Der Zwillingsring
Von Stephanie Carle
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Der Zwillingsring - Stephanie Carle
Der Zwillingsring
Der Zwillingsring
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Der Zwillingsring
Die andere Zeit
Diese innerliche Zerrissenheit,
die tiefe triste Dunkelheit.
Die aufgetanen Wunden in der Seele,
welchen Weg man auch wähle.
Die Angst sich zu entscheiden,
welche Schmerzen werden bleiben?
Unweigerlich ändert sich das
Hier und Jetzt,
und weicht dem wirren Gedankennetz.
Sich das Leiden einzugestehen,
bedeutet einen Schritt weiter zu gehen.
Die Entschlossenheit seine innere Stimme zu fragen,
um nicht an der Qual zu verzagen.
An seine Überzeugungen zu glauben,
sich nicht seiner selbst zu berauben.
Auch in den schwersten aller Stunden,
sein Gewissen neu zu erkunden.
Seine inneren Werte wieder finden,
das starre Leitbild überwinden.
Den Glauben an sich selbst bewahren,
und seine Stärke neu erfahren.
Kein Falsch und kein Richtig,
nichts erweist sich als so wichtig,
als dass das eigene Selbst erkennt,
in welche andere Richtung, das Leben uns lenkt.
(Alecs Fellar)
Prolog
Romulus und Remus gründeten die Stadt Rom im April 753 vor unserer Zeitrechnung. Jetzt haben wir wieder April, nur knapp dreitausend Jahre später.
Rom gibt es nicht mehr. Nach dem letzten Weltkrieg war nichts mehr davon übrig. Eurasien gibt es nicht mehr, ebenso wenig Afrika und Australien. Was die Atombomben nicht gleich zerstörten, starb an den Folgen der Katastrophe und schließlich blieb uns nichts anderes übrig, als die alte Welt in der Tiefsee zu versenken.
Alles, was auf dieser Erde noch lebt, ist hier im ehemaligen Amerika. Ein letzter Kontinent, eine einzige zusammenhängende Landmasse; so hat es vor vielen Milliarden Jahren angefangen mit Pangaea, dem Urkontinent. Nach ihm benannten wir unser letztes verbliebenes Stück Land, unsere neue Heimat, die es eigentlich gar nicht mehr hätte geben dürfen. Gegen alle Widrigkeiten ist es uns dennoch irgendwie gelungen zu überleben und einen Neuanfang zu wagen. Doch hier in Pangaemerika ist nichts mehr wie zuvor…
Romulus und Remus hätte es eigentlich gar nicht geben dürfen. Um zu verhindern, dass in seines Bruders Familie Nachkommen entstünden, schickte Amulius Silvius seine Nichte Rhea in den Tempel, um dort Vestalin zu werden. Doch Mars, der Kriegsgott, durchkreuzte seine Pläne – so wie Kriege das immer tun. Er stieg vom Olymp herab und vergewaltigte Rhea. Schließlich gebar sie Zwillinge, die man ihr nach der Geburt entriss. Als ein Hirte einen Weidenkorb aus dem Tiber fischte, fand er darin zwei nackte Jungen und einen funkelnden Ring.
Als der Krieg vor vierzig Jahren sein blutiges Ende fand, war niemand mehr übrig außer ein paar Tausend Amerikanern, die um das nackte Überleben kämpften. Der Naturzustand hatte sich wieder eingestellt mit nur einer einzigen Regel: Der Stärkere überlebt.
Jetzt sitze ich hier am Bett meiner Tochter, meiner unschuldigen, kleinen Tochter, die nichts von all dem Elend und den Grausamkeiten, die sich zugetragen haben und die ich mitgetragen habe, ahnt. Wie sollte sie auch? Ich habe ihr nichts davon erzählt.
Wie hätte ich ihr auch sagen sollen, dass ihr Großvater das Fischen wiederentdeckte und dabei einen Ring aus dem Meer zog? Einen Ring, der in zwei Teile zerbrochen war. Und dass über diesen ein erneuter Kampf entbrannte; ein Kampf, obwohl es so nötig gewesen wäre, dass die Menschen zusammenarbeiteten. Sie hatten aus dem grauenvollen Krieg nichts dazu gelernt. Statt sich zusammenzuschließen und für ein gemeinsames Ziel zu kämpfen, teilten sich die Völker und der einzige Mann, der es mit meinem Vater hätte aufnehmen können, zog mit seiner Hälfte des Schmuckstücks und der dunkelhäutigen Bevölkerung Richtung Süden, während mein Vater sich hier im Norden zum König krönte.
