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Drachenwächter - Die Jagd
Drachenwächter - Die Jagd
Drachenwächter - Die Jagd
eBook344 Seiten4 Stunden

Drachenwächter - Die Jagd

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Über dieses E-Book

Nach den Geschehnissen um die Prophezeiung des Seld Esan ist Derod ein Land ohne Herrscher. Ein Bürgerkrieg droht, denn drei Personen streiten um die Macht. Stimmen erheben sich, die verlangen, den "Drachenwächter" – also Seld – auf den Thron zu heben. Doch Seld ist verschwunden. Er ist im Exil in einem fernen Land zurückgeblieben. Eine Expedition bricht auf, um ihn ausfi ndig zu machen. Gleichzeitig erheben sich Stimmen, die fordern, den letzten Dämon zu jagen und zu töten, um die dunklen Wesen endgültig aus der Welt zu tilgen.
SpracheDeutsch
HerausgeberSpreeside
Erscheinungsdatum1. März 2009
ISBN9783939994497

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    Buchvorschau

    Drachenwächter - Die Jagd - Falko Löffler

    Falko Löffler

    Drachenwächter

    Die Jagd

    Fantasy-Roman

    Band 2 der Trilogie

    für Leonard

    Falko Löffler

    www.falkoloeffler.de

    Eyfalia Publishing GmbH

    www.spreeside.de

    53902 Bad Münstereifel

    Erste Auflage

    Copyright 2013 by

    Eyfalia Publishing GmbH/ Edition Spreeside

    Lektorat: www.lektorat-hamerski.de, Willich

    Satz: www.jentzschdesign.com, Rheinbach

    Umschlaggestaltung: HOX designgroup, Köln

    Umschlagillustration: Kay Elzner, Oschersleben

    eBook-Umsetzung: SiMa Design, Erkrath

    Alle Rechte, auch die der

    fotomechanischen und elektronischen

    Wiedergabe, vorbehalten.

    EAN: 978-3-939994-49-7

    Sie finden uns im

    Internet unter

    www.spreeside.de

    Weitere Informationen zum

    Drachenwächter – die Jagd

    finden Sie unter

    www.drachenwaechter.de

    Kapitel 1

    Ein Schiff

    »Der Drachenwächter kehrt zurück!«

    Der Ruf schallte durch Klüch und pflanzte sich fort. Jeder in der Stadt, der ihn vernahm, eilte zu der Ruine der seewärts gerichteten Stadtmauer, stieg auf die Steine und Trümmer und schaute aufs Meer hinaus. Der Satz wurde mit allen Gefühlen aufgeladen, zu denen die Klücher in der Lage waren: Sie riefen ihn erfreut aus, hauchten ihn atemlos, flüsterten ihn ängstlich.

    Denn wenn es stimmte … wenn die Ambria zurückkehrte und den Drachenwächter an Bord hatte … so konnte niemand wirklich wissen, was es für das zerstörte Klüch und ganz Derod bedeutete.

    Anderthalb Jahre waren inzwischen vergangen, seit die Dämonen mit ihrem blauen Feuer die Stadt niedergebrannt hatten und dann über das Meer den Drachen gefolgt waren. Als viele Tage später die beiden Schiffe aus dem fernen Land Taheff zurückgekehrt waren und die erschöpften Menschen von dem berichtet hatten, was dort auf der Drachenspitze geschehen war, verbreitete sich die Kunde von Seld Esan, dem Drachenwächter, der die Dämonen besiegt hatte, im ganzen Land unter den Überlebenden.

