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Schattenengel: Buch 2 - Himmel
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eBook565 Seiten8 Stunden

Schattenengel: Buch 2 - Himmel

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Über dieses E-Book

»Alles okay«, wehrte Lizzie ihn heiser ab und wischte sich mit dem Handrücken das Blut von den Lippen.

»Du stirbst«, sagte er leise. Nichts daran war okay.

Nachdem Lizzie beim Einsturz des Engelsgerichtes nur knapp mit dem Leben davongekommen ist, sucht sie nun verzweifelt einen Weg zurück nach Hause. Zur Seite steht ihr dabei der Erzengel Michael, aber dessen Loyalität galt bis vor Kurzem noch seinem Vater Azrael. Inmitten der Angst um das Schicksal der Welt und ihre eigene Zukunft weiß Lizzie nicht, ob sie ihm trauen kann. Schließlich ist nicht nur Azrael auf der Jagd nach ihr …

Während zur selben Zeit auf der Erde der Engelsrat einberufen wird, hat auch Sam einen Weg in den Himmel gefunden. Vor den Augen der Engel verborgen ist er bereit, alles für Lizzies Rettung zu tun. Doch bald muss er feststellen, dass der einzig wahre Feind die Zeit ist. Denn bald wird der Engel in Lizzies Inneren ihre Seele vollends kontrollieren – und das bedeutet ihren Tod.
SpracheDeutsch
HerausgeberEisermann Verlag
Erscheinungsdatum1. Aug. 2017
ISBN9783961730261
Schattenengel: Buch 2 - Himmel

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    Buchvorschau

    Schattenengel - Sara Brandt

    hier.

    1

    Engelsstadt

    You’ll never have to feel so alone.

    Let me bring you back to the world, back home.

    Let me mend your broken soul

    The Shires – Brave

    »Wieder diese dämlichen Tore«, knurrte Sam und schlug mit seiner Faust gegen die goldenen Himmelstüren. Es konnte zwar nur ein Traum sein, dennoch war er wütend. Ohne diese Tore, ohne Asriel, wäre er nicht hier. Ohne sie müsste er jetzt nicht im Himmel nach Lizzie suchen.

    Sam verschränkte die Arme vor der Brust. Mit funkelndem Blick starrte er die verschlungenen Verzierungen an, die sich über beide Torseiten zogen, als könnten sie seiner Wut etwas entgegensetzen. Doch stumm verharrten sie in ihrer Position.

    Rechts und links standen an den Seiten der Tore zwei Löwen, die Klauen hoch zum Schlag erhoben. Sie schienen das beschützen zu wollen, was hinter den Himmelstoren lag. Doch je länger Sam diese Türen anstarrte, desto mehr hatte er das Gefühl, dass besser sie vor dem, was dahinterlag, beschützt werden sollten, nicht umgekehrt. Er konnte sich noch daran erinnern, wie Lizzie ihm von ihren Träumen erzählt hatte. Welche Angst sie empfunden hatte. Selbst bei Tag hatte sie die Furcht nie ganz abschütteln können, es war stets ein bitterer Nachgeschmack vorhanden gewesen. Auch Sam konnte es nun spüren, obwohl es das erste Mal war, dass er von den Himmelstoren träumte. Aber etwas lag hinter diesen Toren, was ihn und seine Reaktionen aufmerksam zu beobachten schien. Es lauerte auf jede Bewegung von ihm, sprungbereit. Sobald er einen falschen Zug machte, würde das sein Untergang sein.

    Tief atmete Sam ein. Vielleicht wäre es sicherer, wenn man diese Tore für immer verschlossen hielt. Wenn man sie einfach niederbrannte, selbst wenn dann nie wieder jemand in den Himmel hinein- oder herausgelangen konnte. Es war besser, als weiter mit dieser unsichtbaren Bedrohung im Nacken leben zu müssen. Es reichte, dass sie sich mit Azrael auseinandersetzen mussten.

    Kopfschüttelnd wandte er sich um. Er verspürte keine große Lust dazu, den Rest dieses merkwürdigen Traumes vor den Himmelstoren zu verbringen. Es war sein Traum, er bestimmte selbst, wie es weiterging. Wo er hinging, wen er dort traf.

    Lizzie.

    Sam schloss die Augen und lächelte. Ihr Name war in seinem Kopf, ohne dass er einen weiteren Gedanken darauf verwenden musste. Lizzie war alles, was er wollte. Sie fehlte ihm so sehr, dass es ihn beinahe mehr in den Wahnsinn trieb, als die Dunkelheit selbst. Er brauchte Lizzie, nur sie hielt ihn davon ab, vollständig den Verstand zu verlieren. Aber es war mehr als nur das.

    Er fühlte sich, als würde ihm ein Teil seiner selbst fehlen. Ein wichtiger, lebensnotwendiger Teil seiner Seele, ohne den er nicht sein konnte.

    All die Jahre, die er gegen die Wölfe gekämpft und für die Dämonen da gewesen war, hatte er versucht, sich von Lizzie fernzuhalten. Sich auf ein Leben einzustellen, in dem sie nicht vorkam. Lizzie hätte niemals Teil dieser Welt werden sollen, Teil der Gefahren, die ihn tagtäglich begleiteten. Doch er hatte sich nie wirklich von ihr lösen können. Lizzie zog ihn an, als wären sie zwei Planeten, die unaufhörlich umeinander kreisten. Sie hatte eine Anziehungskraft, der er sich nicht entziehen konnte. Und wenn er ehrlich war, dann wollte er das auch nicht. Lieber geriet er Tag für Tag in lebensbedrohliche Kämpfe, als sich auch nur einen weiteren Moment von ihr entfernt aufzuhalten. Es war an der Zeit, zu ihr zurückzukommen.

    Vor allem aber war es an der Zeit, ihr endlich das zu sagen, wofür ihm bisher der Mut gefehlt hatte. Wenn er ihr hatte sagen können, dass er ein Dämon war, wieso fiel ihm dann das andere so schwer? Im Prinzip war es klar, was in ihm vorging. Alles, was er jetzt noch tun musste, war, es Lizzie von Angesicht zu Angesicht zu sagen. Aber dafür musste er sie erst einmal finden.

    Sam wachte auf, atmete tief ein. Er schüttelte den Kopf, sah hoch in den Himmel und fuhr sich mit einer Hand durch das verstrubbelte Haar. Die ersten Strahlen der Sonne beschienen seinen Platz am See, versuchten, ihn zu wärmen. Doch es war zwecklos, sie konnten die Kälte aus seinem Körper nicht vollständig vertreiben. Und das lag nicht nur daran, dass seine Nacht furchtbar gewesen war. Vermutlich war er gerade noch rechtzeitig aufgewacht, bevor er sich in dieser Illusion hatte verlieren können. Im Augenblick erschien ihm jeder Traum von Lizzie besser, als eine Realität ohne sie.

    Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass das immerhin nur ein Traum gewesen war. Zwar hatte er sich erschreckend real angefühlt, besonders was die Ausstrahlung der Himmelstore anging, aber trotz allem war es nur ein Traum gewesen. Die Tore waren noch weit entfernt, es gab keinen Grund, sich um sie zu sorgen. Was er dagegen nicht abschütteln konnte, war die Gewissheit des Siegels im Nacken.

    Seufzend richtete er sich auf, streckte sich und knackte mit den Fingerknöcheln. Azraels Siegel war im Himmel viel deutlicher zu spüren, als er es erwartet hatte. Er konnte fühlen, dass sein Zugang zu den Schatten eingeschränkt war. Es kostete ihn wesentlich mehr Mühe, sie zu beschwören, als wären sie weiter voneinander entfernt. Probeweise bewegte Sam die Finger, rief stumm nach den Schatten, die sich am Berghang versteckten. Sie kamen zu ihm, aber nur langsam, widerwillig. Zähflüssig krochen sie über den Boden auf ihn zu, als sträubten sie sich gegen seinen Ruf.

    Er ballte die Fäuste, entließ die Schatten ruckartig aus seinem Griff und wandte sich ab. Das erschwerte die Aufgabe, Lizzie zu finden, natürlich erheblich. Wäre er im vollen Besitz seiner Kräfte gewesen, hätte er sich um Himmelswölfe oder die anderen Engel keine Sorgen machen müssen. Es wäre viel leichter gewesen, Lizzie mithilfe der Schatten aus den Fängen Azraels und damit aus dem Himmelsgericht zu befreien. Nun aber war selbst er eingeschränkt.

    Zum ersten Mal war Sam froh darüber, dass nicht nur Raphael, sondern auch die Höllenfürsten ihn trainiert hatten. All die harten Stunden, der Schweiß und das viele Blut, das er vergossen hatte, würden sich hier hoffentlich bewährt machen. Im Moment war er darauf angewiesen. Dennoch war ihm klar, dass es nicht einfach werden würde. Die Himmelswölfe waren dafür trainiert worden, Dämonen auszuschalten. Solange er nicht so einfach wie gewohnt auf seine Kräfte zurückgreifen konnte, war er wie ein gewöhnlicher Mensch. Und damit beinahe schon leichte Beute. Es war wohl das erste Mal, dass er seine Kräfte tatsächlich vermisste. Ohne die ständige Anwesenheit der Schatten fühlte er sich plötzlich verletzlich. Angreifbar.

    Er wandte sich um, ging auf den schmalen Weg zu, der den Berg hinunterführte. Er wollte keine Zeit mehr verlieren, Lizzie befand sich bereits seit einigen Stunden im Himmel. Ihre Wunden schienen zwar geheilt worden zu sein, aber er wollte es nicht drauf ankommen lassen. Was war in der Zwischenzeit passiert? War sie bereits zum Gericht gebracht, oder möglicherweise schon verurteilt worden? Bei dem Gedanken daran ballte Sam die Fäuste. Er würde sie so schnell wie möglich wieder nach Hause bringen, der Himmel war kein Ort für sie. Schon gar nicht, wenn Asriel in dem ganzen Szenario mitspielte. Bald würden sie wieder zu Hause sein. Dort würden sie einen Weg finden, mit den Ereignissen fertigzuwerden. Vielleicht konnten sie eines Tages auf diese Erfahrungen zurückblicken und diese Zeit belächeln. Eines Tages würde all das hier vorbei sein, und sie konnten wieder ein ganz gewöhnliches Leben führen.

    Mit bedächtigen Schritten folgte Sam dem Weg. Hinter ihm ging die Sonne weiter auf und beschien mit ihren tastenden Strahlen die weiße Stadt vor ihm. Sie lag nicht weit entfernt, vielleicht noch eine halbe Stunde Fußmarsch. Aus der Ferne, hoch oben auf dem Berg, hatten die Häuser größer gewirkt, bedrohlicher. Nun waren sie nur noch wenige Minuten entfernt, hatten einiges von ihrem Ehrfurcht gebietenden Glanz eingebüßt. Hoffentlich fand er dort auch das Himmelsgericht. Bisher konnte Sam es allerdings noch nicht entdecken. Jedenfalls kein Gebäude, das auch nur entfernt den Erzählungen Gabriels ähnelte. Doch selbst von hier aus sah er Gestalten, die sich zwischen den Häusern bewegten. Einer der Vorteile an Azraels Siegel war der, dass niemand den Himmel verlassen konnte. Keiner der Engel hier kannte Sam. Der Einzige, vor dem er sich in Acht nehmen musste, war der Herrscher des Himmels selbst. Azrael würde ihn wiedererkennen, daran bestand kein Zweifel, besonders nach der Begegnung bei Raphaels Haus. Asriel würde ihn ebenfalls nicht vergessen haben.

    Bei der Erinnerung an die kalten, grauen Augen, die ihm aus Lizzies Gesicht entgegengestarrt hatten, ballte Sam die Fäuste. Was hatte ihr der Engel in der Zwischenzeit angetan? Es war klar, dass sie den Pakt mit Lizzie nicht aus reiner Herzensgüte eingegangen war, aber mehr wussten sie nicht. Sobald sie zurück auf der Erde waren, würden sie einen Weg finden müssen, Asriel aus Lizzies Körper zu vertreiben. Oder ihre Seele zumindest so weit zu versiegeln, dass sie keinen Schaden mehr anrichten konnte. Wenn man eine ganze Welt abriegeln konnte, musste das auch mit einer Engelsseele möglich sein. Es war Raphael schon einmal gelungen, Asriels Seele von ihrem Körper zu lösen. Wenn einer einen Weg fand, das erneut zu schaffen und damit Lizzies Leben zu retten, dann war es Raphael.

    Sams Schritt wurde schneller. Möglicherweise war Lizzie noch hier, vielleicht würde er sie gerade noch rechtzeitig finden, bevor sie zum Gericht gebracht wurde. Sie muss einfach hier sein, betete er. Alles, was er tun musste, war, das Gerichtsgebäude zu finden, von dem Gabriel erzählt hatte. So schwer konnte das nicht sein, und dann würde er sich Lizzie schnappen und irgendwie mit ihr aus dem Himmel verschwinden, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie er das anstellen sollte. Vielleicht ergab sich am Weltenbaum eine Möglichkeit dazu. Da Gabbs und Azrael ein Portal öffnen konnten, konnte er es möglicherweise auch. Allerdings wüsste er nicht einmal, wo er beginnen sollte. Doch wenn es möglich war, dann nur dort, wo die Grenzen zwischen den Welten am dünnsten waren. Kein Ort eignete sich dafür besser als der Weltenbaum.