Dieselbe Zwietracht, die auch Romulus und Remus kannten: Sie stritten sich um die Stadt, die sie gemeinsam gegründet hatten. So lange bis Romulus seinen Bruder erschlug. Vor seinem gewaltsamen Ende klammerte sich Remus hilfesuchend an die Kette, die sein Bruder um den Hals trug, mit dem einzigen Andenken an ihre leibliche Mutter. Während Remus fiel, zog er die Kette mit sich; sie fiel zu Boden und der ringförmige Anhänger zerbarst in zwei Teile. Was auch immer Romulus in Zukunft versuchte, der Ring ließ sich nicht mehr zusammensetzen.
Wir haben keine Autos mehr und auch keine Flugzeuge. All das ist Geschichte. Unsere Umwelt ist so belastet, dass wir selbst mit dem geringsten CO2-Ausstoß unser eigenes Todesurteil unterschreiben würden. Es gibt vereinzelt Untergrundbahnen, die auf Magnetismus und Elektrizität basieren, doch hauptsächlich im mittleren Teil Pangaemerikas – den früheren Nordstaaten der USA. Denn während mein Vater und sein Rivale in ihrer gegenseitigen Feindseligkeit gefangen waren, erhob sich unmittelbar vor ihren Augen, doch von ihrem hassgeblendeten Blick unbemerkt, ein neuer Feind, der immer größer und mächtiger wurde.
Er nennt sich King Lear, in Anlehnung an die gute alte Zeit und zu Ehren des Schriftstellers Shakespeare, der wohl einmal sehr bekannt gewesen war. Heute kennen wir seine Werke jedoch nur noch vom Hörensagen. King Lears Ziel ist es, den Zustand von Amerika wieder herzustellen, der vor dem Sezessionskrieg herrschte. Seine Vorgehensweise ist ebenso simpel wie grausam, aber effektiv. Im Grunde besteht sie aus drei Grundregeln. Erstens: Schwarze Männer werden versklavt, um billige Arbeitskräfte zu sichern. Zweitens: Schwarze Frauen werden getötet, um ihre Vermehrung zu stoppen und sie auszurotten, sobald das Land in seinem Sinne wiederaufgebaut ist. Drittens: Weiße Frauen werden unterdrückt, ihre Rechte aberkannt und unterstehen fortan gänzlich dem Willen der höheren weißen männlichen Rasse. Seine Krieger sind gut ausgebildet und sein Einflussbereich dehnt sich von Tag zu Tag weiter aus.
Und ich sehe meiner wunderschönen Tochter beim Schlafen zu. Beobachte, wie friedlich sie atmet, wie unbesorgt sie ist. Es bricht mir das Herz zu wissen, dass ich sie vor all den Gräueln nicht beschützen kann. Im Gegenteil: Je länger ich in ihrer Nähe bin, desto größer ist die Gefahr, in der sie schwebt. Denn sie ist die Auserwählte, die Eine, der ich meine Hälfte des Zwillingsrings vermachte. Die Eine von zwei Menschen, die von King Lear gejagt werden wird bis in den Tod, denn nur die Macht des geeinten Ringes vermag die Menschheit noch zu retten und seine tyrannische Herrschaft zu stoppen.
Der Ring ist gut versteckt, so dass niemand ihre Bestimmung erkennen und sie verraten kann. Mein kleines Mädchen. Sie war so tapfer, als ich ihr die Handfläche mit einem kurzen Schnitt auftrennte, um den Ring zu implantieren. Auch als ich die Wunde zunähte, gestattete sie sich nicht eine einzige Träne. Ich greife nach ihrer linken Hand und sehe nur noch eine feine Narbe, die sich in filigranen weißen Linien mit den Furchen im Handteller verbindet.
Sie ist einzigartig, meine Tochter, und sie besitzt Mut und Stärke; ich weiß, dass sie King Lear stürzen kann. Eines Tages, wenn sie demjenigen begegnet, der die andere Hälfte des Ringes bei sich trägt. Sie wird es schaffen; ich muss es einfach glauben. Sonst ist mein Opfer umsonst.
Sire, es wird Zeit.
Ich zucke zusammen. Mein Diener hat Recht. Höchste Zeit. Schon viel zu lange verweile ich an ihrer Seite. Warum nur fällt es mir so schwer, das Richtige zu tun? Es muss sein. Um ihretwillen.
Wenn die Ringe sich vereinen, werden die Ketten brechen und die Waffen bersten. So steht es eingraviert in dem wertvollen Schmuckstück, welches allein die Menschheit noch retten kann. Ich flüstere ihr die Worte noch einmal in ihre Träume, obwohl ich weiß, dass sie sie nie vergessen wird.
Sie wird Opfer bringen müssen, große Opfer und ich weiß nicht, ob sie daran zerbrechen wird. Doch mir bleibt einzig der Glaube an ihre Stärke. Es zählt nur, dass du am Leben bleibst, flüstere ich – mein eigenes Opfer vor Augen, ohne dich ist die Prophezeiung wertlos und die Welt verloren.
Sire!