    Ein Disput hatte danach Derod erfasst, der in einen Bürgerkrieg münden konnte, wenn er nicht beigelegt würde. Drei Anwärter stritten um den Thron des Landes, der seit dem Tode Talut Bas’ leer stand. Jeder hatte ein Heer um sich geschart, und jeder Bürger in Derod unterstützte einen von ihnen. Doch das ganze Land war wie gelähmt – allen war klar, dass ein neuer Krieg ausbrechen würde, wenn es einer der drei Anwärter wagte, sich zum Herrscher zu proklamieren. Und so belauerten sie sich und warteten, wer den ersten Schritt tat …

    Als die Ambria vor vielen Tagen wieder aufgebrochen war, um den Drachenwächter zu suchen, hatten die Deroder große Hoffnungen in diese Reise gesetzt. Nun sahen sie das Schiff zurückkehren, und die Klücher schienen sich sicher zu sein, dass Seld an Bord war, und niemand von ihnen wollte daran denken, was aus Derod werden würde, wenn es nicht der Fall war.

    Wie würden die drei Anwärter reagieren, wenn Seld Esan wirklich zurückkehrte? Und würde der Mann aus dem Nordostland es wirklich wagen, sich zum Herrscher auszurufen?

    Hem Sibin vernahm die Neuigkeit als entfernten Ruf, als er gerade vor dem Zelt in Curan Betats Lager saß und seinen Schild polierte. Wie seine Rüstung stammte auch dieser aus den Trümmern der Stadt, trug noch die Narben des Dämonenangriffs, in dem Klüch vergangen war. Er hatte seine Morgenübungen abgeschlossen, trug noch Brustpanzer und Armschienen. Nun warf Hem den Schild achtlos beiseite, ließ ihn aufs Kopfsteinpflaster scheppern. Die Worte, die die Menschen riefen, erreichten seine Ohren, doch es war, als verstünde er ihre Bedeutung nicht recht – als empfinge nicht etwa sein Verstand diese Neuigkeit, sondern sein Herz. Er war erfreut von der Aussicht, Seld wieder­zusehen, doch gleichzeitig war er erstarrt vor Angst, weil seine abgrundtiefe Wut wieder aufflackern konnte.

    Dabei wusste Hem, dass Seld das einzig Richtige getan hatte, damals vor anderthalben Jahren auf der Drachenspitze.

    Das Osertem, ein besonders mächtiger Dämon, wollte Seld zwingen, die Prophezeiung zu erfüllen, die zur letzten Schlacht zwischen Dämonen und Drachen geführt hätte. Seld verweigerte sich ihr, und so entzog er den Dämonen ihre Macht. Doch das Osertem tötete vorher Ark – Hems Vater – und andere Freunde Selds, der ihren Tod mit­ansehen und nicht verhindern konnte.

    Dann, nachdem Seld von der Drachenspitze ins Exil gegangen war, hatte Apathie statt Wut Besitz von Hem ergriffen. Er konnte sich kaum erinnern, wie er die Reise zurück nach Derod zugebracht hatte. Wie so viele andere war er durch die Trümmer von Klüch geschritten. Er hatte nicht nach Hequis zurückkehren wollen – der Ort, der mit der Erinnerung an seinen Vater verbunden war. Seine Mutter war wie er in schweigender Starre gefangen, und sie blieben in der Stadt. Im darauffolgenden Frühling hatte Hem begonnen mit Schild und Schwert zu üben, die er in den Trümmern der Stadt gefunden hatte. Hilflos hatte er mitansehen müssen, wie sich seine Mutter in der Trauer aufgab und verstarb. Nie wieder im Leben wollte er sich schwach fühlen.

    Sein Waffenbruder Kyd trat aus dem Zelt. Ihm entfuhr ein schnaufendes Lachen. »Das kann doch nicht sein, oder? Dass es immer noch Narren gibt, die in diesen Mann ihre Hoffnungen setzen. Er war es doch, der das Verderben nach Klüch brachte – er hat die Drachen hergeführt, und damit auch die Dämonen.«

    Hem schwieg. Kyd wusste nicht, dass Hem dabei gewesen war, als die Drachen nach Klüch gekommen waren. Keiner der anderen Soldaten in Curan Betats Heer ahnte, dass er aus Hequis stammte, dem Drachendorf, und dass er bei der Schlacht auf der Drachenspitze dabei gewesen war. Mochten sie ihn ruhig für schweigsam halten – es war besser, als kannten sie die Wahrheit.

