgt, vielleicht in hundert Jahren oder vielleicht in tausend. Und deine technischen Möglichkeiten werden aller Wahrscheinlichkeit nach den meinen um Lichtjahre voraus sein, wenn du mir diesen immer wieder falsch verwendeten Begriff verzeihen willst, denn wir alle wissen, dass ein Lichtjahr eine Entfernungseinheit und keine Zeitspanne ist.

    Die Bewohner des Planeten, auf dem ich geboren bin, waren Menschen. Angehörige meiner Spezies, die dort gesiedelt hatten, und die es vermutlich schon lange nicht mehr gibt. Ebenso wenig wie die Menschen auf der Erde. Obwohl ich die Hoffnung habe, dass ich mich irre. Denn dafür haben wir gekämpft. Und dafür verstecken wir uns hier schon so unendlich lange. Die Bewohner selbst nannten ihren Planeten Jia, auf Terra nannte man ihn Virginis c und in den Sternenkarten trug er die Bezeichnung G 1279 c.

    Aber ich schweife ab, das alles ist für dich uninteressant. Schreibe es bitte der alten Dame zugute, deren Kopf so voller Erinnerungen steckt, dass sie manchmal Probleme damit hat, Wichtiges von Nebensächlichkeiten zu trennen. Und ich bin ja eigentlich auch nur die Berichterstatterin. Die Chronistin, die selbst an den schicksalhaften Ereignissen nur einen verhältnismäßig geringen Anteil hatte, weil sie noch ein Kind war. Also miss meiner Person keine zu große Bedeutung bei. Ich bin nur eine Nebendarstellerin in dem Stück.

    Als wir damals mit dem zum Kriegsschiff umgebauten Silicium-Frachter vom Mond aufgebrochen sind, war ich viel zu jung, um in vollem Umfang zu verstehen, was vor sich geht. Und die Eltern haben mich nach Kräften abgeschirmt. Erst viel später, damals hatte ich schon meinen ersten Sex mit Clive gehabt, mit dem ich danach viele Jahre verpartnert gewesen bin, hatte mir Jo vom schrecklichsten und wohl letzten Kampf in der Geschichte berichtet. Den Krieg hatten wir selbst verschuldet, also wir Menschen. Du hast sicher nichts anderes erwartet. Das war schließlich nicht anders als in allen anderen Kriegen zuvor.

    Ich habe in meinen Jahren auf dem Raumschiff, das offiziell keinen Namen trägt, unheimlich viele Aufzeichnungen in den Archiven gefunden. Das Schiff nenne ich für mich CHRONOS. Einige von uns haben den Namen inzwischen von mir übernommen. Früher einmal hatte es wohl PHOBOS FREIGHTER IV geheißen, so steht es noch immer in verwitterten Lettern an der Außenhülle – aber das war in einer anderen Zeit. Die von mir zusammengesetzten Aufzeichnungen sind Fragmente, die teilweise aus anderen Kontexten stammen, von unzähligen Zeitzeugen, lückenhaft, verloren gegangen, gelöscht, rekonstruiert.

    Meinen Bericht, den ich hier aus meiner Erinnerung zusammenstelle, baue ich auf den Erzählungen, Tagebucheinträgen und Protokollen von einigen Personen auf, die mir am verlässlichsten zu sein scheinen. Das ist aus meiner Sicht so am sinnvollsten, um eine halbwegs vernünftige Struktur in die Geschichte zu bringen. Allerdings habe ich auch Nachrichten, Funksprüche und Protokolle mir persönlich fremder Zeitzeugen verwendet, um das Bild abzurunden.

    Eine der Hauptpersonen ist meine Mutter, die damals seit ihrer Ankunft auf der Erde kontinuierlich Tagebuch geführt hat. Was Jo angeht, so war sie damals mit meinen Eltern eng befreundet, und für mich so etwas wie eine Tante.

    Wenn es dich interessiert, wo ich mich heute befinde, muss ich etwas weiter ausholen: Das Capella-System ist etwa 42,5 Lichtjahre von Terra entfernt. Unsere CHRONOS befindet sich in einem stabilen Orbit hundertvierundachtzig Kilometer über dem topografischen Mittel von Melisande 1, einem Planeten, der die ungefähr eineinhalbfache Masse der Erde besitzt, aber eine tote Steinwüste ist. Melisande 1 heißt der Planet deshalb, weil es noch eine Nummer 2 gibt, die uns hier aber nicht weiter beschäftigen muss. Die Umlaufbahn, der Melisande 1 im Capella-System folgt, ist mathematisch so kompliziert, dass ich Mühe hätte, sie dir aufzuzeichnen. Capella ist ein Doppel-Doppelsternsystem. Es besteht aus den Komponenten Aa und Ab sowie H und L. Aber ich sehe, das führt schon wieder viel zu weit.