    Es kommt auf einen Versuch an. Immerhin hatte er nichts mehr zu verlieren, Azrael hatte ihm bereits alles genommen. Nun ging es nur noch darum, die Verhältnisse wieder geradezurücken, möglichst noch bevor Azrael mitbekam, dass sich Luzifers Erbe im Himmel aufhielt. Er würde nicht begeistert über die Tatsache sein, dass jemand einen Weg gefunden hatte, sein Siegel zu umgehen. Sam hoffte, dass Gabbs auf der Erde deswegen nicht in allzu große Schwierigkeiten geraten würde. Lizzies Tante war mehr als nur in der Lage, sich selbst zu verteidigen, das wusste er. Aber Dämonen auszuschalten, die unvorsichtig waren, und kriegerischen Himmelswölfen zu entkommen, waren zwei völlig verschiedene Dinge. Doch vielleicht sollte er sich lieber Sorgen um das machen, was ihm selbst bevorstand.

    Er ballte die Fäuste. Was, wenn die Engel ihn dennoch erkennen würden? Er war ein Fremder an einem Ort, an dem es keine Fremden gab. Wenn er etwas um jeden Preis vermeiden wollte, dann war es Aufmerksamkeit. Jedenfalls bis zu dem Punkt, an dem er Lizzie fand. Danach war ihm alles egal. Notfalls würde er den ganzen Himmel unter seinen Schatten begraben, selbst wenn es ihn den Rest seiner Kontrolle kosten sollte. Doch bis dahin hing von Asriels Kette, die Gabriel ihm mitgegeben hatte, sehr viel ab. Sam hasste den Gedanken, von etwas abhängig zu sein, was einst Asriel gehört hatte. Selbst wenn sie jahrelang von Gabriel getragen worden war, ohne dass etwas geschehen war. Wer wusste schon, ob diese Kette einen tatsächlich nur vor den Blicken der Engel verbarg, vielleicht richtete sie noch viel mehr an. Besonders jetzt, wo Asriel wieder da war. Sams Erfahrungen mit freundlicher Magie hielten sich bisher in Grenzen. Aber er hatte keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen. So lange er konnte, musste er unerkannt durch den Himmel gelangen. Wenn er sich nicht als Dämon zu erkennen gab, wenn niemand bemerkte, dass er Luzifers Erbe war, hatten er und Lizzie eine Chance. Nur darauf kam es an.

    Sam trat tief einatmend zwischen die weißen Häuser der Engelsstadt und sah sich um. Insgeheim hatte er erwartet, dass zumindest etwas aus den Erzählungen Raphaels den Wahn von Azrael überlebt hatte. Sam konnte sich gut an die schillernden Geschichten erinnern, die Lizzies Vater ihm erzählt hatte. Wenn Raphael von seiner einstigen Heimat berichtete, war es, als würde die gesamte Umgebung lebendig werden. Sehnsucht stahl sich in die Augen des Windengels, ein leises Lächeln lag auf seinen Lippen. Immer dann, wenn er erzählte, wie er als Kind frei und ungebunden durch den Himmel gestreift war. Raphael war dem Wind durch tiefe Schluchten hindurch gefolgt, hatte sich auf den Gipfeln der höchsten Bäume aufgehalten und dem Flüstern gelauscht. Hatte andächtig allen Geschichten zugehört, die der Wind ihm erzählte. Als würde die Luft ihn zu sich locken, während sie den gesamten Himmel erfüllte, ihm Dinge aus der Ferne mitbrachte. Lachen, Düfte und Erlebnisse, all das war verborgen in den Wellen des Sturms, im Wispern der Morgenbrise und in dem sich aufbäumenden Gewitter.

    Seit Sam ein kleiner Junge war, seit er die Geschichten Raphaels kannte, hatte er sich so den Himmel vorgestellt. Als einen Ort voller Leben und Geheimnisse, verborgener Winkel, die nur der Wind kannte. Magie, die durch die Luft tanzte, eine Welt, in der man sich nicht verstecken musste.

    Etwas so Trostloses wie das hier hatte er sich trotz Gabriels Warnungen sicher nicht vorgestellt.

    Selbst der Marktplatz mit dem weißen, plätschernden Springbrunnen wirkte starr, als wäre er aus einer Form gegossen worden. Der marmorne Löwe mit der erhobenen Pranke, unter dem das Wasser hervorfloss, war erstarrt, festgehalten in der Zeit. Weit und breit war keine Pflanze zu sehen, oder eine andere Farbe, als dieses monotone Weiß. Irritiert blieb Sam stehen. Wie hatte sich der Himmel so sehr verändern können?

    Die einzigen Farbkleckse waren die Engel, die stumm durch die Stadt gingen, mit gesenktem Kopf, als befürchteten sie, angesprochen zu werden oder Aufmerksamkeit zu erregen. Die Himmelswölfe zwischen ihnen überragten die gewöhnlichen Engel um gut zwei Köpfe. Ihre Haltung war viel strenger, sie waren sich völlig bewusst, dass sie Azraels Ehrengarde darstellten. Keiner wagte es, sich ihnen entgegenzustellen. Die meisten Engel wichen ihren suchenden Blicken aus. Niemand wollte freiwillig in den Fokus von Azraels Kriegern geraten.

    Gerade Reihen von hellen Gebäuden gingen von dem runden Platz aus, mathematisch durchdacht und perfekt ausgeführt. Kein noch so kleines Detail war außer Acht gelassen. Alles fügte sich nahtlos ineinander. Nicht einmal die weißen Säulen mit den Gaslaternen wirkten fehl am Platz, kein Stein stand am falschen Ort. So etwas hätte die Akribie der Engel niemals geduldet. Genauso wenig, wie Azrael den Einsatz von Magie duldete.

    Sam hatte die Gerüchte gehört, aber die Abwesenheit der Elemente war in dieser Stadt überall spürbar. Keiner der Engel zeigte Flügel, niemand setzte seine Kräfte ein. Es gab kein Lachen, kein Leben. Nur Angst und Regeln, die keiner brechen durfte. Die Engel wirkten verstört, aber ansonsten völlig normal.

    Wie konnte man an einem Ort wie diesem leben? Derart eingezwängt und in Form gepresst?

