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Palast der Verzweiflung
Palast der Verzweiflung
Palast der Verzweiflung
eBook354 Seiten4 Stunden

Palast der Verzweiflung

Von Kel

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Über dieses E-Book

Quinn Darkova kehrt nach einer langen Reise zurück und ist bereit, ihrem König zu dienen.
Lazarus Fierté konnte den Thron für sich beanspruchen, doch der ist hart umkämpft. Die Bluterben
erheben ihren Anspruch, doch das lässt Quinn nicht zu. Als sie ihrem König zur Seite steht, kommt
ihre Grausamkeit zum Vorschein und lässt die Menschen, die sie liebt, fassungslos zurück.

Wird Quinn Lazarus überzeugen können, dass sie einfach alles tun würde, um ihre Lieben zu
schützen?
Kann Lazarus seinen Thron halten oder trifft er falsche Entscheidungen, die am Ende das Haus
Fierté endgültig zerstören?

Anmerkung: Palst der Verzweiflung ist Band 4 der atemraubenden Fantasy-Saga um Quinn und
Lazarus, die ihr Ziel nun fast erreicht haben. Erlebe die schicksalhaften Entscheidungen gemeinsam
mit den beiden und finde heraus, ob ihre Liebe auch die dunkelsten Verstrickungen übersteht.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum20. Juni 2023
ISBN9786197713664
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    Buchvorschau

    Palast der Verzweiflung - Kel

    Kapitel 1

    Von Köpfen und Boten

    »Vertrauen ist, wenn es hart erkämpft wurde, nicht leicht zu brechen.«

    Lazarus Fierté, Seelenesser, der grüblerische König von Norcasta

    Schwer ruhte das Haupt, das die Krone trug.

    Das hatte Claudius ihm mit seinem letzten Atemzug gesagt, bevor er Lazarus zum König erklärte. Monate waren vergangen und er stimmte dem nicht mehr zu, als er es am Tag seiner Krönung getan hatte. Die Wahrheit war, dass die Krone selbst kein bisschen schwer war. Die Anforderungen, die das Königsein mit sich brachte, waren zwar lästig, aber nicht unüberwindbar. Die Königsspielchen machten ihm nichts aus, solange es seine Hand war, die die Spielfiguren bewegte.

    Was ihn jedoch mit der Zeit immer mehr belastete, war die Tatsache, dass eine Frau in Lederkluft mit einem verruchten Lächeln ihn einen Narren genannt hatte. Sie hatte ihm gesagt, dass die Krone nicht genug sein würde. Sie hatte beteuert, dass er mehr wollen würde.

    Und sie hatte recht.

    Lazarus rutschte auf den Holzpaneelen hin und her, die eisernen Nagelköpfe drückten unangenehm gegen seine Oberschenkel. Seine Finger krümmten sich um die metallenen Armlehnen, während er den Adligen vor ihm zuhörte, wie sie über irgendwelche Umstände schwafelten, die sie von ihm in Ordnung gebracht haben wollten. Sie hatten den Eindruck, dass er nur dazu da war, ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Eine Art glorifizierter Butler. Lazarus konnte sich dafür bei den Bluterben von Claudius bedanken. Auch nach seiner Besteigung des Throns erhoben sie noch immer einen starken Anspruch im Norden. Angesichts der starken Spannungen und der gespaltenen Loyalität der Adligen musste er mit den südlichen Lords feinfühlig umgehen – bis er einen Weg fand, mit den drei Kindern, die Zwietracht in seinem Land stifteten, fertigzuwerden.

    Wieder einmal wanderte seine Aufmerksamkeit zu einer Frau, die er seit mehreren, sehr langen Monaten nicht mehr gesehen hatte. Seine Finger krümmten sich fester um die Eisengriffe.