    »Komm«, rief Kyd aus. »Schauen wir, ob es stimmt! Vielleicht ist es ja nur das Schiff, das zurückkehrt und sie haben ihn gar nicht gefunden.« Er lief los, aber blieb nach wenigen Schritten wieder stehen, als er bemerkte, dass Hem ihm nicht folgte. »Was ist?«, fragte er.

    Hem konnte sich nicht rühren. Er wurde sich bewusst, dass er große Angst davor hatte, Seld ins Gesicht zu sehen. Wie würde Hem reagieren, wenn er in die Augen des Mannes blickte, der den Tod seines Vaters hatte geschehen lassen? Seld war nicht nur der Freund seines Vaters gewesen, sondern auch seiner, und Seld hatte alle gerettet … doch die alte Wut konnte wieder aufflackern. Als er Kyds Frage vernahm, schüttelte er kurz den Kopf und zwang sich zum Losgehen. Kyd hatte recht – vielleicht war Seld gar nicht an Bord.

    Fast wünschte er sich, genau so wäre es. Dann würde Hem nicht in sein Herz blicken müssen, um zu wissen, ob dort Freude oder ein Abgrund war.

    Anderthalb Jahre früher …

    Als Seld sich am Fuß der Drachenspitze von Mesala verabschiedete, wagte er nicht, sich umzudrehen, denn er fürchtete, Mesala würde ihm doch folgen.

    Sie tat es nicht.

    Seld wanderte in die Dunkelheit hinein, ließ die Drachenspitze, Mesala und die Hequiser hinter sich zurück. Er wollte in der sternen­beschienenen Nacht laufen, bis die Erschöpfung ihn übermannte, doch länger als er erwartete, brauchte er keine Ruhe – selbst dann nicht, als sich schon die Morgenröte am Horizont abzeichnete. Die Vernunft gebot, dass Seld sich eine Pause gönnte. Taheff war ein warmes Land, er musste kein Obdach finden oder errichten, sondern konnte sich auf den weichen Waldboden nahe an einem der vielen Seen zur Ruhe betten.

    Als Seld auf dem Rücken lag und im Himmel beobachtete, wie die Sterne sich im Licht des Tages aufzulösen schienen, fühlte er im Geist Mesalas Nähe, als stünde sie direkt neben ihm. Sicher – es war erst einen halben Tag her, dass sich ihre Wege getrennt hatten, und die Entfernung zwischen den beiden war nur gering, zumal sich die Kolonne aus Hequisern und Taheffern sicher noch nicht von der Drachenspitze wegbewegt hatte, doch in seinem Geist hatte sich nichts verändert.

    Sie waren verbunden. Doch Seld wusste nicht, ob diese geistige Verbindung wirklich so lange anhielt, wie er glaubte, und ob sie bestehen blieb, wenn Mesala nach Derod zurückkehrte. Mit ihrem Gesicht vor seinem inneren Auge schlief er ein.

    Seld träumte nicht mehr.

    Diese erste Nacht seiner neuen Einsamkeit war schwarz. Kaum schloss er die Augen, hörte seine Welt auf zu existieren und das Nichts bemächtigte sich seinem Denken. Es war eine Tiefe, die er auch im Schlaf nicht abschütteln konnte – und sie zog ihn immer weiter hinab.

    An diesem ersten Tag seines neuen Exils weckte ihn das Tageslicht – und der Hunger. Die Sonne hatte schon fast ihren höchsten Punkt erreicht, und Seld wollte zügig weiter. Vielleicht gab es doch unter den Hequisern welche, die ihm folgen wollten, obwohl er Mesala auf­getragen hatte, dass sie die Kolonne zurück zur Küste führen sollte. Zwar glaubte er nicht, dass jemand so töricht war, doch um sicher zu gehen, dass er nicht eingeholt wurde, wollte er so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Drachenspitze bringen.

    Er hatte noch einen anderen Grund dafür.