    Wichtig für Melisande 1 ist, dass der Hauptstern Capella (also Aa) ein gelber Riese ist, der in geringem Abstand von einer zweiten Sonne, einem sogenannten roten Zwerg (Ab), umkreist wird. Die beiden Sonnen beeinflussen gegenseitig sowohl ihre Magnetfelder als auch ihre Strahlenspektren. Die Umlaufbahn des Planeten Melisande 1, der dem Doppelstern am nächsten liegt, ähnelt dadurch einer langgezogenen, in sich verdrehten Ellipse. Der Planet „eiert" sozusagen um seine Sonnen herum.

    Um die Sache noch komplizierter zu machen, umkreisen der eben beschriebene Doppelstern und ein weiterer Doppelstern (H und L) sich gegenseitig im Abstand von neunundvierzig Astronomischen Einheiten und in einem Intervall von dreihundert Jahren. Diese also insgesamt vier Gestirne erzeugen gemeinsam mit ihren Planeten und Monden zu bestimmten Zeiten ein solches Chaos an Magnetfeldern, dass massive und ungewöhnliche Verzerrungen der Raumzeit die Folge sind. Es handelt sich dabei um ein Wurmloch der besonderen Art, könnte man sagen. Zumindest war das der Fall, bevor wir dort eingegriffen haben, um Gott zu spielen. Ich erwähne das nur, weil es das Verständnis für die später folgenden Berichte vielleicht etwas erleichtert.

    Wenn ich nun aus dem Fenster schaue, sehe ich wie die rotbraune Wölbung von Melisande 1, verbrannt von den todbringenden Strahlen zweier Sonnen, so öde wie gewaltig und schön, nach unten aus dem Blickfeld verschwindet und die Aussicht auf das hellstrahlende Band der Galaxis freigibt, die von den Menschen früher einmal Milchstraße genannt wurde und sich wie ein ewiger silbriger Regenbogen scheinbar durch die Unendlichkeit spannt. Ein Anblick von friedlicher und hoffnungsvoller Schönheit, gebildet aus hunderten Milliarden Sonnen. Die Ahnung von einem Jenseits auf der anderen Seite des Universums, in das ich demnächst frohen Herzens reisen werde.

    A.D. 2487

    1

    Marsorbit

    Auch heute noch wurde sie gelegentlich von Albträumen heimgesucht. Sie ist dann allein, steckt in einem Raumanzug, ihr Kopf nur durch die Wölbung des transparenten Helms von der luftleeren Kälte getrennt. Nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht lauert der Tod. Die weißen Schutzhandschuhe greifen ins Nichts. Sie fällt, treibt haltlos durch den schwarzen Abgrund. Kein Oben, kein Unten. Der Raumgleiter ist schon nicht mehr zu sehen. Selbst die mächtige Hülle der Neuen Welt, ihre langjährige Heimat im Weltall, schrumpft schnell zu einer spielzeuggroßen Röhre. Absolute Stille, die nur durch ihre eigenen hastigen und angstvollen Atemgeräusche durchbrochen wird.

    „Du bist verdammt mutig", hatte Borna damals zu ihr gesagt, bevor sie ihre irrwitzige Idee umgesetzt hatte, auf die Außenhülle des Gleiters zu klettern.

    „Oder dumm", hatte Jo entgegnet und damit wahrscheinlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Mut und Dummheit befruchten sich gegenseitig. Mut ist ohne eine gehörige Dosis Dummheit wahrscheinlich gar nicht möglich. Tapferkeit und Heldenmut sind nämlich gefährlich. Helden sterben meistens früh. Sie war keine Heldin und wunderte sich noch heute manchmal über ihre damalige Spontanität.

    Aber es war die richtige Entscheidung gewesen. Sie hatte das Schiff und Tausende seiner Bewohner vor dem Untergang bewahrt. Oberstleutnant Finney, der seit einigen Wochen im Auftrag der Solaren Streitkräfte den Posten eines leitenden Inspektors auf der Station einnahm, hatte das bei seiner Antrittsrede mit salbungsvollen Worten hervorgehoben, was Jo äußerst peinlich gewesen war.

    „Mut, Entschlossenheit und die Bereitschaft, im richtigen Moment über sich hinauszuwachsen, und sei das persönliche Risiko noch so groß, hatte Finney in seiner knappen abgehackten Sprechweise verkündet, „das sind die Eigenschaften, die unsere Heimat vor allen Bedrohungen von außen in Zukunft bewahren werden.

    Dabei hatte er in seiner enganliegenden dunkelblauen Uniform dagestanden, wie sein eigenes Denkmal und die Augen entschlossen in alle Richtungen blitzen lassen.