    Draeven trat vor und hustete zweimal. »Eure Hoheit, wenn ich vorschlagen dürfte, dass wir die öffentliche Audienz für heute vertagen?« Seine linke Hand stand mit beiden Armen hinter dem Rücken und mit neutraler Miene neben ihm.

    Lazarus nickte. »Nun gut«, sagte er und freute sich, dass er von dem ständigen Gejammer des Lords, der gerade vor ihm stand, befreit wurde. Er warf einen Blick auf den fraglichen kleinen Mann. Er war in der Mitte runder, als es sich für einen Lord seines Alters gehört, und seine Tunika saß am Bauch zu eng und an den Schultern zu locker. Von der erhöhten Plattform des Throns aus sah Lazarus mehr, als ihm lieb war – den blassen Teint des Mannes, der unter den Kronleuchtern klamm wirkte. Er fand den Schweiß auf seiner Stirn fast genauso abstoßend wie seine hohe, schrille Stimme. »Wir machen ein andermal weiter.«

    Der Lord stolperte einen Moment über seine Worte, bevor er murmelte: »Sehr wohl, Eure Hoheit.«

    Lazarus wartete die kurze Zeit, die der Mann brauchte, um zu gehen. Draeven schickte die Dienerschaft kurz darauf weg.

    Als sie nur noch zu zweit waren, seufzte seine linke Hand und ließ den Anschein von Förmlichkeit fallen. »Du driftest schon wieder ab, Lazarus.«

    »Ich bin es leid, mich den Launen kleinerer Menschen zu beugen«, antwortete Lazarus knapp und lehnte sich in dem alten Stuhl zurück. Er gewöhnte sich langsam an die Steifheit des Stuhls. Er erinnerte ihn ständig an den Thron, den er gewählt hatte, und an die Position, in der er sich jetzt befand.

    »Diese ›kleinen Menschen‹ sind alles, was zwischen Leone und den Bluterben steht. Sie haben nichts mehr zu verlieren, seit ihr Vater sein Land an seinen Freund und nicht an seine Kinder verschenkt hat«, sagte Draeven mit steifer Miene.

    »Das ist nicht ganz richtig«, sagte Lazarus. »Sie haben immer noch ihr Leben zu verlieren.«

    Draeven erstarrte. »Selbst wenn es eine Option wäre, sie zu töten, haben wir niemanden, der nah genug herankommt, um den Job zu erledigen.« Lazarus hob die Augenbrauen und Draeven ergänzte: »Niemand, der im Moment hier ist.«

    »Sie wird zurückkommen.«

    »Vielleicht«, nickte Draeven und senkte seine Stimme ein wenig. »Aber wann? Es sind schon vier Monate vergangen und wir haben nichts weiter gehört als das Geflüster, das bis zu unserer Tür getragen wurde. Wir hören von den Dingen, die sie getan hat, aber wo ist sie? Und warum ist sie noch nicht gekommen – wenn sie es überhaupt tun wird?«

    Lazarus knirschte mit den Zähnen und löste seine Finger vom Thron, obwohl er den Drang verspürte, ihn zu zerquetschen.

    »Sie wird zurückkommen«, wiederholte er. Sie hat es geschworen.

    »Das ist schön und gut«, sagte Draeven, »aber in der Zwischenzeit hast du ein Land zu regieren, und auch wenn du den Lords nicht gerne zuhörst, bist du nicht gerade in der Lage, es anders zu machen. Unabhängig von den Bluterben brauchst du ihre Unterstützung, oder du riskierst einen Krieg – nicht nur gegen dich, sondern gegen uns alle.«

    Lazarus wandte seinen Blick von seiner linken Hand und Freund ab – einem der einzigen wahren Freunde, die er hatte. »Gib dem Mann, was er will, im Rahmen der Möglichkeiten. Ich kann nicht jeden Wunsch erfüllen, sonst halten sie mich für schwach, aber ich kann versuchen, sie zu besänftigen … zumindest, bis die Sache mit den Erben geklärt ist.«

    Draeven nickte. »Ich denke, das wäre klug.«

    Er wollte gerade gehen, als es an der Tür klopfte. Ohne auf einen Befehl zu warten, wurde das schwere Holz knarrend geöffnet.

