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Die Chronik der Dämonenfürsten: Mit himmlischem Beistand in die Hölle
Die Chronik der Dämonenfürsten: Mit himmlischem Beistand in die Hölle
Die Chronik der Dämonenfürsten: Mit himmlischem Beistand in die Hölle
eBook358 Seiten4 Stunden

Die Chronik der Dämonenfürsten: Mit himmlischem Beistand in die Hölle

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Über dieses E-Book

Sechzig Jahre sind seit Nehemiaels Geburt vergangen. Das sechzigste Konzil zwischen den Dämonenfürsten und den Engeln tagt, und Nehemiael muss sich gegen die Anschuldigung wehren, in seiner Krokodilgestalt zwei Abgesandte getötet zu haben: einen Engel und einen Dämon.
Um von den Vorwürfen freigesprochen zu werden, muss er mit Verbündeten, bestehend aus einem Dämonenfürsten, einem einfachen Dämon, einem Engel und einem Menschen, die seine Unschuld beteuern, vor Luzifers Thron treten.
Wird es ihm gelingen? Und wird man herausfinden, wer wirklich hinter diesen Morden steckt?
Mit Vincent an seiner Seite reist er nach Island zu Großherzog Astaroth, von dem der Engel des Todes sich Hilfe erhofft. Doch dieser Trip in die Hölle soll den mittlerweile blinden Cherub emotional an seine Grenzen bringen.
Und schuld daran ist ein uraltes Gesetz.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. März 2020
ISBN9783946381785
Die Chronik der Dämonenfürsten: Mit himmlischem Beistand in die Hölle

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    Buchvorschau

    Die Chronik der Dämonenfürsten - Monika Grasl

    Prolog

    Nebel zog durch die Gassen Londons. Hastige Schritte waren hinter ihnen zu hören. Die beiden Gestalten drehten sich alle paar Sekunden um.

    Wie hektisch ihre Herzschläge wohl gerade gehen? Sind sie weit über dem Normalen? … Vermutlich.

    Der Kleinere hielt inne und drehte sich um. Er schien entschlossen, seinem Verfolger Auge in Auge gegenüberzutreten. Selbst der andere blieb schließlich stehen.

    Wer waren sie, dass sie Furcht vor dem Unbekannten verspürten? Beide stellten das Fremdartige in seiner reinsten Form dar. Warum sollten sie fortlaufen?

    Ein Scharren war zu hören. Der Größere zog einen Dolch, der im Mondlicht matt glänzte. Tief durchatmend wartete er, harrte auf den Moment, wenn der Feind sich zeigte.

    »Wir sollten weiter«, kam es jäh von dem Kleineren.

    »Angst? Du bist doch eben stehen geblieben.«

    »Mir kommt das jetzt sehr dumm vor.«

    »Mir nicht«, erwiderte der Größere.

    Das Geräusch schwerer Schritte näherte sich. Die Fackeln an den Häuserwänden spendeten kaum Licht. Aber das war auch nicht nötig. Sie sahen beide genug. Die Augen der Gestalten leuchteten auf, als sich eine Silhouette an einer Hauswand abzeichnete. Sie kam näher und gewann dabei an Schnelligkeit. Ein erneutes Scharren war zu hören – ähnlich Klauen, die über den nassen Boden kratzten.

    Der Laut hätte jeden vernünftigen Menschen dazu getrieben, die Flucht zu ergreifen. Aber sie waren keine Menschen.

    Ein Schnappen mischte sich zu dem Kratzen. Allmählich konnte man die Umrisse erkennen. Der Kleinere der Abgesandten wich entsetzt zurück, während der Größere an seinem Platz blieb. Die Finger umschlossen den Dolch fester. Das Gesicht zeigte Entschlossenheit, als sich die Hand zum Wurf hob. Doch so weit kam es nicht mehr. Der Bote wurde von den Beinen gerissen. Ein Schrei entwich dem Wesen, als es auf dem Rücken landete.

    Ein Schmatzen ertönte. Dazu mischte sich ein Gurgeln. Es war der Moment, in dem der Kleinere begann zu laufen. Drei Quergassen. Weiter müsste er nicht kommen. Dann wäre er in Sicherheit.