    So wie er Mesalas Nähe fühlte, war auch Alema noch in seinem Geist.

    Mesalas Schwester. Alema – seine Frau, deren vermeintlichen Tod er jahrelang beweint hatte. Sie war den Drachen geopfert worden, von Selds Freunden aus Hequis, die vom damaligen Herrscher Talut Bas angestachelt worden waren. Erst auf der Drachenspitze hatte Seld erfahren, dass Alema noch lebte und all die Jahre bei den Drachen verbracht hatte. Ihre Menschlichkeit war fast verschwunden gewesen, doch Seld hatte die Erinnerung daran wecken können. Und Alemas Gedanken an ihre gemeinsame Zeit kehrten zurück, doch sie war nicht mehr der Mensch, mit dem Seld damals zusammengelebt hatte. Auch wenn sie sich ihrer Menschlichkeit erinnert hatte, war es nur ein Nachhall gewesen. Sie war kein Mensch mehr, sah nur noch wie einer aus. In ihrem Inneren war sie ein Drache, denn den Weg zurück zu ihrer Menschlichkeit hatte sie nicht bis zum Ende beschritten. Es gab für sie keine Wiederkehr von dem, was sie geworden war. Seld wünschte sich deswegen, die Verbindung zu ihr würde brechen – er wollte sich nicht ständig ins Bewusstsein rufen, wie sehr sie sich verändert hatte, selbst wenn das bedeuten musste, dass er auch Mesala aus seinem Geist verlieren würde.

    Es lag nicht in seinen Händen, die Verbundenheit mit den beiden Schwestern zu kontrollieren. Sie war ein Geschenk der Drachen gewesen.

    Tag für Tag lief er, Nacht für Nacht ruhte er. Am Stand der Sonne konnte er ablesen, dass er nach Nordwesten ging. Taheff war ein leeres und einsames Land, doch es war leicht zu bereisen, und Seld war keinerlei Gefahren ausgesetzt – weder durch die Umgebung noch durch wilde Tiere. Die weitläufige Seenlandschaft, die die Umgebung um die Drachenspitze herum prägte, erstreckte sich bis weit in den Nordwesten. Keinerlei hohe Berge zeichneten sich am Horizont ab, nur einige Hügel erhoben sich, die mit dicht beieinander stehenden Bäumen bewachsen waren, von deren Ästen spitze Dornen abstanden – als wollten sie verhindern, dass etwas oder jemand ins Innere des Waldes vordrang. Es war ein Leichtes für Seld, diese fast kreisrunden Erhebungen zu umgehen.

    Das Flusswasser erfrischte ihn, und die Früchte, die an den Bäumen hingen, nährten ihn. Seld kam gut voran. Anfangs zählte er die Tage seiner Reise. Dann bemerkte er, dass er nicht weitergezählt hatte. 14 war die letzte Zahl, an die er sich erinnerte. Kurz hielt er verwundert auf seiner Wanderschaft inne, warf einen Blick zurück, sah aber keine Landmarken, an denen er ablesen konnte, wie viele Tage er seitdem unterwegs gewesen war. Ihm entfuhr ein hilfloses, krächzendes Lachen, und erstaunt schüttelte er den Kopf. Dann nahm er seinen Weg wieder auf.

    Er horchte in sich hinein, ob sich wieder der Wahnsinn anschlich. In seinem ersten Exil in den Wimor-Bergen von Derod, nach Alemas vermeintlichem Tod, hatte es eine Zeit gegeben, in der er unablässig mit sich selbst geredet hatte und sein Denken immerzu in Nebel gehüllt schien. Über zehn Jahre war das inzwischen her. Nun, heute, fühlte er nichts dergleichen. Im Gegenteil, fast war er heiter. Er wusste nicht, wohin er ging oder wie lange seine Wanderschaft noch dauern würde. Nach all dem Schmerz, dem Tod und der vielen Abschiede hatte er für seine verzweifelte Fröhlichkeit keine Erklärung.