    »Eure Hoheit bittet darum, dass man ihn in Ruhe lässt«, begann Draeven.

    »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Gulliver und trat durch die Tür, schloss sie aber nicht. Seine staubgrauen Augen blickten misstrauisch drein und seine wettergegerbten Hände zitterten leicht, während sie eine Holzkiste zwischen sich hielten. »Wir haben eine Nachricht für Eure Hoheit erhalten, und ich denke, ähm … dass sie sofortige Aufmerksamkeit erfordert.« Der ältere Mann presste die Lippen zu einer flachen Linie zusammen und wartete auf Lazarus’ Befehl.

    »Wer hat die Nachricht geschickt?«, fragte Draeven, bevor Lazarus zu Wort kommen konnte.

    »Das hat der Bote nicht gesagt. Nur, dass Eure Hoheit es wissen würde, wenn er sie sieht.«

    Draeven und Lazarus tauschten einen Blick aus.

    Es gab nur wenige Menschen auf diesem Kontinent, die ein Paket an den jetzigen König von Norcasta schicken würden und die Dreistigkeit besaßen, dabei eine solche Vermutung anzustellen. Bis auf eine Person waren alle von ihnen selbst Herrscher.

    Eine Hitze breitete sich in seinen Gliedern aus, als Lazarus vom Thron aufstand und seinen Vasallen nach vorn winkte. »Bring es mir und schließe die Tür hinter dir!«

    Gulliver bewegte sich und drückte die Kiste fester an sich, bevor er die schwere Eichentür schloss. Seine Schritte hallten in dem leeren Saal wider, als er die Länge des Thronsaals durchquerte. Lazarus stieg einige Stufen hinunter und kam ihm auf halbem Weg entgegen.

    Sein Blut pulsierte heftig und das Pochen ließ die anderen Geräusche verblassen. Gulliver kniete auf den Sandsteinstufen nieder und überreichte die Nachricht. Lazarus griff nach dem goldenen Scharnier, das den Deckel verschloss.

    Seine Lippen öffneten sich für einen Moment, als er den Inhalt in Augenschein nahm.

    »Was ist es?«, fragte Draeven und schritt vorwärts. Lazarus griff hinein und packte das Geschenk am Haar. Er hielt es im Licht hoch, damit sie es sehen konnten. »Ist das …«

    »Ein abgetrennter Kopf«, beendete Lazarus mit einem Nicken. Das Gesicht gehörte zu einem Mann oder zu einer sehr hässlichen Frau. Bei der blassen Haut und den leeren Augenhöhlen war das schwierig zu sagen. Aus dem Hals tropften Säfte. Der Geruch, der von ihm ausging, war geradezu abscheulich. Es war klar, dass die Person, an der dieser Kopf befestigt gewesen war, schon eine ganze Weile tot war. Zwischen seine Lippen war ein Stück Pergament gestopft.

    Lazarus griff nach vorn und zerrte das Papier aus dem Mund. Der Kiefer klappte auf und mehrere verfaulte Zähne fielen heraus und klapperten auf die Stufen.

    »Das ist ja widerlich«, sagte Draeven und drehte seinen Kopf, um sich mit dem Handrücken die Nase zuzuhalten. »Ich glaube, mir wird schlecht.«

    Lazarus legte den Kopf zurück in die Kiste, und Gulliver schloss sie schnell wieder.

    »Ich bitte um Entschuldigung, Lord Adelmar«, sagte Gulliver zu Draeven. Seine linke Hand winkte ihn ab, obwohl seine Augen von dem Gestank tränten.

    Lazarus brach mit seinem Daumennagel das Wachssiegel und entfaltete die Nachricht.