    Sam musste an Raphaels Haus denken, diesen fröhlichen Farbtupfer voller Leben mitten im Wald. An Raphaels freundliches Lächeln, das in seinen blauen Augen aufblitzte, die Lebensfreude, die er Sam und Lizzie stets gelehrt hatte. Raphael hatte ihnen beigebracht, dass nichts unmöglich war, solange man einander hatte. Sam dachte an Gabriel, die Musik so sehr liebte, dass sie stets um sie her erklang. Manchmal summte sie leise, nur um die Stille zu vertreiben. Sie hatte mit einer überraschend hellen und klaren Stimme gesungen, voller Sehnsucht nach einem fernen Ort, den sie niemals wiedersehen würde. In zahllosen Nächten hatte sie Lizzie in den Schlaf begleitet, als diese noch klein war.

    Sam verstand nun mit jedem Moment mehr, warum die beiden Geschwister geflohen waren. Weder Gabriel noch Raphael konnten sich hier wohlgefühlt haben. Sie schienen nicht zu diesem Ort zu gehören. Wie all die anderen Wunder wären sie im Himmel untergegangen.

    Es war, als würde ein unsichtbarer Druck auf ihm lasten, abseits vom Siegel. Dabei hatte er die Stadt gerade erst betreten. Wie musste es erst sein, wenn man hier aufwuchs? War das auch vor Azrael schon so gewesen?

    Keiner der Engel, denen Sam auf der Straße begegnete, sah glücklich aus. Alle strebten eilig in ihre Häuser und verschlossen die Tür. Sie schienen vor dem zu flüchten, was die Straße herab auf sie zukam. Kopfschüttelnd ging Sam weiter. An diesem Ort gab es nichts, was ihm Angst machen konnte. Er musste nur Lizzie finden, das war alles.

    Zumindest schien ihn niemand als Dämon zu erkennen, bemerkte er erleichtert. Was bedeutete, dass Gabriels Kette funktionierte. Das gab ihm Hoffnung. Dennoch blieb er auf der Hut. Nach dem zu schließen, was er bisher von Asriel gesehen hatte, würde er diesem Engel rein gar nichts anvertrauen. Am wenigsten sein eigenes Leben.

    Sam schüttelte den Kopf und begegnete dem Blick eines Engels, der ihn von der anderen Straßenseite mit hochgezogenen Brauen musterte. Besonders seine Kleidung. In Shirt und Jeans wirkte Sam neben den Himmelsbewohnern in ihren weißen Hemden tatsächlich deplatziert. Er sollte sich so bald wie möglich anpassen. Es fehlte ihm gerade noch, dass er wegen eines Verstoßes gegen die hiesige Kleideretikette mit den Wölfen aneinandergeriet.

    Sam lächelte den Engel spöttisch an, der sich abwandte und rasch wieder den Kopf senkte.

    Wenn er sich die Anwohner dieser Stadt so ansah, wirkten die vielen Geschichten über die furchterregenden Krieger geradezu lächerlich. Wölfe waren eine ernst zu nehmende Bedrohung, das stand außer Frage, aber Engel?

    In den Erzählungen, die unter den Dämonen kursierten, waren Engel mutige, leuchtende Gestalten. Göttern gleich fuhren sie vom Himmel herab, töteten alles und jeden, der gegen ihre Regeln verstieß. Allen voran Michael, der einst ein Ehrfurcht gebietender Krieger gewesen sein sollte. Glaubte man den Geschichten, stand er seinem Bruder Luzifer in nichts nach. Er kämpfte sich wie ein Titan durch die Dämonen, stets auf der Suche nach dem Kampf, den Luzifer ihm damals verwehrt hatte. Michaels feuerroter Schopf war schon von Weitem zu erkennen, jeder Dämon fürchtete sich vor ihm und den Engeln, die dem Feuerelementar folgten.

    Doch diese Engel aus den Legenden hatten absolut nichts mit dem traurigen Haufen gemein, der hier an ihm vorbeiging. Einige der Engel wirkten einsam und regelrecht verloren, als hätten sie sich mit ihrem Schicksal unter Azraels Herrschaft abgefunden. Falls es tatsächlich noch so etwas wie einen Widerstand gab, dann sicherlich nicht in dieser Stadt. Es gab hier niemanden, der sich dem Himmelsherrscher widersetzte.

    Was für deprimierende Aussichten.

    Aber Sam blieb keine Zeit für weitere Betrachtungen über die Engel. Er musste das Himmelsgericht finden, und damit auch Lizzie. Das war jetzt das einzig Wichtige, das Azrael im Sinn hatte, bevor das Urteil vollstreckt wurde.

    Sam schloss die Augen, konzentrierte sich auf Lizzie. Irgendwo hier musste sie sein.

    Er vertraute seinem Instinkt, ließ sich von seinem Gefühl leiten. Schon als sie noch klein waren, hatte ihn dies stets zu ihr geführt, als wären sie über ein unsichtbares Band miteinander verbunden. Diese Fähigkeit würde ihn im Himmel nicht im Stich lassen, Siegel hin oder her. In einem Leben, das schon lange zurücklag, hatte er ihr an ihrem Geburtstag versprochen, dass er sie überall und jederzeit finden würde.

    Sam wandte sich nach rechts, ging gedankenverloren die Straße entlang, die links und rechts von weißen Säulen gesäumt war. Er folgte einem Gefühl, welches er nicht erklären konnte, aber das ihn noch nie in die Irre geführt hatte.

    Das penetrante Weiß der Stadt reizte ihn, dieser billige Versuch, Azraels Schreckensherrschaft zu kaschieren. Am liebsten würde er diesen Ort auseinandernehmen, Stein für Stein, die Fassade herunterreißen und die Engel anbrüllen, sich das nicht länger gefallen zu lassen. Sie ließen zu, dass über ein junges Mädchen gerichtet wurde, dessen Namen sie nicht einmal kannten. Lizzie hatte für sie keine Bedeutung, höchstens die Seele, die sie noch in sich trug. Was mit ihrer eigentlichen Seele geschah, mit ihrem Körper, interessierte niemanden.

    Genauso wenig sollte Sam sich für die Probleme der Engel interessieren, sie gingen ihn nicht das Geringste an. Es konnte ihm egal sein, ob die Engel sich mit Azrael wohlfühlten oder nicht. Was spielte es für eine Rolle, was hier oben im Himmel geschah? Er konnte nichts dagegen tun, selbst wenn er es wollte. Er durfte nicht auffallen. Sobald er seine Kräfte rief, würde jedem klar sein, wer er war. Nur zu gut erinnerten sich die Engel an Luzifers verheerende, wenn auch beeindruckende Kraft, selbst hier oben. Besonders Michael wäre interessiert daran, den Erben Luzifers in die Finger zu bekommen, immerhin gab es noch eine alte Rechnung zu begleichen.

