Banshee Livie (Band 3): Sterben für Profis
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Buchvorschau
Banshee Livie (Band 3) - Miriam Rademacher
Inhaltsverzeichnis
Titel
Informationen zum Buch
Impressum
Widmung
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Epilog
Dank
Miriam Rademacher
Banshee Livie
Band 3: Sterben für Profis
Fantasy
Banshee Livie (Band 3): Sterben für Profis
Als Livies Herz von einem Moment zum anderen wieder zu schlagen beginnt, glaubt sie zunächst an eine Art Belohnung. Und auch ein Aufenthalt an der Küste Cornwalls klingt im ersten Moment eher verlockend als abschreckend. Doch schon bald wäre sie lieber wieder tot in ihrer Dachkammer als lebendig in Venice Garden. Denn an diesem Ort stellt sich nicht mehr die Frage, ob, sondern wie viele ihrer Freunde sterben müssen.
Die Autorin
Miriam Rademacher, Jahrgang 1973, wuchs auf einem kleinen Barockschloss im Emsland auf und begann früh mit dem Schreiben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Osnabrück, wo sie an ihren Büchern arbeitet und Tanz unterrichtet. Sie mag Regen, wenn es nach Herbst riecht, es früh dunkel wird und die Printen beim Lesen wieder schmecken. In den letzten Jahren hat sie zahlreiche Kurzgeschichten, Fantasyromane, Krimis, Jugendbücher und ein Bilderbuch für Kinder veröffentlicht.
www.sternensand-verlag.ch
info@sternensand-verlag.ch
1. Auflage, Oktober 2018
© Sternensand Verlag GmbH, Zürich 2018
Umschlaggestaltung: Juliane Schneeweiss
Lektorat: Sternensand Verlag GmbH | Martina König
Korrektorat: Jennifer Papendick
Satz: Sternensand Verlag GmbH
Druck und Bindung: Smilkov Print Ltd.
Alle Rechte, einschließlich dem des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
ISBN Taschenbuch: 9783038960041
ISBN E-Book epub: 9783038960034
In Erinnerung an Inga Wagner
Auch wenn du keines meiner Bücher mehr lesen konntest,
weiß ich doch, dass sie dir gefallen.
Prolog
England im Jahre 1230
Der Bärtige in dem teuren Zweireiher gehörte in diese Zeit und an diesen Ort wie ein Ferrari in die Renaissance. Doch er klopfte selbstbewusst an die schwere Holztür, die zu einer schlichten Behausung inmitten eines verwilderten Gartens gehörte.
»Wer da? Wir öffnen niemandem nach Einbruch der Dunkelheit. Es sei denn, er darf sich unser Freund nennen«, drang die kraftvolle Stimme eines Mannes zu ihm heraus.
Der Bärtige verzog das Gesicht und antwortete: »Ich bin kein Feind, so viel kann ich versprechen. Jedoch schimpfe ich mich auch keines Menschen Freund. Und der Ihre bin ich schon gar nicht, Scotus, Sie alter Spinner.«
Ein Riegel wurde zurückgezogen. Mit einem Ruck öffnete sich die Tür und ein etwa fünfzigjähriger Mann, mit einem umgedrehten Holzeimer auf dem Hinterkopf, der seine Stirn bis zu den Augenbrauen bedeckte, erschien auf der Schwelle. Er schien empört.
»Spinner? Spinner werde ich genannt? Ich bin ein Philosoph! Ein Alchemist und Astrologe! Und wer sind Sie, dass Sie mich ungestraft als Spinner bezeichnen dürfen?«
»Sylphus nenne ich mich ganz gern. Wie wollen Sie mich nennen?«, fragte der Bärtige gelassen.
»Allmächtiger«, entfuhr es dem Mann mit der seltsamen Kopfbedeckung, während er sich an die Brust griff, als hätte sein Herz angedroht, ihm den Dienst zu versagen.
»Allmächtiger? Ja. Das geht auch. Darf ich eintreten?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, schob sich der Besucher ins Innere des Hauses und sah im Schein der Feuerstelle auf zwei Gestalten, die an einem Holztisch vor vollen Suppentellern saßen. Die eine war ein schmächtiger Junge mit blondem Haar, den ein Betrachter auf höchstens zwölf Jahre schätzen würde. Der andere war ein kleinwüchsiger Mann mit eisgrauen Locken.