    Es waren nur vier Worte, aber sie waren genug.

    Zum ersten Mal seit Monaten lächelte Lazarus.

    »Und?«, fragte Draeven. »Was steht drin?«

    Lazarus faltete den Brief wieder zusammen und steckte ihn in seine Tasche. Er machte auf dem Absatz kehrt und setzte sich wieder auf den Thron aus Eiche und Eisen. Das Unbehagen des Stuhls störte ihn nicht mehr so sehr wie noch vor ein paar Minuten. Er wusste, warum, aber das war im Moment nicht wichtig, nicht, wenn die Monate der Unruhe fast vorbei waren.

    »Sie kommt nach Hause.«

    Kapitel 2

    Eine böse Rückkehr

    »An manchen Tagen zahlt es sich aus, eine Person mit Macht zu sein, aber meistens sind es die Menschen ohne Macht, die wahre Freiheit genießen.«

    Quinn Darkova, Angstwandlerin, rechte Hand des Königs von Norcasta

    Einen Monat später …

    Ihre Lippen waren rissig und ihre Lungen brannten, aber trotz der sengenden Hitze war Quinn noch nie so froh, die Tore von Leone zu sehen. In ihrer gesamten Zeit in Norcasta hatte sie die Hauptstadt nur zweimal besucht. Das erste Mal, um verkauft zu werden, und das zweite Mal, um gehängt zu werden, aber auch aus dieser misslichen Lage hatte sie einen Ausweg gefunden, so wie sie es immer tat. Die Kalksteinziegel, die gut zehn Pferde hoch aufgetürmt waren, wirkten jedoch nicht so einschüchternd, wenn die Wachen auf der Mauer Rot und Gold trugen. Die Farben von Lazarus’ Haus. Die Farben des neuen Königs.

    »Die Tore sind geschlossen«, sagte Risk über das Hufgetrappel hinweg, als sie sich näherten. Ihre Stimme war durch das weiße Tuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hatte, um den Sand und die Sonne abzuhalten, gedämpft.

    »Das wird kein Problem sein«, antwortete Quinn. Ein verruchtes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die große Mauer erreichten und zum Stehen kamen. Die beiden Wachen vor der Mauer sahen sie an.

    »Die Tore sind für heute Abend geschlossen. Nichts rein, nichts raus! Befehl des Königs«, erklärte der rechte.

    »Ihr müsst euch irren«, antwortete Quinn ihnen in kaltem Ton. »Ich bin die rechte Hand des Königs, und Eure Hoheit würde niemals …«

    Zwei schallende Lacher drangen an ihr Ohr. Risk schaute zu ihr hinüber, und das Wenige, was von ihren Zügen durch das Gewand zu sehen war, wirkte unruhig. Quinn verengte ihre blauen Augen voller Verachtung. Ihre Finger verkrampften sich um die Zügel ihres Pferdes.

    Sie konnte sich nur mit Mühe beherrschen, nicht auszuholen.

    »Wenn du wirklich die rechte Hand des Königs wärst, wüsstest du, dass Eure Hoheit heute Abend eine große Veranstaltung im Palast hat«, begann die linke Wache.

    »Veranstaltung?«, fragte Quinn.

    »O ja«, antwortete die rechte. »Die meisten Adligen aus der südlichen Region sind hier, um an einem Ball teilzunehmen. Seine linke Hand hielt es für angebracht, dass kein Mann, keine Frau, kein Kind und kein Tier diese Mauern betreten oder verlassen darf, solange so viele reiche Landbesitzer hier anwesend sind.« Er gluckste und seine kräftige Statur bebte dabei.

    »Du siehst also«, begann der Linke wieder, »ob rechte Hand oder nicht, die Linke hat es so entschieden, was gleichzeitig bedeutet, dass der König es so entschieden hat – und solange uns nichts anderes gesagt wird …«

    An diesem Punkt war Quinns Geduld am Ende.