    Als Jo ins Solsystem gekommen war, hatte sie gehofft, nie mehr eine Waffe in die Hand nehmen zu müssen, was sich in Anbetracht der jüngsten politischen Entwicklungen jedoch leider kaum noch würde vermeiden lassen. Jos Desintegrator ruhte in einem verschlossenen Spind in ihrem Quartier. Es war seit Kurzem Vorschrift, dass alle Angehörigen der Solaren Flotte ihre Dienstwaffe in greifbarer Nähe aufbewahren mussten. Und sie war nun Angehörige der Solaren Flotte. Denn sie hatte einen neuen Job. Sie war rekrutiert worden. Es empfahl sich wohl nicht, es laut auszusprechen, aber man hatte ihr dabei keinen großen Entscheidungsspielraum zugestanden.

    Der Föderationsrat machte sich Sorgen. Und wer die Nachrichten verfolgte, kam wohl nicht umhin, diese Sorgen als berechtigt zu betrachten. Vielleicht wäre es übertrieben, in dem Zusammenhang von einer allgemeinen Mobilmachung zu sprechen, aber die Werften auf Luna arbeiten immerhin seit Monaten auf Hochtouren. Und es waren keine Vergnügungsschiffe, die dort in den vollautomatischen Anlagen entstanden.

    Jo lebte jetzt seit knapp sechs Jahren im Solsystem, von wo ihre Vorfahren vor Jahrhunderten ins All aufgebrochen waren. Ihr Ziel damals, ein Planet der 28 Lichtjahre von Terra entfernt lag, erschien heute nicht besonders ambitioniert, aber zum Zeitpunkt ihres Aufbruchs hatte es noch keinen Überlichtantrieb gegeben, und deshalb war es eine Reise für mehrere Generationen gewesen.

    Die Raumstation, in der Jo heute lebte und arbeitete, umrundete noch immer den Mars. Allerdings entwickelten sie in den Laboratorien nicht mehr spezielles Saatgut für den roten Planeten, dessen Terraforming inzwischen so weit gediehen war, dass Menschen dort in vielen Regionen ohne Schutzanzug leben und ihre Plantagen bewirtschaften konnten. Sie konstruierten seit Neuestem intelligente Bullets, eine Weiterentwicklung der herkömmlichen Photonenbullets, die die Sprengkraft ihrer Vorgänger bei weitem übertreffen sollten.

    Nicht wenige fragten sich, wozu das nötig war. Nun, es ging mal wieder um das Gleichgewicht der Kräfte, das sollte wohl jedem ein Begriff sein. Waffengleichheit, Abschreckung, dieses Prinzip war ja in der Vergangenheit schon oft zwischen Völkern und Staaten erfolgreich gewesen. Zumindest so lange, bis eine der abschreckenden Parteien die Abschreckung nicht mehr abschreckend genug fand. Und die Kriegsschiffe des Kaiserreichs Jia hatten nicht nur mächtige Waffen, sondern auch hochwirksame Schutzschirme, die es im Ernstfall zu überwinden galt.

    Jo war von Haus aus Biologin, also alles andere als eine Soldatin. Den Großteil ihres Lebens hatte sie auf dem Auswandererschiff Neue Welt verbracht, das vor über vierhundert Dekaden (hier sagte man dazu Jahre) von einer politisch fragilen und durch Umweltgifte verseuchten Erde aufgebrochen war, um eine neue Heimat im All zu finden. Jo gehörte zu der letzten Generation, die auf der Neuen Welt geboren worden war. Sie alle hatten nichts anderes gekannt als das Leben innerhalb einer zugegebenermaßen riesigen, aber dennoch von einer massiven Hülle aus Stahl und Kunststoff begrenzten Welt.

    Als sie sich schließlich ihrem vermeintlich unberührten Paradies genähert hatten, mussten sie feststellen, dass es besetzt war. Sie waren schlichtweg von anderen Auswanderern überholt worden. Während der langen Fahrt der Neuen Welt hatte man auf der Erde einen Weg gefunden, schneller als das Licht zu reisen. Während ihre Vorfahren in dem Raumschiff noch geglaubt hatten, ihre Kinder und Enkel würden einen unbewohnten Planeten besiedeln, hatte sich auf Virginis c längst eine fortschrittliche Zivilisation etabliert.