    Und er suchte auch keine.

    Je länger er unterwegs war, desto tiefer wurde die nächtliche Dunkelheit in seinem Geist. Es war, als trug jede Nacht immer mehr von der geistigen Verbindung zwischen ihm und den beiden Schwestern ab.

    Die Gabe des Fühlens und Wissens – so hatte Seld für sich diese Ver­bindung genannt – wurde immer schwächer. Die Drachen hatten damals seinem Geist eine neue Ebene der Wahrnehmung gegeben, doch vielleicht war es nur eine Leihgabe gewesen und sie war nicht von Dauer, wo er sich nun von allen Drachen und Menschen losgesagt hatte. Seld war in seinem Geist zunehmend öfter allein – so wie in der Zeit vor den Drachen …

    Einsamkeit konnte einen Menschen verändern. Niemand wusste das besser als Seld. Sie konnte auch diese Gabe des Fühlens und Wissens schwächer werden lassen, bis sie fast verschwunden war. Fast – aber nicht ganz.

    Hem und Kyd hatten keinen Platz mehr auf der alten Wehrmauer gefunden, nur im hinteren Teil des Piers. Sie mussten sich gegen die drängelnde Menge um sie herum stemmen, um nicht in den Heke gestoßen zu werden, der hier ins Meer mündete. Die Luft sirrte mit dem angespannten Gemurmel der Menge. Das Schiff, das zweifelsohne die Ambria war, die hier vor vielen Tagen abgelegt hatte, hielt auf die Hafeneinfahrt zu, und an Deck konnte Hem einige Leute ausmachen, doch sie waren noch zu weit weg, als dass er sie erkennen konnte. Unendlich lange kam es ihm vor, bis das Schiff die Mündung des Heke erreichte, die Hafeneinfahrt passierte, das Hauptsegel einholte und dann langsam den träge dahinfließenden Fluss aufwärts kam. Nervös ließ Hem seinen Blick zu den Klüchern schweifen, die auf der Wehrmauer ganz vorn standen und nun die Personen auf dem Schiff genau sehen konnten. Keiner von ihnen konnte sicher sein, dass Seld wirklich an Bord war, aber sie hatten seinen Namen gerufen. Es war Ausdruck ihrer Hoffnung gewesen – und sie würden entsetzt sein, wenn Seld doch nicht an Bord wäre. Nun rief niemand mehr Selds Namen. Keiner schien ihn bislang an Bord ausgemacht zu haben.

    Vielleicht hatte Mesala nur seine Leiche gefunden – oder nichts und niemanden. Es konnte sein, dass sie mit leeren Händen zurückkehrte und nicht einmal einen Hinweis über seinen Verbleib gefunden hatte.

    So viele Möglichkeiten. In wenigen Augenblicken würde Hem wissen, was zutraf.

    Er musste schwer schlucken bei dem Gedanken, dass sogar Mesala nicht an Bord sein konnte. Es war eine lange, gefährliche Reise, und sie kannten Taheff kaum. Viel konnte geschehen sein …

    Seld hatte das Meer erreicht.

    Ungläubig ließ er den Blick über die aufgewühlte See schweifen. Widerstreitende Gefühle tobten in ihm. Er fühlte den Drang zum Weitergehen. Ein Teil von ihm wollte nicht, dass er verharrte, sondern in Bewegung bleiben. Schließlich konnte er einfach an der Küste weiterlaufen. Immer weiter, nach Westen den Strand entlang. Doch ein anderer, stärkerer Teil flüsterte ihm ein, dass er das Ende seiner Reise erreicht hatte.

    Zumindest das Ende dieses Teils seiner Reise.

    Seld sah sich um, wo er Unterschlupf finden konnte.

    Hem hatte Glück. Die Ambria legte in seiner unmittelbaren Nähe an. Doch kaum jemand am Pier wollte Platz machen, als die erschöpft aussehenden Matrosen vom Schiff aus die Taue herüberwarfen. Erst nach einigem Gedrängel nach hinten, zu dem Hem grimmig seinen Teil beitrug, konnten die Seile am Anleger vertaut und die Planke aus­gefahren werden.