    Sie ließ die Zügel ihres Reittiers los, hob beide Hände und rief ihre Angst hervor. Beide Soldaten brachen augenblicklich zusammen, ihre Körper zitterten und schlotterten im Dreck, nicht viel anders, als sie es beim Lachen getan hatten. Quinn grinste, als oben auf der Mauer Schreie ertönten.

    Risk seufzte nur. »War das nötig?«

    »Sie haben mich genervt«, antwortete Quinn und beobachtete, wie ein Bogenschütze das Ziel anvisierte. Mit einer Handbewegung erschien eine Illusion an ihrer Stelle, und Quinn und Risk flüchteten die Mauer entlang. Pfeile regneten dort nieder, wo sie kurz zuvor noch gestanden hatten, und bohrten sich schadlos in den felsigen Boden.

    Wie leicht sich die Skeevs doch täuschen ließen. Quinn würde das genießen.

    »Was hast du jetzt vor?«, rief Risk und lenkte ihr Pferd mit Leichtigkeit auf die schattige Seite der Mauer.

    »Wie gut kannst du klettern?«, rief sie zurück. Vor ein paar Monaten hätte sie so etwas noch nicht gewagt, aber ihre Schwester war eine Kämpferin – genau, wie sie es vorausgesagt hatte. Risk hatte sich entschieden, vor allem für sich selbst zu leben und ihren unterernährten und schwachen Körper in ein intensives Training zu stürzen. Der heutige Tag war nur ein weiterer von vielen Tests, die Quinn ihnen auferlegt hatte, um sicherzustellen, dass sie – körperlich und geistig – bereit für die unvermeidliche Rückkehr nach Leone war.

    Risk enttäuschte sie nicht.

    Mit einem Schnaufen sprach sie in tiefer Stimme zu dem Tier, wobei sie es direkt an die Wand führte. Sie stemmte sich hoch, um auf dem Rücken des Tieres zu balancieren, und im Vertrauen auf die junge Bestienzähmerin ließ es sie gewähren. Ihre flinken grauen Finger tasteten nach den Rissen im Stein, während sie sich langsam nach oben arbeitete. Quinn beobachtete sie voller Stolz und schnappte sich eine Dappa-Frucht aus ihrem Beutel, um sie zu verdrücken, während sie wartete. Die Wachen hatten genug Spaß an der Illusion, die einige hundert Meter entfernt stattfand. Für sie hatten Quinn und Risk ihren Platz an den Toren nicht verlassen, aber irgendwie hatten sie es geschafft, den Pfeilen auszuweichen.

    Das verwirrte die Wachen genauso sehr, wie es Quinn amüsierte.

    Risk erreichte die Oberseite der Mauer und aus ihren Händen wuchsen Klauen, mit denen sie sich die letzten Meter hochziehen konnte. Sie zog sich über die Kante, und ihr Körper verschwand für eine kurze Sekunde, bevor er wieder auftauchte. Das weiße Tuch, das sie um ihr Gesicht gewickelt hatte, war abgefallen, und im Sonnenuntergang schimmerten ihre Onyxhörner maliziös.

    Quinn lächelte, als Risk ein Seil aus ihrer Tasche zog, es um einen der Steinpfosten band und das andere Ende losließ. Quinn stieg von ihrem Pferd ab und verpasste ihm einen Klaps auf den Hintern, damit es in die Ferne rannte, und wiederholte die gleiche Aktion bei Risks Pferd. Ihre Schwester sah ihnen mit einer Art traurigem Verständnis hinterher, während Quinn zur Mauer schlenderte und das Ende des Seils ergriff.

    Ihr hölzerner Stab hing an ihrer Seite und der Beutel, in dem sich ihr einziger weltlicher Besitz befand, an der anderen. Sie griff nach dem rauen Seil und war dankbar für die Monate, die sie als Gladiatorin in Jibreal verbracht hatte. Eine Höhe von zehn Pferden war nichts, wenn sie keinen Windwyvern im Rücken hatte, der sie bei einem einzigen falschen Fußtritt in den Tod zu schicken drohte.