Der Bärtige nickte den beiden zu. »Und hier sitzt der großartige Alchemist, den ich gesucht habe. Hallo, Zach, du wächst wohl wirklich nicht mehr, oder? Und das ist also Liam. Der Junge, der die Welt ins Chaos stürzte und letztendlich doch zu ihrer Rettung beitrug. Hallo, Liam, wir kennen uns noch nicht. Fühlst du dich wohl im dreizehnten Jahrhundert? Keine Playstation vorhanden, nicht wahr? Sehr bedauerlich.«
»Diese Zeit ist der, in welche Liam hineingeboren wurde, ähnlicher als die der Spielekonsolen«, erwiderte der kleine Mann namens Zach und musterte den Neuankömmling mit wenig Begeisterung. »Ist es unter deiner Würde, dich den Gepflogenheiten und dem Kleidungsstil der Zeit anzupassen, in der du dich herumtreibst, Sylph?«
Im Laufe dieses Wortgeplänkels hatte der Mann mit dem Eimer auf dem Kopf die Haustür erneut verriegelt. Jetzt lief er wie ein aufgescheuchtes Huhn zur Feuerstelle und rief: »Eine heiße Suppe. Eine schöne heiße Suppe für den Dämon, die wird ihm schmecken.«
Der Bärtige runzelte die Stirn. »So werde ich nicht gern genannt. Sylph, meine ich. Dämon geht in Ordnung.«
Er zog einen dreibeinigen Hocker heran, setzte sich Zach gegenüber an den Küchentisch und ließ sich von Michael Scotus eine Schüssel Suppe servieren. Ohne den Eigentümer der Hütte eines Blickes zu würdigen, fragte der Dämon seinen Tischnachbarn: »Warum trägt unser Gastgeber einen Eimer auf seinem Kopf spazieren?«
»Vorhersehung. Er hat sich selbst geweissagt, dass ein kleiner Stein ihn am Kopf treffen und ihn das Leben kosten wird. Wann das sein wird, weiß niemand. Auch Michael nicht. Doch seitdem bastelt er an dem perfekten Kopfschutz, um seinem Schicksal zu entgehen«, antwortete Zach und zog den Jungen namens Liam, der verängstigt auf den Besucher starrte, näher zu sich heran.
»Dann fürchte ich, hat er noch eine Menge Arbeit vor sich. Sein Helm ist lachhaft, aber seine Suppe duftet köstlich.«
»Da die Suppe dich wohl nicht hergeführt hat, würde ich es begrüßen, wenn du gleich zur Sache kommen würdest, Sylph. Du machst den Jungen nervös.« Zach klang höflich, aber bestimmt.
»Oh, natürlich. Das ist schnell erzählt. Ich habe mir zwei Freunde von dir für eine Gefälligkeit ausgeliehen und denke mir, dass du ihnen vielleicht in den nächsten Tagen zur Hand gehen möchtest.«
Jetzt war es Zach, der die Stirn krauste. »Ausgeliehen? Wie kann man sich Freunde ausleihen? Und um was für eine Gefälligkeit geht es dabei?«
Der Bärtige lächelte herablassend. »Wer nicht einmal sich selbst gehört, kann natürlich verliehen werden. Du kennst Luzian, den schlecht gelaunten Feuerdämon, nehme ich an? Ich habe mir von ihm seinen Todesboten Walt geborgt und ebenso eine fidele Banshee namens Livie. Die beiden wissen noch nichts von ihrem Glück, doch das wird sich bald ändern. Und ich bin zuversichtlich, dass sie ihre neue Aufgabe meistern werden. Schließlich konnten sie ja auch die Welt retten.«
Der Bärtige deutete vielsagend auf Liam, der sich eng an Zach drückte und den Fremden nicht ansah.
Zach seufzte. »Meiner Meinung nach hätten Walt und Livie dafür eine nettere Belohnung verdient, als für dich irgendeine Drecksarbeit zu erledigen. Ich vermute, es hat entweder mit viel Geld oder etwas mit einer hübschen Frau zu tun?«
»Wie kommst du denn darauf?« Der Dämon bemühte sich um einen möglichst neutralen Gesichtsausdruck.