    Einen seltsamen Augenblick lang legte sich Stille über den Anleger. Keiner der Matrosen an Bord machte Anstalten, vom Schiff herunterkommen zu wollen, und auf dem Anleger rührte sich niemand.

    Von Seld war keine Spur.

    Da trat Mesala an die Reling der Ambria.

    Sie war zurückgekehrt. Hem war erleichtert, auch wenn er noch nicht wissen konnte, ob ihre Suche nach Seld erfolgreich gewesen war. Er hob die rechte Hand und winkte. »Mesala!«, schrie er und versuchte, an ihrer Miene abzulesen, ob sie ihn gefunden hatte. Die Frau sah aus, als wäre sie am Ende ihrer Kräfte. War sie glücklich, stand Triumph oder Scheitern in ihren Augen? Hem konnte es nicht erkennen, obwohl er sogar die dunklen Ringe unter den Augen und die schweißverklebten Haarsträhnen ausmachen konnte.

    Sie bemerkte ihn. Müde hob sie die Hand zum Gruß, und die Mundwinkel zogen sich ein Stück nach oben, doch es wirkte, als kostete sie das große Mühe.

    »Du kennst sie?«, fragte Kyd neben ihm. »Woher?«

    Hem beantwortete die beiden Fragen nicht, er beachtete sie kaum. Er wollte wissen, was mit Seld war. Seine Hände fuhren vor, stießen die beiden Männer zur Seite, die ihm den Weg versperrten, woraufhin beide kurz protestierten, doch Hem war schon an ihnen vorbei und die Planke zum Schiff hinauf auf Deck gerannt. So schnell es seine Augen zuließen, musterte er jeden Mann an Deck.

    Seld war nicht darunter.

    Er trat an Mesala heran. »Was ist mit Seld?«, fragte er hastig. »Hast du ihn gefunden?«

    In Mesalas Augen stand abgrundtiefe Müdigkeit.

    Am Meer erstreckte sich ein schmaler Sandstreifen, doch dahinter erhob sich eine Küstenlinie, die aus schroffem, hellbraunem Fels bestand, in den Wind und Wetter viele Höhlen getrieben hatten. Die Höhle, für die Seld sich entschied, war ein Stück im Inland in einer Bucht und vom Meer abgewandt, sodass nicht einmal der Wind vom Meer hereinpfiff.

    Taheff war ein warmes Land. Seld erinnerte sich an sein erstes Exil in den Wimor-Bergen von Derod. Dieses hatte er in einer zugigen Höhle verbracht, und er hatte viele Nächte klirrender Kälte überstehen müssen. Nur dürre Bäume eines Waldstücks in der Nähe hatten ihm Holz für seine spärlichen Lagerfeuer gespendet. Hier war es nicht nötig, sich am Feuer zu wärmen. Jetzt im späten Herbst könnte in seinem Heimatdorf Hequis, das sich weit im Nordosten von Derod befand, schon Schnee liegen, während er hier in Taheff sich noch nicht einmal Sorgen machen musste, dass ihm sein Mantel nicht genügen würde, den er trug.

    Hequis.

    Seine Gedanken kehrten immer wieder in sein Heimatdorf zurück. Er wusste nicht, ob die Hütten dort noch standen; er wusste nicht, ob die Hequiser noch lebten, die in Derod geblieben waren; er wusste nicht, ob der letzte Dämon wirklich hinter die Koan-Berge in der Nähe von Hequis geflohen war.

    Nein, Seld wusste nichts darüber, was in seiner alten Heimat geschah.

    Und er genoss diese Unwissenheit und die Tatsache, nicht mehr für das Leben anderer verantwortlich zu sein.