    Sam blieb stehen, als ihn etwas an der Säule vor ihm aus seinen Gedanken riss. Es war etwas, das dort nicht hingehörte. Etwas, das nicht Teil dieser Welt war.

    Ein Zettel hing an dem weißen Stein. Die untere linke Ecke löste sich bereits, wehte leicht im sanften Wind, als riefe sie Sam zu sich. Er erstarrte, ein Schauder lief ihm über den Rücken.

    Achtung!, stand in großen, dicken Buchstaben über dem Bild von Lizzie.

    Plötzlich spielten die Engel und diese Stadt keine Rolle mehr, waren einfach ausgeblendet. Nur dieses Bild zählte. Das war hier im Himmel das erste Zeichen von ihr. Ein Beweis dafür, dass Lizzie tatsächlich hier war, dass sie noch lebte und sein Gefühl ihn nicht getrogen hatte.

    Mit zitternden Fingerspitzen strich Sam über ihr erschrocken aussehendes Gesicht. Lizzie hatte einen blutigen Kratzer auf der Wange. Sie wandte sich halb dem Betrachter zu, als würde sie einen Blick über ihre Schulter werfen. Das Foto musste im Himmel aufgenommen worden sein, Sam kannte es nicht. Lizzie hasste Fotos von sich ohnehin, das hatte sie immer getan. Dieses Bild musste ohne ihr Wissen aufgenommen worden sein, wie das Bild damals bei dem Grillfest. Instinktiv griff er an seine hintere Hosentasche und fühlte das vertraute Gewicht seiner Brieftasche. Ihr Foto war noch bei ihm.

    Erleichtert lächelte er.

    Sie hatten in dem Garten hinterm Haus ein Lagerfeuer angezündet, zu dem viele Arbeitskollegen von Raphael gekommen waren. Und natürlich auch Gabriel, die fotografiert hatte. Dafür hatte sie wirklich Talent. Die besten Bilder von Lizzie waren stets die gewesen, bei denen sie sich unbeobachtet gefühlt hatte. Gabriel schien zu spüren, wann dies der Fall war – und wann Lizzie argwöhnisch nach jemandem mit Kamera Ausschau hielt.

    Auf einer der Aufnahmen saß er neben Lizzie. Es war eines der wenigen Male gewesen, in denen er sich vor seinen Pflichten als Luzifers Erbe drücken und einfach nur Sam hatte sein können. Er hatte Lizzie von seinem Lieblingsbuch erzählt, woraufhin sie in lautes Lachen ausbrach. Diesen Moment hatte Gabriel eingefangen, hatte Lizzies herzhaftes Lachen und ihre geröteten Wangen für die Ewigkeit festgehalten.

    Seitdem trug Sam das Foto bei sich. Wo auch immer er sich mit den Himmelswölfen angelegt hatte, in welchen Schwierigkeiten er auch steckte – das Bild von Lizzie war stets dabei. Sam war sich des Risikos bewusst gewesen, denn sollten die Himmelswölfe dieses Foto finden, wüssten sie von Lizzies Existenz. Sam brachte sie damit in Gefahr. Aber er brauchte auch etwas Sichtbares, das sie miteinander verband, abseits der Armbänder, abseits des Versprechens. Er brauchte einen Beweis dafür, dass es ein normales Leben für ihn gab, so weit entfernt dies auch sein sollte. Einen Beweis dafür, dass es jemanden gab, mit dem er lachen konnte, jemand, der auf ihn wartete und sich Sorgen machte. Jemand, zu dem er zurückkehren musste.

    Auf dem Bild an der Säule wandte Lizzie Sam den Kopf zu. Einzelne, erdbraune Haarsträhnen flogen ihr ins Gesicht. Was hatte sie so erschreckt? Wenn vor ihr gewarnt wurde und man sie suchte, musste sie entkommen sein. Das wären gute Neuigkeiten, zum ersten Mal seit diesem ganzen Chaos. Ein Funken Hoffnung.

    Für diesen Augenblick zumindest konnte Azrael ihr nichts tun, stellte er erleichtert fest. Das war mehr, als er gehofft hatte.

    »Hey, was tust du da?«

    Sam zuckte zusammen und drehte sich um. Ein Himmelswolf blickte grimmig auf ihn herab.

    Er fluchte stumm. Großartig, das hatte ihm gerade noch gefehlt. So viel dazu, dass er nicht auffallen durfte. Kaum war er in dieser Stadt, schon fanden ihn die Himmelswölfe. Konnten sie möglicherweise über Asriels Kette hinweg erkennen, dass er kein Engel war?

    »Ich habe mir dieses Fahndungsplakat angesehen«, erwiderte er so ruhig wie möglich, und sah sich unauffällig um. Es waren zu viele Engel auf den Straßen unterwegs. Ohne Aufsehen zu erregen, würde er diesen Himmelskrieger nicht wie gewohnt ausschalten können, obwohl es ihm in den Fingern juckte. Jede Begegnung kostete Zeit, die weder er noch Lizzie hatten. Er musste sie finden, bevor Asriel vollends die Kontrolle übernommen hatte.

    »Hast du sie gesehen?« Fordernd klopfte der Krieger gegen das Plakat, stand jetzt noch dichter vor ihm. Er blinzelte irritiert, als Sam nicht zurückwich.

    Sam biss sich auf die Lippen und unterdrückte den Impuls, sich auf den Wolf zu stürzen und dessen Hand von Lizzies Foto zu reißen.

    »Nein«, antwortete er leise. Er ballte die Fäuste und ermahnte sich, vorsichtig zu sein. Er durfte nicht auffallen, nicht, bevor er Lizzie gefunden hatte. Der Tag, an dem die Himmelswölfe für ihre Taten bezahlen mussten, würde kommen. Nur würde das nicht heute sein. »Ich frage mich nur, weswegen sie gesucht wird«, ergänzte Sam. »Auf dem Bild wirkt das Mädchen nicht sehr gefährlich.« Eher verängstigt. Was hatten diese Engel ihr angetan? Wo zum Henker steckte sie? Wie sollte Sam sie ohne Anhaltspunkt finden?

    Der Himmelswolf schnaubte. »Natürlich sieht sie für dich nicht gefährlich aus. Typen wie du könnten eine Gefahr oder einen Dämon nicht einmal dann erkennen, wenn er direkt vor einem steht.« Sein Blick war verächtlich, besonders als er Sams unwillkürliches Schmunzeln bemerkte.

    Scheinbar erkannte der Wolf ihn nicht. Sollte er wirklich solches Glück haben?