    Quinn löste die Illusion an den Toren auf und machte sich ans Klettern. Ihre Hände waren rau und schwielig, mehr als sie es jemals zuvor gewesen waren. Das machte es einfacher, das Seil zu halten, während sie die Spitzen ihrer Stiefel in den unebenen Mörtel der Mauer grub. Winzige Fäden glitten zwischen den Steinen hervor und rutschten unter ihrem Stiefel auf den Boden, der nun tödlich weit unter ihr lag.

    Quinn spürte keine Angst, als sie die Mauer erklomm. Die Geräusche eines plötzlichen Handgemenges über ihr beschleunigten ihr Tempo. Risk war zwar clever und trittsicher, aber sie hatte noch einen weiten Weg vor sich, bevor sie Quinn in einem Duell besiegen könnte. Das Einzige, was sie im Nahkampf zu bieten hatte, war ihre Panik.

    Wie ein in die Enge getriebenes Tier schlug sie unter Druck um sich.

    Das war das Einzige, was Quinns Kräfte in Schach hielt, als sie sich über die Mauer hievte. Ihr Magen blähte sich wegen der Anstrengung auf. Quinn bereute langsam, dass sie die Dappa-Frucht während des Wartens gegessen hatte, aber als sie die drei Leichen zu Risks Füßen erblickte, verflog jeder Gedanke an Unwohlsein. Krallenspuren zerschnitten ihre Oberkörper und bluteten purpurrot auf die sandigen Steine.

    Sie rollte sich über die Kante, richtete sich auf und begutachtete Risks tränende Augen und gefletschten Zähne. Quinn hob beide Hände und näherte sich mit langsamen, gemessenen Schritten.

    »Das hast du gut gemacht, Risk, aber wir müssen jetzt gehen.« Sie sprach ruhig, ihre Stimme war nicht ganz warm, aber zumindest auch nicht kalt. Sie legte ihre Handfläche auf Risks Schulter und neigte ihren Kopf zur Seite.

    Dies war ein großer Moment.

    Als es das erste Mal passiert war, war der Zusammenbruch, der darauf folgte, seelisch zermürbend gewesen. Risk hatte nicht den Wunsch zu töten, so wie Quinn ihn hatte, aber nach Monaten, in denen sie wissentlich oder unwissentlich in ähnliche Situationen gezwungen worden war, wurde sie langsam kaltherzig dem gegenüber. Abgehärtet.

    Ihre Unterlippe zitterte immer noch, aber Risk presste die Lippen zusammen, holte tief Luft und blinzelte die Tränen weg. Ihre unnatürlich blauen Augen wanderten von den Leichen zu ihren Füßen zu Quinns Gesicht. Sie nickte. »Ich bin bereit.«

    Quinn beleidigte sie nicht, indem sie sie verhätschelte. Sie war noch dabei, ein Rückgrat zu entwickeln. Sie nickte einfach und deutete über die Schulter ihrer Schwester. »Zum Palast geht es da lang. Wir müssen von hier«, sie wies auf die Mauer, »dorthin springen und dann die Straße nehmen.« Quinn ahmte die Bewegungen mit ihren Fingern nach und deutete auf das flache Dach, auf das sie springen mussten.