»Eine Frau also? Ihr Dämonen seid so leicht zu durchschauen, wenn es um eure Schwächen geht. So seid ihr eben gestrickt. Ob Feuer-, Wasser- oder Erddämon, der verführerische Wimpernschlag einer hübschen Frau reicht aus und ihr verliert den Kopf.«
Der Bärtige beugte sich über seinen Suppenteller und schlug die Augen nieder, als fühlte er sich ertappt. Doch schon nach wenigen Löffeln nahm er das Gespräch wieder auf. »Wie steht es also mit uns? Wirst du dich deinen Freunden anschließen? Ihr wart bei der Weltrettung ein hervorragendes Team. Ich würde es begrüßen, dich wieder an ihrer Seite zu wissen. Und du willst doch auch nicht, dass Walt oder Livie zu Schaden kommen, oder?«
»Walt ist ein Todesbote und Livie ist eine Banshee«, meinte Zach schulterzuckend. »Die beiden sind so tot wie der Holzeimer auf Michaels Kopf. Wie sollten sie zu Schaden kommen? Wer könnte ihnen zufügen, was sie nicht schon überstanden haben? Und was willst du mir anbieten, damit ich mich ebenfalls in ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang stürze? Oder kommst du mit leeren Händen?«
Der Dämon legte den Löffel beiseite. In seinem Teller begann es zu brodeln. Dampfwölkchen stiegen von ihm auf und verbreiteten einen aromatischen Duft. »Ich habe mich wohl unklar ausgedrückt. Ich eröffne dir die Möglichkeit, deinen Freunden beizustehen. Das erhöht für alle Beteiligten die Chance auf einen guten Ausgang dieser Geschichte. Und wenn du an deinen Freunden noch Interesse hast, sollte dir das Motivation genug sein.«
Zach hob eine Augenbraue. Doch als er bemerkte, wie sehr der Junge an seiner Seite nun vor Angst zitterte, gab er ein Seufzen von sich und senkte den Blick. »Aber natürlich werde ich meinen Freunden helfen. Da du es für nötig hältst, mich darum zu bitten, vermute ich, dass es sich um ein sehr gefährliches Abenteuer handelt. Auch wenn ich annehme, dass zwei tote Geistwesen nicht wirklich in Lebensgefahr geraten können. Wo und wann also führt mein Weg mich hin?« Er sah den Bärtigen fragend an.
In dessen Stimme war ein verschlagener Unterton deutlich hörbar, als er antwortete: »Tot? Eine Banshee und ihr Todesbote sind in deinen Augen einfach nur tot? Tja, das mit dem Tod ist eine seltsame Sache, Zach. Er wird so lange für das Schlimmste gehalten, bis uns noch Schlimmeres widerfährt. Aber ich bin hier nicht für das Philosophieren zuständig.«
Bei diesen Worten hob der Mann mit dem Eimer auf dem Kopf stolz das Kinn und machte Anstalten, etwas zum Gespräch beizutragen. Doch der Dämon brachte ihn mit einem einzigen Blick zum Schweigen, bevor er fortfuhr.
»Dein Weg führt dich wieder in das 21. Jahrhundert. Nach Cornwall. Direkt an der nördlichen Küste liegt ein Ort namens Fishing Falls. Es ist sehr hübsch dort, insbesondere die kleine Ansammlung von Ferienhäusern in der Bucht westlich des Dorfes verdient deine Aufmerksamkeit. Einer der Bungalows gehörte bis vor Kurzem mir. In dieser Bucht wirst du auf deine Freunde treffen.«
Der ungeladene Gast ließ den Löffel in die noch immer dampfende Suppe fallen, erhob sich und nickte allen Anwesenden noch einmal zu. Dann ging er zur Tür, die Scotus eilfertig für ihn öffnete. Kaum dass er gegangen und hinter ihm erneut verriegelt worden war, begannen alle gleichzeitig zu sprechen.
»Sylphus, der Elementargeist, der mächtige Dämon der Lüfte, besucht mich in meinem bescheidenen Heim. Was für ein Ereignis!«, rief Scotus und machte einen Luftsprung.