    Das Wesen rannte so schnell, dass seine Lunge brannte. Es dachte gar nicht daran, sich in die Luft zu schwingen. Dazu reichte sein Verstand nicht mehr aus. Es durchspülte nur mehr Panik. Furcht vor dem unausweichlichen Ende. Und es ahnte, dass es keine Gelegenheit haben würde, sein Leben zu retten. Diese Überzeugung durchflutete den Engel, als ein stechender Schmerz durch seinen Rücken zog. Er stürzte zu Boden. Der Versuch, sich aus seiner Position hochzustemmen, misslang. Etwas sprang ihn von hinten an. Er konnte nur einen Umriss im Flackern des Lichtes erkennen. Ein Schrei entkam ihm, als sein Ohr abgebissen wurde. Der Bote brüllte sein Leid in die Nacht hinaus. Aber hier war niemand, der ihm helfen würde. Oder doch? Er hörte Rufe. Weit entfernt waren sie. Das Trampeln von Stiefeln kam näher. Ein Biss in den Nacken folgte. Er müsste tot sein, aber er war es keineswegs. Noch nicht. Sein Herr hatte noch eine Bestimmung für ihn.

    »Wer war das?«, hörte er eine tiefe Stimme fragen, während er umgedreht wurde.

    Ihm wurde auf die Wange geschlagen. Seine Augenlider flatterten heftig, als er den Mund öffnete. Ein Schwall Blut kam hervor. Erst dann fand er die Möglichkeit zu einer Antwort. Und die bestand bloß aus einem Wort: »Krokodil.«

    Seere

    Ungläubig lauschte er den ungeheuerlichen Anschuldigungen. Handelte es sich hierbei etwa um einen kranken Scherz? Es konnte nicht anders sein. Zumal Nehemiael ebenfalls aussah, als habe man ihm einen Faustschlag in den Magen verpasst. Der Einzige, der dastand, als ob ihm das alles gleichgültig sei, war Vincent. Dessen Kopf war es ja nicht, der hier auf dem ominösen Silbertablett ruhte.

    »Prinz Seere, was sagt Ihr zu diesen Anschuldigungen?«

    Was? Amymon wollte ganz bestimmt nicht wissen, wie er sich dazu äußerte. Abgesehen davon wäre er für den Großfürsten hinterher kein ernst zu nehmender Untergebener mehr. Somit starrte er Amymon weiter nur verwirrt an, während in seinem Inneren ein Gedanke Gestalt annahm: Das hier ist ein Witz. Es muss sich um einen handeln. Warum sonst sollte man Nehemiael des Mordes beschuldigen?

    »Ich …« Er brach ab. Was sollte er dazu sagen? Seine Augen huschten zu den beiden Tüchern. Darunter lagen die Leichen. Bisher hatte er sie nicht gesehen.

    Warum eigentlich? Weil er sich dann eingestehen müsste, dass Perla an allen Ecken und Enden fehlte? Dass er bei der Erziehung seines Sohnes etwas grundlegend falsch gemacht hatte? So weit, das zuzugeben, wäre er vermutlich nie.

    Seere war immer davon ausgegangen, Vincent würde ihm irgendwann Schwierigkeiten bereiten. Hiervon war jedenfalls auch Azrael vor sechzig Jahren überzeugt gewesen.

    »Prinz Seere … Wir warten«, kam es ungeduldig von Amymon.

    Worauf? Dass er seinen Sohn diesen Aasgeiern übergab, die sich Amymons Anhänger schimpften? Darauf konnte er getrost verzichten. Also, was sollte er jetzt machen?

    Sein Blick hing noch immer an den Leichentüchern. »Ich will sie sehen«, sagte er schließlich.

    »Wozu? Wollt Ihr Euch selbst davon überzeugen, dass Euer Balg sich nicht beherrschen kann? Das haben wir bereits deutlich erkannt, Prinz. Es wurde sogar von den Heilern bestätigt. Die Wunden können kaum von etwas anderem stammen.«

    Kein Geringerer als Gaap hatte sich gerade zu Wort gemeldet. Der Großfürst war Amymons Stellvertreter. Was er sagte, zählte ähnlich viel wie die Worte des Großfürsten. Die riesenhafte geflügelte Gestalt überragte die Anwesenden. Ihr Blick war feindselig und sagte deutlich, was sie von Seeres Worten hielt: Nichts.