    »Hast du etwa nicht mitbekommen, dass sie Asriels Verräterseele in sich trägt?«

    Sam öffnete den Mund, wollte etwas erwidern, aber da bemerkte er aus den Augenwinkeln, wie ein weiterer Wolf auf sie zukam.

    »Was ist hier los?« Der neue Himmelswolf hatte windzerzauste, schwarze Haare und blassblaue Augen. Er war größer als der Wolf, der Sam zuerst angesprochen hatte.

    Der Neuankömmling blinzelte verdutzt und runzelte die Stirn, als er Sam entdeckte.

    Sam fuhr es eisig über den Rücken. Das konnte nicht sein. Wieso sah der Wolf ihn an, als würde er ihn kennen?

    Doch dann schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. »Du solltest lieber nach dem Mädchen suchen, als dich zu unterhalten«, rügte er seinen Bruder und sah ihn belehrend an. »Azrael sucht im ganzen Himmel nach ihr. Es wäre besser für dich, wenn du dich dieser Suche anschließt.«

    »Natürlich, Tychael.« Der Himmelswolf senkte den Kopf. »Ich hatte nur gehofft, dass dieser Junge hier Informationen über sie hätte. Er hatte das Plakat angesehen, als wäre sie ihm bekannt.«

    »Ist das so?« Tychael zog die Augenbraue in die Höhe, sah Sam dabei jedoch nicht an. »Nun, falls das so ist, dann kannst du darauf vertrauen, dass ich das selbst herausfinden werde.«

    Er hielt Sam mit seinem festen Blick gefangen, der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Er hatte zwar keine Angst vor dem Wolf, wollte es aber auch bei ihm auf keinen Kampf ankommen lassen. Selbst für seine Verhältnisse gab es hier zu viele Gegner, er konnte nicht die ganze Stadt ausschalten. Schon gar nicht, ohne wie gewohnt auf seine Schatten zurückgreife zu können. Und Tychaels Gestalt ließ darauf schließen, dass es kein einfacher Kampf werden würde.

    »Jetzt geh. Such mit den anderen zusammen das Mädchen!«, befahl dieser dem anderen mit einer Kopfbewegung. »Ich kümmere mich um diesen Jungen.« Er wies auf den Weg, den Sam gekommen war. »Sie soll zuletzt beim Ehrendenkmal gesehen worden sein.«

    »Sehr wohl.« Der Wolf warf Sam noch einen vernichtenden Blick zu, als wollte er sagen, dass dies nicht ihre letzte Begegnung war. Dennoch fügte er sich und marschierte davon.

    Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte sich Tychael nun Sam zu. »Gehen wir. Da entlang.« Er deutete auf eine schmale Gasse, die von der Straße abging.

    Sam atmete tief ein, dennoch ging er voran. Er konnte sich denken, was ihn erwarten würde. In der Gasse würde es vielleicht einfacher werden, den Wolf auszuschalten, trotzdem fühlte er sich nicht wohl dabei, ihn in seinem Nacken zu haben. Er betrat die dunkle Gasse, hörte die schweren Schritte des Himmelswolfes direkt hinter sich. Als sie einige Meter gegangen waren, fuhr Sam herum, die Faust zum Schlag gegen den Hals des Wolfes erhoben.

    Doch zu seiner Überraschung wurde seine Faust abgewehrt. Ihn traf ein harter Schlag in die Magengrube, der ihm die Luft aus dem Körper trieb. Instinktiv fuhr er aus der Hocke heraus nach oben und stieß Tychael die Faust gegen das Kinn. Die beiden ungleichen Gegner stoben auseinander, standen sich grimmig gegenüber.

    »Idiot!«, fluchte Tychael. Er warf einen Blick zur Seite, aber niemand schien zu bemerken, was in der Gasse vor sich ging. Er schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste. »Was dachtest du dir dabei, Samuel?«

    Sam erstarrte, als er seinen Namen hörte. »Was …?«

    »Lassen wir das.« Tychael rollte mit den Augen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ja, ich weiß, wer du bist. Wir sind uns schon einmal begegnet, auch wenn du das kaum in Erinnerung behalten haben dürftest. Jedenfalls nicht, wenn ich mich an deine schwarzen Augen zu diesem Zeitpunkt erinnere.« Er schüttelte den Kopf. »Sagen wir einfach, dass ich die zweifelhafte Ehre hatte, dir bei einem deiner Kämpfe gegenüberzustehen.«

    Sam ließ die Maskerade fallen. »In der Regel kann niemand hinterher Bericht erstatten.« Skeptisch betrachtete er den Himmelswolf. Er erkannte Tychael tatsächlich nicht. Doch wenn er bei dem Kampf die Kontrolle verloren hatte, war das keine große Überraschung. Die meisten Dinge geschahen dann wie in einem Blutrausch, den er nicht aufhalten konnte. Tychael musste großes Glück gehabt haben, das zu überleben.

    »Nun, ich habe mich damals nicht gerade sehr heldenhaft verhalten«, gab der Wolf zu. »Außer mir dürfte niemand sonst wissen, wer du bist.«

    »Was sollte mich dann daran hindern, diesen Umstand zu ändern?« Sam zog fragend die Augenbrauen in die Höhe, während seine Gedanken rasten. Er hatte gedacht, dass lediglich Azrael ihn wiedererkennen würde. Zu erfahren, dass mindestens einer der Himmelswölfe ebenfalls dazu in der Lage war, konnte seine Suche nach Lizzie abrupt beenden. Wenn sie tatsächlich geflohen und alleine im Himmel unterwegs war, brauchte sie ihn mehr denn je.

    »Du kannst mich töten«, erklärte Tychael. »Ich bin mir sicher, dass dir das nicht schwerfallen würde, nicht einmal mit dem Siegel. Aber ich weiß auch, weswegen du hier bist.« Er atmete tief ein, während Sam ihn aufmerksam musterte. »Du suchst Lizzie«, stellte der Himmelswolf leise fest. »Du kannst also entweder versuchen, dich durch den ganzen Himmel zu metzeln, um sie zu finden – oder mir einen Vertrauensvorschuss geben.«

    Sam runzelte die Stirn. »Du bist ein Himmelswolf. Ich habe keinen Anlass, dir zu trauen.« Besser wäre es, das einfach hier und jetzt zu beenden. Vermutlich kreisten die anderen Wölfe sie gerade ein. Aber etwas in Tychaels Blick brachte ihn dazu, innezuhalten. Zumindest konnte er sich anhören, was ihm der Himmelswolf zu sagen hatte. Hätte er Sam töten wollen, dann hätte er dies mit dem anderen Wolf gemeinsam getan. Wieso also wollte Tychael ihn scheinbar alleine sprechen?