    Risk holte tief Luft, ließ sie langsam wieder hinaus und nickte. »In Ordnung«, sagte sie, »aber dieses Mal gehst du vor.«

    Quinn zog eine Augenbraue hoch und ihre Mundwinkel zogen sich nach oben, bevor sie sich an zwei steinernen Zinnen festhielt und sich wieder hochzog. Als sie oben auf der Mauer stand und Leone überblickte, war das Einzige, was höher als sie war, der Palast selbst. Im Zentrum der Stadt erhob sich ein mit Sandstein und Sklaven erbautes Gebäude. Während die meisten Herrscher Marmor oder Gold verwendeten, um ihren Reichtum zu zeigen, hatte sich ein früherer König für eine aufwendige Bauweise entschieden, die ihm Bedeutung verlieh. Es glitzerte nicht wie Ilvas und war auch nicht so bedrohlich wie die Tempel in Liph. Jibreal bevorzugte Marmorsäulen und Baugerüste. Bangratas hatte eine schlichtere Herangehensweise bevorzugt – Schlösser, die mit Reichtümern gefüllt waren, anstatt prunkvollen Gebäuden.

    Nur hier in Leone hatte sie jemals eine ebenso schöne wie schreckliche Monstrosität gesehen.

    Sie betrachtete sie nur einen Moment lang, bevor sie sich von der Höhe der Mauer stürzte. Der Fall war eine kurze Sache. Ihre Beine trafen auf das gehärtete Lehmdach und gaben nach, sodass sie den Rest des Weges abrollen konnte, ohne sich zu verletzen.

    Quinn stand auf und wischte sich den orangebraunen Staub von ihren Ledern. Sie drehte ihr Kinn hoch und sah Risks zitternde Gestalt auf dem Vorsprung schwanken.

    »Spring einfach!«, rief sie nach oben. Ihre Schwester warf ihr einen säuerlichen Blick zu, bevor sie die Knie beugte und sprang. Obwohl sie klein und schnell war, hatten ihre Beine nicht genug Muskeln, um große Kraft in den Sprung zu stecken. Ihre Stiefel streiften den Rand des Daches, als sie über die Seite rutschte. Quinns Magen sprang ihr förmlich in die Brust, während sie zum Rand rannte.

    Eine graue Hand mit schwarzen Krallen hatte sich in die Seite des Gebäudes gebohrt. Das war das Einzige, was Risk vor dem Absturz bewahrte. Quinn beugte sich hinunter und griff nach ihrer anderen Hand. Der Schweiß von ihren Handflächen und der Schmutz auf Risks Haut verteilten sich überall, als Quinn sie vom Sims hochzog.

    Risk ließ sich auf den Bauch fallen und stöhnte.

    »Uff«, stöhnte sie. »Eines Tages wirst du mich noch umbringen.«

    Quinn schnaubte und war froh, dass die Melancholie des Tötens sie bereits verlassen hatte. Sie drehte sich um und schirmte ihre Augen gegen die sterbende Sonne ab. Der Himmel färbte sich purpurrot und violett, als sie auf die Dächer der Häuser zeigte. »Wenn wir jedes von ihnen zum Abstieg nutzen, können wir noch vor Einbruch der Dunkelheit den Boden erreichen und den Rest des Weges zu Fuß gehen.«

    »Klingt ziemlich einfach«, sagte sie und kletterte auf ihre Füße. Sie schielte zu Quinn und blickte dann über die Stadt. »Wo ist der Haken?«

    Quinn stieß einen rauen Atem aus und ging zum Rand des Daches. Sie schenkte ihr ein böses Grinsen und sagte: »Die ganze Stadt wird auf der Suche nach uns sein.«

    Dann sprang sie von der Kante. Der Fall war nicht ganz so steil und sie musste nur die Knie beugen, aber der Aufprall rüttelte trotzdem an ihren Knochen. Quinn wiederholte die Aktion – Risk direkt hinter ihr, den ganzen Weg an der Seite der Gebäude hinunter zu den grob gepflasterten Straßen darunter. Ihre Schritte waren leise und sicher, während sie durch die Schatten von Leone schlichen, und Quinn machte sich erst die Mühe, sie mit einer Illusion zu verdecken, als der Palast vor ihnen stand.