    »Es ist mein gutes Recht, zu sehen, was ihm hier vorgeworfen wird. Das wis…«

    »Vorgeworfen, Prinz Seere?« Gaap schnitt ihm das Wort ab. »Wir sind über Anschuldigungen längst hinaus. Es geht hier nur mehr um das Strafmaß. Also maßt Euch nicht an …«

    »Genug!«, fuhr Amymon dazwischen. Seine Augen richteten sich kurz auf Nehemiael. »Es mag Euch vermessen vorkommen, Gaap, aber der Prinz hat keinesfalls unrecht. Zeigt es ihm.«

    »Mein Herr, Ihr solltet bedenken …«

    »Sofort, Gaap!«

    Aus dem Augenwinkel bemerkte Seere, wie Vincent unter der Lautstärke zusammenfuhr. Was der Engel des Todes wohl in solchen Momenten von den Dämonenfürsten hielt? Ob er sie alle verabscheute? Wenn dem so wäre, würde er ihm keinen Vorwurf machen. Es gab Sekunden, in denen es ihm nicht anders erging.

    Seine Aufmerksamkeit richtete sich zurück auf die Toten. Die Leichentücher wurden auf einen Wink von Gaap hin entfernt.

    Seere sog scharf die Luft ein. Er war zwar auf genügend Schlachtfeldern gewesen, um den Anblick einer oder mehrerer Leichen zu ertragen, auf seinen Sohn traf das aber nicht zu. Der schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund und wandte sich ab.

    Das genügte Seere als Antwort. Nehemiael war es nicht gewesen.

    »Wie sieht’s aus?«, rief Vincent quer durch den Thronsaal.

    Seere biss sich auf die Lippen. Aus zwei Gründen. Zum einen war die Frage des Engels derart unangebracht, dass Gaap den Eindruck machte, als wolle er Vincent gleich umbringen. Zum anderen konnte Seere es nur schwer leugnen: Die Wunden passten zu dem, was die Leute aus dem Bezirk Soho berichteten. Besser gesagt, was der Bote mit seinem letzten Atemzug über die Lippen brachte: Krokodil. Und in ganz London gab es davon nur eins.

    Seere konnte nicht verhindern, dass seine Augen zu Nehemiael huschten. Das blaue und das grüne Auge sahen ihm hilflos entgegen. Immer darauf bedacht, nicht die Leichen zu betrachten. Wie viel Ähnlichkeit sein Sohn doch mit Perla hatte. Stur und doch verletzlich. Und keiner von beiden konnte sich das je eingestehen.

    »Ist es so beschissen, dass keiner von euch den Mund aufbringt?«, erschallte Vincents Stimme erneut.

    »Mein Großfürst, ich verstehe nicht, warum er hier ist. Er gehört weder zu Euren Untergebenen, noch hat er etwas hiermit zu schaffen. Wir waren uns doch einig …«

    »Beschreibt es ihm, Prinz.«

    Amymon war dazu übergegangen, seinen Stellvertreter zu ignorieren. Das war bedenklich. Wenn auf Gaaps Worte keine angemessene Reaktion von ihm folgte, lag etwas im Argen. Hielt Amymon nicht allzu viel von den Anschuldigungen? Das würde jedoch die Frage aufdrängen, warum Gaap den Umstand nicht bedacht hatte? War er so von der Vorstellung, Nehemiael könnte ein Mörder sein, überzeugt, dass sein Hirn keine andere Möglichkeit zuließ?

    Wenn Seere ehrlich zu sich war, erging es ihm nicht besser. Würde er seinen Sohn nicht kennen, wäre ihm eine solche Tat durchaus zuzutrauen. Er war unterrichtet im Kampf. Von ihm, von Vincent und sogar von Amymon persönlich. Er besaß das nötige Rüstzeug, um zu töten. Aber so?

    »Es … Einem der Boten wurde die Kehle herausgerissen. Der andere …«

    »Welchem?«, unterbrach ihn Vincent.

    Verständnislos starrte er den Engel an. »Was macht das für einen Unterschied?«, fragte Seere dann.