    »Nicht jeder Wolf steht bedingungslos hinter Azrael, auch ein paar von uns haben Zweifel.« Tychael sah auf die Straße zurück, als befürchtete er, dass jemand seine Worte hören könnte. Aber es war niemand zu sehen.

    »Selbst wenn das der Fall sein sollte – wieso sollte ich dir trauen? Genauso gut könnte das eine Falle sein.«

    »Dann wäre das aber eine reichlich erbärmliche.«

    Sam zuckte mit den Schultern. »Wärt ihr gut darin, dann wären ein paar mehr von euch heute noch am Leben. Ihr habt schon früher versucht, mir die eine oder andere Falle zu stellen.«

    »Ja, davon habe ich gehört.« Tychael seufzte. »Und dafür haben sie teuer bezahlt. Wie soll ich dir klarmachen, dass meine Absichten keinen Verrat beinhalteten? Dein Misstrauen gegen meine Brüder ist gerechtfertigt. Es gibt wohl nur eine Person, der du vertraust. Aber Lizzie ist ohnehin nicht mehr in der Stadt.«

    »Was?« Sam trat einen Schritt vor. »Gerade eben noch sagtest du …«

    »Ich habe Dariel in die falsche Richtung geschickt. Wenn ich dir helfen will, wieso sollte ich dann dafür sorgen, dass meine Brüder Lizzie finden?«

    »Was mich wieder zu der Frage zurückbringt, wieso du uns überhaupt helfen willst. Welchen Vorteil versprichst du dir davon?« So leicht ließ Sam sich nicht beirren. Es war die längste Unterhaltung, die er jemals mit einem Himmelswolf geführt hatte. Genau genommen war es die Erste, die über bloßes Ich-töte-dich-zuerst-Geplänkel hinausging. Hoffentlich hatte Tychael recht, und die Wölfe gingen tatsächlich der falschen Spur nach.

    »Das Mädchen hat mir nichts getan«, erklärte Tychael. »Es gibt keinen Grund, weswegen ich mir ihren Tod wünschen sollte. Außerdem weiß ich, was sie dir bedeutet.«

    »Wenn man den Plakaten glaubt, dann weiß das so ziemlich jeder hier«, erwiderte Sam ungerührt. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass inzwischen jeder einzelne Engel über ihr Leben Bescheid weiß. Und über den Grund, weswegen sie hier ist.«

    »Du meinst die Tatsache, dass sie ihre Seele für dein Leben gab? Ja, das weiß tatsächlich der gesamte Himmel.«

    Sam zuckte zusammen.

    »Du scheinst noch nicht viel Zeit gehabt zu haben, dir über die Bedeutung dieses Paktes Gedanken zu machen. Geschweige denn darüber, was für Auswirkungen Lizzies Tat und ihr Auftauchen im Himmel haben könnten.« Der Himmelswolf lächelte unwillkürlich. »Ich habe die Geschichten über dich und Lizzie nicht nur gehört, sondern sie auch gesehen.«

    »Was soll das bedeuten? Was hast du mit Lizzie zu schaffen?« Sam ballte die Fäuste. Wenn Tychael wusste, wo Lizzie und Raphael lebten, dann war er vielleicht auch für Azraels Auftauchen dort verantwortlich. Sam hatte nicht den Großteil seines Lebens für Lizzies Schutz gesorgt, damit alles plötzlich von einem einzigen Wolf zunichtegemacht wurde.

    Abwehrend hob Tychael eine Hand. »Beruhige dich. Es gibt keinen Grund, sich Sorgen zu machen. Ich sagte doch, du und ich sind uns schon einmal begegnet. Einer der Gründe, warum ich heute noch lebe, ist Lizzie.« Tychael ließ die Hand wieder sinken. »Vor einigen Jahren griffen dich meine Brüder in einer verlassenen Fabrikhalle an. Als ich sah, wie du gegen sie gekämpft hast, bekam ich Panik. Ich war vor Angst wie gelähmt und versteckte mich hinter einer Hauswand.« Er strich sich durch die Haare. »Es war ein Gemetzel«, fügte er leise hinzu.

    Sam erinnerte sich nur zu gut an den Kampf.

    Er hatte mitten in der Halle gestanden und einen Wolf nach dem anderen abgewehrt. Schließlich war es geschafft, schwer atmend stand er da. Um ihn herum die leblosen Körper von gut einem Dutzend Himmelswölfen. Blut tropfte von seinen Händen, eine Wunde zog sich quer über seine linke Seite. Er hatte den Kampf nicht unbeschadet überstanden, aber zumindest lebte er noch. Er versuchte, sich selbst und seine Gedanken zu sammeln, knickte jedoch ein, als wäre die Last zu groß. Sam hockte auf dem Boden, schlug krampfhaft seine Hände über den Kopf. Er keuchte auf, es war ihm alles zu viel. Er konnte das nicht mehr, wollte es nicht mehr sehen. Doch die Dunkelheit in ihm schrie immer weiter nach Blut. Die Schatten zuckten über den Boden, als flüsterten sie ihm etwas zu.

    Ein Klingeln zerriss die Stille. Sam zuckte zusammen, richtete sich auf. Er tastete fahrig nach dem Handy in seiner Tasche, zog es mit zitternden Fingern heraus.

    »Ja?« Er blinzelte. Sein Blick wurde wieder klar.

    »Sam? Hier ist Raphael. Lizzie ist im Krankenhaus, sie hatte einen Unfall. Sie …«

    »Was?« Alle Alarmglocken schrillten in seinem Innern. »Wann ist das passiert? Geht es ihr gut?« Sam spürte, wie alle Farbe aus seinem Gesicht wich.

    »Es war nur ein Fahrradunfall, nichts lebensbedrohliches. Sie hat sich das Handgelenk gebrochen. Aber vielleicht solltest du herkommen.«

    Er schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein. »Ich bin bald da«, versprach er leise und beendete das Gespräch. Für einen Augenblick starrte Sam noch auf das Display, als könnte er dort die Antworten finden, die ihm der Anrufer nicht hatte verraten wollen. Er biss sich auf die Lippe und wählte eine Nummer.