Ich erhebe mich widerstrebend. Mein Herz ist schwer. Ein Kuss zum Abschied auf ihre zarte, weiße Stirn. Ich streiche ihr ein letztes Mal die Haare aus dem Gesicht und beginne, mich mit meinem unabwendbaren Schicksal abzufinden. Das ist nun einmal die Rolle, die ich in dem Ganzen spiele.
Leb wohl, mein Mädchen. Leb wohl, Anjella.
Kapitel 1
Die letzten Männer waren fort – und das nun schon so lange, dass keiner mehr an eine Rückkehr glaubte. Anjella hatte nie Hoffnungen gehegt; sie wusste, dass King Lears Streitmächte auch ihr Dorf eines Tages finden würden und womöglich rückte dieser Tag mit dem Untergang ihrer letzten Beschützer in greifbare Nähe. Sie wusste, dass es so kommen musste, denn – wenngleich sie kaum Erinnerungen an ihren Vater hatte – so mahnte sie der kaum durch die Hautfläche schimmernde Ring in ihrer Handfläche doch jeden Morgen an seine Worte. Das Heer würde kommen und sie mitnehmen – jede einzelne Frau, jedes einzelne Mädchen – und was sie in NeuAmerika erwartete, konnte Anjella sich nur vage vorstellen.
Doch Valessas Schmerz berührte sie zutiefst. Ihre beste Freundin hatte bis ans Ende verzweifelt daran festgehalten, dass die Männer zurückkamen. Vor allem Salmonn, der in letzter Zeit zu mehr als ‚nur ein Freund‘ für sie geworden war. Seit zwei Tagen war sie ohne Unterlass am Weinen und weder ihre drei Jahre jüngere Schwester Sarinja noch Anjella vermochten sie zu trösten.
Anjella war vor der Stadtmauer Kräutersammeln gegangen. Zwar war das eigentlich nicht nötig, weil der Boden innerhalb der Dorfgrenzen genauso fruchtbar war wie hier und eine ebensolch reichhaltige Ernte hervorbrachte, doch irgendwie fühlte Anjella sich außerhalb der kühlen, langsam in sich zusammenfallenden Steinmauern auf seltsame Weise frei.
Sie würde nie frei sein, dessen war sie sich bewusst; jeden Tag erinnerte sie die kaum wahrnehmbare Naht in ihrem Handteller mit immer neuer Grausamkeit daran. Sie würde niemals ein unbeschwertes Leben führen, denn ihre ganze Existenz stand untergeordnet zu dem großen Auftrag, den ihr Vater ihr als Erbe hinterlassen hatte. Ganz gleich welche Opfer du bringen musst, es zählt nur, dass du am Leben bleibst. Ohne dich ist die Prophezeiung wertlos und die Welt verloren.
Das Mantra hatte sich so tief in ihr Bewusstsein gegraben, dass sie ständig daran dachte. Seitdem sicher war, dass die Männer nicht zurückkehren würden, verstärkte sich dieses Wissen noch.
Anjella erhob sich seufzend. Es begann bereits zu dämmern und ewig konnte sie Valessas Verzweiflung nicht aus dem Weg gehen. Bedächtig klopfte sie sich den Staub von den Jeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Tag war nicht übermäßig heiß gewesen, ein durchschnittlicher Apriltag, aber dennoch schien sich am Himmel ein Gewitter zusammenzubrauen.
Nein – Anjella blieb wie angewurzelt stehen. Sie schluckte, während sie versuchte, die Tragweite dieser dunklen Wolke zu erahnen.
Sie kamen.
Das Feuer kündigte sie an.
Wenn sie Glück hatten, würde es bis morgen dauern, bis das Dorf angegriffen wurde. Womöglich ahnten die Soldaten nicht, dass sie ihrem Ziel bereits so nahe waren, dass ihr Feuer sie ankündigte. Oder es war ihnen schlichtweg egal, weil sie wussten, dass niemand ihnen entkam, niemand sie aufzuhalten vermochte, niemand die Mittel besaß, sich ihnen in den Weg zu stellen.
Es kostete Anjella große Überwindung, nicht einfach Richtung Wald davonzulaufen, was ihrer ersten Eingebung zufolge die einzige Rettung sein konnte. Aber das durfte sie nicht. Dieser Tag war nun einmal Teil ihrer Bestimmung und auch wenn sie sich dieser Tatsache stets bewusst gewesen war, so hatte sie doch nicht erwartet, dass er so plötzlich kommen würde.
Es war die erste Nacht, in der Anjella nicht das verzweifelte Schluchzen ihrer besten Freundin vom Schlafen abhielt, sondern ein seltsames Gefühl der Angst und Ungewissheit. Tatsächlich war Valessa ungewöhnlich schnell eingeschlafen und Sarinja war ohnehin ein Murmeltier.
Würden die Soldaten in der Nacht kommen? Oder warteten sie bis zum Morgengrauen?
Anjella befiel ein