    »Keinen großen. Trotzdem, sag schon.«

    »Dem Dämon. Dem Engel wurde ein Ohr abgerissen. Er hat auch Bisswunden im Nacken.«

    Vincent lehnte nachdenklich an einer Säule, als er überzeugt sagte: »Er ist also geflohen. Das heißt, sie sind vorher stehen geblieben und haben sich wahrscheinlich umgesehen. Kann nur bedeuten, dass ihnen jemand gefolgt ist.«

    »Wirklich?«, kam es sarkastisch von Seere.

    Was sollte diese verdammte Erkenntnis bedeuten? Das Nehemiael schuldig war? Wollte Vincent das damit sagen?

    Seere kam nicht dazu, seine Ansicht diesbezüglich zu äußern, da Vincent jäh anfügte: »Ich würde mir mal überlegen, warum sie es taten? Sie müssen geahnt haben, dass eine Gefahr auf sie lauert. Oder sie wollten den Verfolger selbst stellen. Das trifft auf Boten eher zu.«

    »Das ist doch lächerlich«, murrte Gaap. »Wir wissen bereits, was sich zugetragen hat.«

    »Ach ja? Und warum sind die Boten allein unterwegs gewesen von hier nach Soho? Hattet Ihr keine Leute übrig, Gaap?«, lästerte Vincent.

    »Will man jetzt etwa mir die Schuld dafür geben? Ich bin es nicht, der sich nicht zurückhalten kann.«

    »Und ich kann Euch versichern, dass es nicht mein Sohn war. Er war nicht einmal in der Nähe von Soho. Und das letzte Mal, dass er jemanden gebissen hat, ist gute fünfzig Jahre her. Abgesehen davon wäre es Eure Pflicht gewesen, den Boten jemanden zur Seite zu stellen, der sie sicher in die Herberge bringt. Das habt Ihr verabsäumt, Gaap! Also …«

    »Das reicht jetzt, Prinz!«, fuhr Amymon dazwischen. »Damit macht Ihr Euch nicht gerade beliebter. Abgesehen davon löst es unser gegenwärtiges Problem nicht. Die Regenten beabsichtigen in London zusammenzutreffen. Ein für alle Mal sollen die Herrschaftsverhältnisse geklärt werden. Das wurde mit dem Tod der beiden Abgesandten zunichtegemacht. Das Konzil hatte seit sechzig Jahren bestand. Ich bin nicht gewillt, einem der Könige – und schon gar nicht Luzifer – zu erklären, warum dies nun nicht mehr so ist.«

    »Ihr könnt ihn nicht für etwas verurteilen, das er nicht begangen hat«, beharrte Seere.

    Er sah, wie Amymon sachte nickte. Er hatte ihn auf seiner Seite. Aber würde sein vermaledeiter Gönner diesmal auch offen sprechen? Oder endete alles wie die letzten Male. Dass er nur auf sein Gefühl vertrauen konnte? Das würde heute definitiv zu wenig sein.

    »Wo hast du dich letzte Nacht aufgehalten, Nehemiael?«

    »In meinem Zimmer«, erwiderte sein Sohn schnell.

    Der Großfürst stieß ein Seufzen aus, als er fragte: »Darf man davon ausgehen, dass es keine Zeugen dafür gibt?«

    »Nein, die gibt es nicht.«

    »Und Ihr, Vincent?«

    Der Engel wandte den Kopf in Gaaps Richtung. Ein Grinsen zeichnete sich auf dem Gesicht ab.

    Seere ahnte bereits Schlimmes. Aber mit dem, was jetzt kam, hatte er nicht gerechnet.

    »Warum? Glaubt Ihr, ich bin mit einer Krokodilklaue durch die Gegend gerannt und hab ein paar Boten aufgeschlitzt? Ja sicher doch … Dann habe ich dem einen das Ohr abgebissen und beim anderen dachte ich mir, ich schmeiß mal mit seiner Kehle durch die Gegend. Was stimmt nicht mit Euch, Gaap? Seid Ihr als Kind zu oft auf den Kopf gefallen?«

    »Vincent!«, wies Seere den Cherub zurecht.