    Wie sich herausgestellt hatte, war dies eine martialisch geprägte Gesellschaft, ein Kaiserreich, in dem Disziplin und Askese überdurchschnittlich bedeutende Rollen spielten. Das Kaiserreich Jia pflegte Handelsbeziehungen mit dem Solsystem, hatte aber von Anfang an großen Wert auf Unabhängigkeit und diplomatische Distanz gelegt. Die Auswanderer waren in der „neuen Heimat" aufgenommen worden. So sparsam jedoch die Bewohner von Jia, wo Geschwätzigkeit als eine Art Todsünde galt, es mit der Kommunikation hielten, so knapp dosierten sie auch ihre Gastfreundschaft. Einem Teil der Auswanderer gelang es, sich erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren, viele jedoch hatte es bald nach Terra gezogen, einer Heimat, die sie nur aus spärlichen Archivaufzeichnungen der Neuen Welt kannten. Vor allem Personen, für die das Kaiserreich aufgrund ihrer Qualifikationen keine konkrete Verwendung hatte, wurde die Ausreise mit mehr oder minder spürbarem Druck nahegelegt.

    Jo hatte zu denen gehört, die relativ früh und aus freien Stücken Jia verlassen hatten. Aber bei ihr hatte das andere Gründe gehabt. Es waren Angstzustände gewesen, derer sie nur schwer Herr werden konnte. Der freie Himmel, der endlose Horizont, Wind und Regen und viele andere Einflüsse, die auf der Oberfläche eines Planeten wirkten, waren für sie dauerhaft beunruhigend gewesen. Auch nach Ablauf von zwei Jahren hatte sie sich nicht daran gewöhnen können. Vierunddreißig Dekaden innerhalb eines stählernen Kokons, auch wenn er mehrere Kilometer lang gewesen war, prägten den Menschen wie eine Wohnungskatze, die nach einem Leben innerhalb der beengten vier Wände plötzlich verstört auf der Schwelle der geöffneten Haustür steht.

    Irgendwie waren ihr derlei Ängste am Anfang peinlich gewesen. Denn offenbar waren die meisten anderen Auswanderer besser damit klargekommen. Zumindest hatten sie sich nichts Gegenteiliges anmerken lassen. Aber wer weiß. Balta jedenfalls hatte Jo gegenüber in einer schwachen Stunde eingestanden, dass sie mit Schlafstörungen und häufigen Schweißausbrüchen zu kämpfen hatte, seit sie auf Virginis c lebte. Balta war damals noch mal von Keanoo schwanger geworden.

    „Weißt du, Jo, ich wünsche mir, dass mein Kind auf der Erde aufwächst", hatte Balta zu Jo gesagt. Da war sie schon im achten Monat gewesen. Balta hatte sich dafür entschieden, das Kleine selbst auszutragen, trotz der vielen Beschwerden, die sich oft bei intrakorporalen Schwangerschaften einstellten. Längst spielte die Tatsache, dass Jo auf der Neuen Welt über einen längeren Zeitraum mit Keanoo, Baltas Mann, intim gewesen war, keine Rolle mehr zwischen ihnen. Im Gegenteil, Jo und Balta waren beste Freundinnen geworden.

    Jo erinnerte sich, wie sie neben Balta auf der Veranda ihres flachen Bungalows gesessen hatte. Leichter Wind hatte die Vorhänge an den großen Fenstern nach innen geweht, und die rote Sonne von Jia hatte die hügelige Landschaft mit Inseln aus Zypressen in ein beinahe goldenes Licht gehüllt. Jo hatte ihre Hand auf Baltas beträchtliche Bauchwölbung gelegt und sie mit den Fingerspitzen gestreichelt. Sie hatte das glückliche Funkeln in Baltas Augen gesehen. Schwangere Frauen liebten es offenbar, wenn ihre Kinder im Mutterleib von nahestehenden Personen liebkost wurden. Es war vielleicht dieser Moment gewesen, der die werdende Mutter und Jo endgültig zusammengeschweißt hatte.

    Wenige Tage nach Chiaras zweitem Geburtstag hatten Jo, Balta und Keanoo sich gemeinsam mit dem kleinen Mädchen an Bord des Frachters Kuáilé begeben, der das Solsystem zum Ziel hatte.

    „Woran denkst du?", fragte Stella, stützte sich auf einen Ellenbogen und richtete sich halb auf, wobei das Laken ihre kleinen Brüste freigab. Ihr Lächeln hatte verblüffende Ähnlichkeit mit dem von Keanoo, wie Jo es aus der Zeit an Bord der Neuen Welt kannte, nachdem sie sich in ihrem Quartier geliebt hatten. Die Ähnlichkeiten mit Keanoo in der Mimik, den Augen und in der Art, wie Stella ihre Mundwinkel kräuseln konnte, war nicht nur verblüffend. Beunruhigend wäre vielleicht das passendere Adjektiv gewesen, obwohl Jo natürlich wusste, dass es zur Beunruhigung keinen Anlass gab.

    Stella war eine

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