    Sie gingen direkt durch eine Gruppe von Wachen hindurch, ungesehen von allen. Risk umklammerte ihre Hand und biss die Zähne zusammen, um keinen Laut von sich zu geben, als sie den Männern für ihren Geschmack etwas zu nah kamen. Ihre Iris hatte sich in katzenartige Schlitze verwandelt und schwarze Flecken prangten im schwachen Licht auf ihrem Gesicht.

    Sie waren Männern schon vorher zu nahe gekommen. Quinn hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, nachdem Risk gut genug mit einer Klinge oder ihren Krallen umgehen konnte, um sich zu verteidigen. Aber die Nähe brachte immer die wilde Magie in ihr zum Vorschein. Diesmal waren es die Flecken eines Gepards, und wenn sie rennen wollte, wäre sie zweifellos schneller, als Quinn mithalten könnte. In der Vergangenheit waren es andere Dinge gewesen. Flügel. Ein Schwanz. Krallen. Hufe.

    Sie hatte noch nie einen Bestienzähmer gesehen, der so stark war, dass sich sein Körper durch seine Angst veränderte, aber anscheinend war Risk das – denn so sicher, wie es geschah, hatte sie aber auch keinerlei Kontrolle darüber.

    Quinn drückte ihre Hand fester, als sie die Stufen des Palastes hinaufgingen, der im Vergleich zu den Gästen, die sich dort tummelten, schmutzig war. Zwei breite Doppeltüren standen zur Begrüßung offen, und obwohl sie wusste, dass diese nicht nur für sie bestimmt waren, gefiel ihr die Vorstellung.

    Im Inneren zogen sich bunte Kacheln mit Götterbildern über die gesamte Decke, die nur durch die tausenden von Kerzen, die überall aufgestellt waren, zu erkennen waren. Quinn stockte der Atem, als sie das Foyer des großen Palastes betrachtete – die eierschalenfarbenen Böden und die eleganten Schuhe, die sie berührten. Alle Menschen, die sie sah, waren auf ähnliche Weise gekleidet, mit kostbaren Stoffen in Form von Kleidern oder Tuniken. Sie blickte auf ihre eigenen schmutzigen Lederhosen hinunter und zupfte das weiße Tuch, das sie um den Kopf trug, beiseite.

    »Wir sind da«, sagte Risk. »Was jetzt?«

    Quinn bahnte sich langsam einen Weg durch die Adligen und kam zwischen zwei riesigen Türen zum Stehen. Sie wusste sofort, was dahinter lag.

    Der Thronsaal.

    »Jetzt«, sagte sie, »legen wir einen Auftritt hin.«

    Risk runzelte die Stirn, ihre Augenbrauen zogen sich unruhig zusammen. Quinn deutete auf die Ecke des Raumes, in der Essen und Trinken für die wohlhabenden Gäste bereitstanden. Risk schaute zögernd zwischen ihr und dem Tisch hin und her.

    »Bist du sicher …«

    »Geh! Warte dort drüben und ich komme nach, sobald ich dem König meine Ehre erwiesen habe.«

    Risk warf einen Blick quer durch den Raum zu dem mächtigen Thron, auf dem ein noch mächtigerer Mann saß. Sie erschauderte einmal und machte auf dem Absatz kehrt, um zum Essen zu gehen, so wie Quinn es von ihr erwartet hatte.

    Erst als Risk aus ihrem Blickfeld verschwunden war, ließ sie die Illusion, die sie verbarg, fallen. Mehrere Leute, die direkt neben ihr standen, stießen einen erschrockenen Schrei aus. Sie ließ deren Überraschung durch den Raum sickern, während sich das Geflüster schnell bis zum Thron verbreitete.

    Quinn schaute auf. Augen, schwarz wie Mazzulahs Herz und heiß wie die Sonne selbst, blickten sie an. Der Raum war voller Menschen – Adlige und Diener, Vasallen wie sie selbst und Kurtisanen – und doch, als sie sich langsam ihren Weg durch die weite Fläche bahnte, gab es

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