    »Was? Ich lasse mir doch nicht was unterstellen, das aus der Luft gegriffen ist.«

    Seere wollte bereits zu einer scharfen Erwiderung ansetzen, als Nehemiael einwarf: »Wie kann ich Euch von meiner Unschuld überzeugen, Amymon? Bitte. Ich war es nicht. Ich wäre nie zu so was fähig. Ja, ich habe früher den einen oder anderen gebissen – vorwiegend Vincent. Aber ich habe nie einem Abgesandten meine Gestalt gezeigt. Ganz zu schweigen davon, dass ich als Krokodil durch die Straßen von London laufe. Also bitte sagt mir, wie ich Euch überzeugen kann.«

    »Luzifer.«

    »Was?«, fragte Nehemiael verwirrt.

    Seere ahnte die Erklärung bereits, und er hielt es für den größten Fehler. Andererseits blieb seinem Sohn nichts anderes übrig. Es war besser, als ihn am Galgen baumeln zu sehen. Oder schlimmer noch, wenn er verbrannt wurde. Das war die weit häufigere Strafe bei Dämonen. Und etwas anderes war Nehemiael in den Augen der Dämonenfürsten nicht: ein Dämon. Noch dazu ein Mischling, der seit seinem dreißigsten Lebensjahr äußerlich nicht mehr alterte. Seine Mutter war zwar angesehen gewesen. Auf Nehemiael traf das jedoch weniger zu. Zumal er sich mit seinem überheblichen Verhalten in den letzten Jahren keine Freunde gemacht hatte. Das erklärte auch, warum er die meiste Zeit über im Buckingham Palace unterwegs war. Hier gab es niemanden, der sich an seinem Verhalten störte. Und falls sich doch mal einer beschwerte, war es zumeist Vincent. Darin, Nehemiael in die Schranken zu weisen, war der Engel des Todes begabter als Seere. Er hatte ihm in jungen Jahren zu viel durchgehen lassen, und das war gerade dabei, sich zu rächen.

    »Du musst Luzifer von deiner Unschuld überzeugen. Dafür musst du vor seinen Thron treten mit Anhängern des Himmels und der Hölle. Mit einem mächtigen Dämonenfürsten, einem Engel und einem einfachen Dämon. Ein Mensch wäre zudem gut. Sie müssen für dich bürgen. Und du musst alle von dir und deiner Unschuld überzeugen. Aber Decarabia und Chris kannst du von deiner Liste streichen. Du musst Fremde für dich gewinnen. Das bedeutet, du musst eine Reise antreten, wirst dich gegen gefährliche Gegner behaupten müssen. Aber wenn du der Sohn deines Vaters – und vor allem der deiner Mutter – bist, wird es dir gelingen.«

    Seere musste bei den Worten schlucken. Eines war bei Amymons Worten deutlich geworden. Er würde seinen Sohn unmöglich begleiten können – und seine Legionen auch nicht. Wie sollte er dann sichergehen, dass Nehemiael nichts zustieß? Seine Augen huschten umher und blieben schließlich an einer bestimmten Gestalt hängen. »Darf er jemanden mitnehmen?«

    »Vater, ich brauche keine Hilfe. Ich bin erwachsen. Außerdem kann ich mit Waffen umgehen, also …«

    »Es wäre zu empfehlen«, unterbrach Amymon Nehemiael. »Habt Ihr als Begleitung schon irgendwen im Auge?« Dabei folgte der Großfürst Seeres Blick.

    »Ich denke schon«, erwiderte der Prinz.

    »Dann soll es so sein«, stimmte der Großfürst zu und nickte sachte. »Du machst dich unverzüglich auf den Weg, Nehemiael. Du wirst die Hilfe, die dein Vater dir zur Seite stellt, annehmen. Machst du es nicht, wirst du daran gehindert werden, die Stadt zu verlassen, bis du dich eines Besseren besinnst. Also streite nicht mit deinem Vater. Ich bin mir sicher, deine Mutter hätte in einer solchen Situation nicht anders reagiert. Und jetzt geh, bevor ich meine Entscheidung überdenke.«

    Nehemiael machte einen verwirrten Eindruck. Erst recht als Seere ihn am Arm packte und aus dem Thronsaal zerrte. Hinter sich hörte er, wie Amymon ein lautes Räuspern ausstieß.