    Am Strand von Taheff war er keinen Gefahren ausgesetzt. In den nahen Wäldern, die aus schlanken, sich im Wind wiegenden Bäumen bestanden, lebten nur wenige Nager, nie bekam Seld größere Tiere zu Gesicht – vor allem keine gefährlichen. Früchte wuchsen reichhaltig in den umliegenden Wäldern. Er stieß sogar auf ein Gewächs, das den Carem-Knollen seiner Heimat nicht unähnlich war, denn es reifte im Boden und nur ein dünner, gelber Halm ragte aus der Erde heraus. Außerdem gelang es ihm bald, die grauen Fische zu fangen, die bei Einbruch der Dunkelheit aus ihren Felshöhlen in Ufernähe herauskamen und im flachen Wasser Nahrung suchten. Er garte sie am Eingang seiner Höhle über einem Lagerfeuer, und dabei verströmten sie köstlichen Duft.

    Bald verzichtete Seld darauf, mit einem scharfkantigen Stein seinen Bart zu kürzen und ließ ihn wachsen, wie auch sein Kopfhaar.

    Die Tage wurden kürzer, doch die Sonne verlor kaum an Kraft. Inzwischen musste in Derod der Herbst längst vom Winter abgelöst worden sein, doch hier in Taheff blieb es so warm, dass Seld kaum zu dem Mantel greifen musste, der ihn schon in Hequis in kalten Nächten gewärmt und ihn auf seiner langen Reise begleitet hatte.

    Es war ein karges Leben, aber kein ärmliches. Während Seld in den Wimor-Bergen nur dank der Gnade der Bewohner eines nahen Dorfes überlebt hatte, war er hier in Taheff nicht auf die Hilfe anderer angewiesen. Er brachte Tag für Tag hinter sich, Nacht für Nacht, allein mit seinen Gedanken – er führte genau das Leben, nach dem er gestrebt hatte.

    Der Winter, der in diesem Land keiner war, ging in den Frühling über. Doch während in Derod zu dieser Jahreszeit das Leben in die Landschaft zurückkehrte und die Natur in prachtvollen Farben erstrahlte, verlor die Umgebung in Taheff nie an Farbe und Wärme. Im Frühling wurden nur die Gerüche intensiver.

    Bald hatte der Sommer das Land im Griff, und obwohl es sich Seld nicht hatte vorstellen können, nahm die Hitze in Taheff noch zu. Die Fischbestände an der Küste schienen weiter anzuwachsen und versorgten ihn reichhaltig. Irgendwann, als die Nächte wieder länger wurden und Seld sich zum Schlafen vor der Höhle auf seine Matratze aus Blättern gelegt hatte, blickte er in die Sterne und dachte bei sich, dass er kein Wort mehr gesprochen hatte, seit er sich von Mesala ver­abschiedet hatte. Kurz fühlte er den Drang, etwas zu sagen, irgendetwas, nur um zu sehen, ob er es noch konnte oder ob er seine Sprache verloren hatte.

    Er tat es nicht.

    Der Sommer wurde wieder zum Herbst, was Seld daran bemerkte, dass die drückende Hitze des Tages einer gleichförmigen Wärme wich. Bei seinen Streifzügen durch die Lande fand Seld wieder die Beeren, die bei seiner Ankunft an diesem Ort reif gewesen waren. Es musste also inzwischen ein Jahr vergangen sein. Und Seld stellte fest, dass er nicht mehr wusste, wie Mesala aussah. Die Gesichtszüge von Alema standen noch deutlich vor seinem inneren Auge, doch es war die Alema, die er vor vielen Jahren lieben gelernt hatte, die Frau, von der er jahrelang geglaubt hatte, sie wäre den Drachen geopfert worden, nicht diejenige, die er auf der Drachenspitze wiedergetroffen hatte. So wie Mesalas Geist aus seinen Gedanken verschwunden war, gab es nun auch kein Bild mehr von ihr in seiner Erinnerung. Es war, als hätte er sie nie kennengelernt.