    »Zack? Ich bin’s. Ja, mir geht es gut.« Sam kam der Frage seines Freundes zuvor und rollte mit den Augen. Er fuhr sich mit einer Hand durch das blutverschmierte Haar. »Oder sagen wir, es geht mir besser als den Wölfen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute Abend nicht antreten werde. Ich muss nach Lillienmarsch.«

    »Ist das dein Ernst? Sam, du weißt, wie ich darüber denke.«

    »Ja, das ist mein voller Ernst.« Mit einem leisen Ächzen richtete sich Sam auf, stand nun wieder fest auf beiden Beinen. »Zack, darüber werde ich nicht diskutieren. Und wenn die apokalyptischen Reiter höchstpersönlich auftauchen, es ist mir egal! Lizzie hatte einen Unfall, sie liegt im Krankenhaus. Ich werde da jetzt hinfahren!«

    Die Schatten bäumten sich auf, als wollten sie ihren Herrscher unterstützen. Doch kaum hatten sie sich aufgerichtet, wichen sie wieder zurück. Sam hatte sich unter Kontrolle. Er brauchte keine Hilfe von seinem Element.

    »Das mit dem Unfall tut mir leid. Brauchst du Hilfe? Wenn sie schläft, kann ich sicherlich etwas tun.«

    »Nein. Das ist nett gemeint, aber ich denke, dass ihr Vater alles im Griff hat. Du brauchst sie nicht heilen.« Sam musste lächeln. Es war ein ehrliches, normales Lächeln, als wäre er ein ganz gewöhnlicher Junge, der mit einem Freund telefonierte. Und kein dämonischer Erbe der Hölle, der inmitten von Toten stand. »Trotzdem, danke. Ich melde mich, sobald ich mehr weiß, versprochen. Bis dann.« Sam legte auf. Er hatte das Handy wieder in seiner Hosentasche verstaut und die Halle mit raschen Schritten verlassen.

    »Meine Brüder hatten keine Chance gegen dich«, sagte Tychael, als hätte er Sams Gedanken gelesen. »Du hast gewirkt, als stündest du am Rande des Wahnsinns, als könntest du jederzeit hinunterstürzen. Doch als der Anruf mit ihrem Unfall kam, als du ihren Namen sagtest, war das plötzlich wie fortgewischt. Von Lizzie zu hören hatte gereicht, die Dunkelheit in dir wieder in die Schranken zu weisen.«

    »Du weißt schon so lange von Lizzies Existenz?« Bei dem Gedanken lief Sam ein kalter Schauder über den Rücken. Es war der einzige Unfall gewesen, den Lizzie jemals gehabt hatte. Auf dem Weg nach Lillienmarsch hatte er sich die schlimmsten Szenarien ausgemalt, dabei war es nur ein Bruch. Aber das war schon viele Jahre her. Wieso tauchte der Himmelsherrscher dann jetzt erst auf? »Warst du es, der sie an Azrael verraten hat?«

    Tychael schüttelte den Kopf. »Nein. Es wäre mir ein Leichtes gewesen, und sicher hätte ich mir damit viele Schwierigkeiten erspart. Ganz zu schweigen von meinen Brüdern, die dann heute noch am Leben wären. Aber ich habe nie ein Wort über sie verloren.« Der Himmelswolf runzelte die Stirn. »Damals habe ich gesehen, was in dir vorgeht, Sam. Du weiß vielleicht nicht, wie zerstörerisch diese Dunkelheit sein kann, aber ich schon. Ich war nach Luzifers Tod in der Hölle. Ich sah, welche Auswirkungen es hat, wenn sie ohne Kontrolle losbricht. Du bist wie ein laufendes Pulverfass, eine Zeitbombe, die niemals explodieren darf. Und Lizzie ist das Einzige, was genau das verhindert. Denkst du wirklich, ich würde unser einziges Sicherheitsventil entfernen?« Skeptisch sah Tychael ihn an. »Glaub mir, ich habe kein Interesse daran, dass der Himmel oder die Erde deinem Element zum Opfer fallen. Und das würden sie, wenn ihr etwas passiert. Du brauchst sie.«

    »Schön.« Sam runzelte die Stirn. Es fiel ihm schwer, dem Himmelswolf Glauben zu schenken. Seit vielen Jahren kämpfte er nun schon gegen sie, er hatte gelernt, sie als Gegner zu schätzen und sich gleichzeitig vor ihnen in Acht zu nehmen. Weder ihnen noch Michael war zu trauen, dafür waren sie zu sehr von Azrael manipuliert worden. Sie glaubten und kämpften für eine Wahrheit, die es nicht gab. Aber er spürte auch, dass Tychael die Wahrheit sagte. »Wenn das stimmt, was du sagst, wie finde ich Lizzie dann? Soweit ich weiß, wollte Azrael sie geradewegs zum Himmelsgericht bringen.«

    »Das war auch der Plan. Michael begleitete sie dorthin und stellte Lizzie der Richterin Libra vor. Wenn man den Geschichten der Engel Glauben schenken mag, dann hat sie das nicht einfach so über sich ergehen lassen. Lizzie hat stark für dich und euer Leben Partei ergriffen.« Der Himmelswolf lächelte. »Glaub mir, das hat für ziemlichen Aufruhr unter den Engeln gesorgt. Das Gericht tagt nicht oft, nur bei wirklich wichtigen Dingen. Jemanden mit Asriels Seele zu verurteilen, gehört dazu. Man erweist diesen seltenen Gelegenheiten und vor allem der Richterin also entsprechenden Respekt. Lizzie sah das allerdings anders.«

    »Ja, das tut sie häufiger«, murmelte Sam und biss sich auf die Lippe. Kampflos aufzugeben war absolut nichts, was zu Lizzie passte. Sie würde es noch schaffen, dass sich der ganze Himmel gegen sie auflehnte. Nur war das etwas, was sie absolut nicht brauchen konnte, schon gar nicht jetzt. »Ich kann mir vorstellen, dass Libra oder die anderen Engel davon nicht begeistert waren. Ganz zu schweigen von Azrael.«

    »Wie man’s nimmt.« Der Wolf zuckte mit den Schultern. »Sie hat auf jeden Fall für Stimmung gesorgt. Allerdings konnte der Urteilsspruch nicht verkündet werden. Kurz vorher griffen die Rebellen an.«

    »Wie bitte?« Erbost trat Sam einen Schritt vor.

    Tychael hob die Hände. »Beruhige dich! Wie konntest du mit diesem Temperament so lange überleben?« Er runzelte die Stirn. »Du scheinst ziemlich oft am Rand eines Nervenzusammenbruchs zu stehen, vor allem, wenn Lizzie nicht an deiner Seite ist.«

    »Wo ist sie?«, knurrte Sam.

    »Nach meinen letzten Informationen geht es Lizzie gut. Die Rebellen haben das gesamte Himmelsgericht zerstört, und sich damit einige Feinde gemacht. Aber Lizzie konnte dieses Chaos nutzen, um zu entkommen. Deswegen wird sie im ganzen Himmel gesucht.«

    »Und du weißt, wo sie ist?« Langsam

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