    »Prinz, Ihr solltet noch jemanden mitnehmen.«

    »Was? … Ach so. Vincent, wir gehen.«

    Der Engel setzte sich nur langsam in Bewegung.

    Die kommende Unterhaltung sehnte Seere nicht gerade herbei. Vor allem weil er sich die Ablehnung bereits deutlich vorstellen konnte.

    Vincent

    »Nein!«, keifte er sofort.

    Was hatte er verbrochen? Waren die letzten Jahrhunderte nicht schon schlimm genug gewesen? Er hatte doch mehr als einmal den Idioten gespielt. Ihm war es nicht mal erspart geblieben, als Hund durch die Gegend rennen zu müssen. Er hatte auf Perla aufgepasst, als die vor vielen Jahren in den Untergrund eingeschleust wurde. Bei so mancher Gelegenheit wäre er beinahe umgebracht worden. Und jetzt das! Er sollte Nehemiael auf seiner Reise begleiten, die ihn noch dazu in die Hölle führen würde? Einen Ort, dem er einst einzig mit Azraels Hilfe entkommen war. Wie stellte sich Seere das vor? Er strahlte ja eine gewisse Sicherheit aus, obwohl er nichts mehr sah. Aber diese beschränkte sich auf London. Wobei er sich da auch überwiegend auf seine Nase verließ.

    »Vincent, du hast doch gehört, was Amymon sagte … Ich kann nicht mit ihm kommen. Somit kann ich ihm auch keine meiner Legionen mitgeben. Aber du als fähiger und weit gereister Engel, könntest ihm …«

    »Schieb dir deine Schmeicheleien sonst wohin, Seere! Hast du mal daran gedacht, dass ich was anderes vorhaben könnte? Oder dass ich auch noch ein Leben habe?«

    »Welches?«, kam es ungerührt zurück.

    Vincent starrte in die Richtung, aus der Seeres Stimme erklang. Er war kurz davor, den Mund aufzumachen, als er innehielt. Welches? Die Frage war nicht unbegründet. In den letzten sechzig Jahren hatte er ein regelrechtes Einsiedlerverhalten an den Tag gelegt. Abgesehen von einem Abstecher nach Island. Aber daran wollte er jetzt nicht denken.

    Was hielt ihn also hier fest? Eine Frau war es nicht, und seine Arbeit hatte bisher darin bestanden, Nehemiael so weit wie möglich über die Dämonenfürsten und Engel zu unterrichten. Dazu kamen gelegentliche Schwertübungen und hier und da eine Unterweisung im Umgang mit den freien Menschen. Also warum wehrte er sich so gegen diese Reise? Die Antwort lag auf der Hand. Es würde nur einen Dämonenfürsten geben, zu dem sie gehen konnten, und den würde er bei seinem Glück nicht mehr loswerden.

    »Verstehst du denn nicht?«, drängte Seere. »Irgendwer versucht Nehemiael das anzuhängen. Ich werde von hier aus nichts unversucht lassen, um herauszufinden, warum, aber vor allem, wer einen Grund dazu besitzt. Doch das kann ich nicht, wenn ich mir gleichzeitig überlegen muss, ob er noch am Leben ist. Also bitte, Vincent, geh mit ihm.«

    »Ich frag mich gerade, warum mich das noch immer so verblüfft, wenn du mal bitte sagst.«

    Ein trauriges Lachen war zu hören, ehe Seere erwiderte: »Das ist wohl kaum die Zeit für deine dummen Witze.«

    »Ich wüsste nicht, wann dafür eine bessere wäre. Und wie soll das überhaupt gehen? Nehemiael wird nicht begeistert sein, dass ich mitkomme, und ich habe ehrlich gesagt auch keine Lust darauf.«

    »Vincent, du weißt, ich würde dich nicht darum bitten, wenn es nicht wichtig wäre. Und wenn du es schon nicht für mich machst, dann denk mal an Perla. Sie hätte …«

    Vincent hörte dem Prinzen schon nicht mehr zu. Die Heilerin! Seere brachte immer den Namen seiner Frau zutage, wenn er versuchte ihn von etwas zu überzeugen. Es half zumeist. Perla hatte er nie einen Wunsch abschlagen können. Ganz gleich wie banal der auch gewesen sein mochte. Doch jetzt? Es erschien Vincent falsch, sie da hineinzuziehen. Immerhin lebte sie seit zehn Jahren nicht mehr. Sie hatte ein hohes Alter erreicht für jemanden, der sich regelmäßig mit Amymon und Gaap in den Haaren lag. Irgendwann hatte ihr Herz sich dazu entschieden, nicht mehr zu schlagen.