    Zum ersten Mal fühlte Seld kurz den Wunsch, zurückzukehren. Er wollte wissen, was geschehen war, wie es Mesala ging, was aus Alema auf der Drachenspitze geworden war, ob noch jemand in Derod lebte, ob es Quint Tamat wirklich gelungen war, die Hequiser vor den Dämonen zu schützen.

    Dann verschwanden all diese Wünsche wieder, als habe er sie nie verspürt. Seld ließ den Blick über die Sandküste von Taheff schweifen. Dies war nun seine Heimat.

    Wieder kam ein Winter, der keiner war. Und schon bald wurde es wieder Frühling. Seld hatte sein altes Leben endgültig hinter sich gelassen.

    Und es holte ihn wieder ein an dem Tag, an dem er das Schiff sah.

    Seld stand gerade nackt im knietiefen Wasser, den Speer erhoben, den Blick auf den Schwarm grauer Fische gerichtet, der immer näher kam. Seine Füße waren im weichen Sand versunken, die Sonne strahlte heiß auf seinen gebräunten Rücken und immer wieder fielen vereinzelte Schweißtropfen aus seinem Bart ins Meerwasser. Trotz der Hitze hatte Seld immer noch nicht seine Haare und seinen Bart gestutzt. Das Speerfischen ging ihm schon lange leicht von der Hand, er kehrte nie ohne Beute zurück an Land.

    Der Schwarm kam näher, suchte den sandigen Untergrund ab, war bald in Stoßweite. Wie immer wollte Seld abwarten, bis der Schwarm um seine Füße strich, sodass es fast unmöglich war, zu verfehlen.

    Seld spannte die Muskeln seines rechten Arms an, konzentrierte sich auf einen besonders großen Fisch, als er im oberen Rand seines Gesichtsfeldes einen dunklen Fleck bemerkte. Er versuchte, diesen zu ignorieren und den Blick auf den Fisch geheftet zu halten, doch da sah er, dass dieser Fleck schaukelte und sich bewegte. Ohne seinen Kopf zu rühren, drehte er die Augen zum Horizont.

    Dann verließ augenblicklich jede Anspannung seinen Körper. Der Arm, der den Speer hocherhoben hielt, sank herunter. Seld drohte nach vorne zu kippen, musste mit dem rechten Bein einen Ausfallschritt machen, was die Fische verscheuchte und Sand im Wasser verwirbelte. Doch auch seine Knie gaben nun nach und er sank ins warme Wasser, das ihn hüfthoch umspielte. Der Speer glitt aus seiner Hand, die Steinspitze versank im Grund und das andere Ende des Holzstabes ragte neben dem knienden Seld aus dem Wasser.

    Er starrte zu dem Segelschiff, das zu seiner Rechten um das Kap der kleinen Bucht herumgesegelt kam. Fast wünschte er sich, in der Einsamkeit wahnsinnig geworden zu sein und auf ein Trugbild hereinzufallen, doch dies war keine Einbildung. Dieses Schiff war echt, seine Wahrnehmung spielte ihm keinen Streich.

    Es war die Ambria.

    Seld hatte auf die Entfernung keinerlei Anhaltspunkte, um das Schiff erkennen zu können, mit dem er vor anderthalb Jahren in dieses Land gekommen war. Und wie ein fernes Glimmen fühlte er, welche Person sich an Bord befand. Dieses Gefühl sorgte trotz der wärmenden Sonne für eine Gänsehaut auf seinem Rücken.

    Sie hatten ihn gesehen.

    Das Hauptsegel wurde eingeholt, das Schiff drehte bei, fuhr langsam in die Bucht ein. Selbst wenn Seld sich vor ihnen hätte verbergen wollen, wäre es längst zu spät gewesen. Und es hätte keinen Sinn gehabt. Mesala fühlte ihn wieder, wenn auch nur schwach, so wie er nun wieder sie.

    Langsam stand Seld auf, nahm den Speer aus dem Wasser, ging zurück zu seiner Höhle. Er streifte seine alten Kleider über, setzte sich auf einen Stein am Strand und wartete auf sie.

    Sie ließen sich

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