    Ihm kam erneut in den Sinn, dass Seere es abgelehnt hatte, sie länger am Leben zu erhalten. Decarabia hätte die Verhandlungen diesbezüglich gern geführt. Der Marquis und Regent von Wien war in der Hinsicht geübt. Schließlich war Chris’ Zeit auch längst abgelaufen, trotzdem lief der noch auf der Erde herum. Mit ein paar Falten und Narben mehr, aber Azrael hatte sich breitschlagen lassen. Bei der Begegnung wäre er gern dabei gewesen.

    »Vincent?«

    Er fuhr zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte. Ein Seufzen kam über seine Lippen. Er verdankte Seere einiges. Sein Leben, seine Rückkehr in seinen alten Körper … Und nun forderte der Prinz eben etwas ein. War es also so schwer, nachzugeben und zu nicken? Für Vincent allemal. Schließlich würde sein Weg ihn wahrscheinlich nach Island führen und nach Ägypten. Amymon hatte von einem mächtigen fremden Dämonenfürsten gesprochen, also konnten sie auch zu Bael nicht gehen. Dann fehlten noch ein Engel, ein Dämon und vielleicht ein Mensch.

    »Na gut«, gab er letztlich nach. »Aber du wirst ihm das erklären. Ich höre mir das Gejammer nicht an.«

    »Gut. Pack schon mal deine Sachen zusammen. Ich klär das inzwischen.«

    Vincent war in dem Moment froh, blind zu sein. Seere mochte glücklich klingen, aber dass er es wirklich war, bezweifelte er. Seinem Sohn wurden zwei Morde vorgeworfen. Die Tötung zweier Boten. Und das zu einem Zeitpunkt, der ungünstiger nicht hätte sein können.

    Er durchquerte den Wohnbereich und tastete sich zu der Tür seines Schlafzimmers vor. Ein Gutes hatte Perlas Tod mit sich gebracht: Seine Möbel wurden nicht mehr alle paar Monate umgeräumt, um sauber zu machen. Der Staub störte ihn sowieso nicht, und er vermied es somit auch, sich in seinen eigenen Räumen zum Idioten zu machen, weil er überall dagegenrannte.

    Das erste Konzil!, erinnerte er sich wieder. An den Tag würde er ewig denken müssen. Damals, als Gabriel und Amymon aufeinandergetroffen waren. Es lag sechzig Jahre zurück. Genau Nehemiaels Alter. Aber darum ging es Vincent gerade nicht. Er musste an die Begegnung der beiden Wesen denken. Amymon, der mit seinen Legionen und seinen Untergebenen aufgetaucht war. Der Großfürst hatte sogar Perla und ihn mitgenommen. Nehemiael hatte in den Armen seines Vaters gelegen. Das Bild bekam Vincent einfach nicht aus dem Kopf. Eine Familie … Genau so hatte es ausgesehen.

    Leider war während der ersten Worte bereits klar geworden, dass jede der beiden Seiten der anderen die Schuld an der derzeitigen Lage geben wollte. Es war genauso wie vor dem Ende des Krieges gewesen. Eine kalte Stimmung, die sich erst gelockert hatte, als man beschloss, nur mehr über Boten zu verhandeln.

    Jedes Jahr trafen diese nun aufeinander. Einmal war einer der Abgesandten Merfyn gewesen. Doch davon hatte Luzifer schnell Abstand genommen. Hing vermutlich mit dem Saufgelage zusammen, das der Dämonenbote nach den Verhandlungen veranstaltete, wie er gehört hatte. Man wolle doch professionell auftreten … So zumindest Luzifers Erklärung.

    »Nein! Warum?«

    Vincent fuhr zusammen, als er die Stimme hörte. Es war schon erstaunlich, wie ähnlich man in

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