»Ein Elementargeist? Was ist ein Elementargeist? Ist er böse oder gut?«, wollte Liam wissen, dessen Miene sich mit dem Verschwinden des Besuchers wieder entspannt hatte.
Zach, der derweil ein paar deftige Flüche vor sich hin gemurmelt hatte, klopfte mit seinem Suppenlöffel auf der Tischplatte herum und antwortete dem Jungen bereitwillig, als alle still geworden waren: »Die Elementargeister sind so etwas wie die Politiker unter den Dämonen. Sie versuchen, die Geschicke aller zu lenken. Sie haben große Macht.«
»Aber sind sie gut oder sind sie böse?«, beharrte Liam auf der vollständigen Beantwortung seiner Frage.
»Das ist wie bei manchen Politikern. Das weiß man nicht immer ganz genau. Auf jeden Fall sind sie stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht. Und sie sind nie zu unterschätzen.« Zach umarmte Liam kurz und heftig. »Es ist besser, wenn du hier bei Michael bleibst und ich allein nach Cornwall aufbreche. Michael kann dir noch so vieles beibringen und mir scheint, dass mein Weg mich direkt in große Gefahr führt. Ich wüsste dich lieber hier in Sicherheit.«
Liam sah zu dem Mann mit dem Eimer auf dem Kopf hinüber, der schon wieder pfeifend in der Suppe rührte, lächelte und nickte. Ihm schien ein längerer Aufenthalt bei dem eigenartigen Mann mit dem Eimer auf dem Kopf sehr recht zu sein.
»Guter Junge. Ich komme zurück, sobald ich kann. Und wenn du bis dahin brav gelernt hast, was Michael Scotus dir zu bieten hat, verrate ich dir als Belohnung eines der großen Geheimnisse dieser Welt«, versprach Zach.
»Welches Geheimnis? Etwa, wie man Gold machen kann?«, rief Liam und riss die Augen auf.
»Nein, wie man niemals einen Schnupfen bekommt. Für dieses Wissen würde so mancher Mensch töten.«
Zach verabschiedete sich von seinen Freunden und brach noch in derselben Minute auf.
Und während Liam von Michael Scotus persönlich alles über den perfekten Kopfschutz lernte, erreichte der kleine Alchemist lange vor seinen Freunden den Ort Fishing Falls an der englischen Küste.
Kapitel 1
Ich finde deine neue Wandfarbe extrem scheußlich, Tante Ethel«, sagte ich und betrachtete die violette Pracht um mich herum.
»Livie findet deine Wandfarbe scheußlich, Ethel«, wiederholte Gina artig meinen Satz und brachte meine Tante damit zum Lachen.
»Sie muss ja auch nicht dir, sondern mir gefallen, Livie-Maus.«
Da waren sie wieder. All die stümperhaften Versuche, meinen Namen zu verniedlichen.
»Livie-Maus fand ich schon immer furchtbar, und das weißt du auch«, sagte ich, woraufhin Gina meine Worte wiederholte.
Es nervte zwar etwas, ein lebendiges Echo neben sich sitzen zu haben, aber es war der einzige Weg, auf dem ich mich mit meiner Tante unterhalten konnte. Denn ich war tot und meine schräge Tante Ethel dafür quicklebendig.
Als Banshee hatte ich die Wahl, stumm zu erscheinen, um vor drohenden Gefahren zu warnen, oder aber unsichtbar zu jammern, zu schreien und zu klagen. Auf diese Weise ließ sich keine sinnvolle Unterhaltung mit meiner Tante führen, der ich eigentlich gar nicht erscheinen durfte, da sie schlichtweg nicht in meinen Zuständigkeitsbereich fiel.
Aber dafür hatte ich ja Gina mitgebracht. Gina, Medium und Hobbyhexe, konnte mich sowohl sehen als auch hören und war somit mein Ticket zurück in die Welt der Lebenden. Wir hatten uns bei einem gefährlichen Abenteuer vor einigen Monaten in London kennengelernt. Die damaligen Ereignisse hatten Gina ihren linken Arm gekostet, weswegen sie ihren Beruf als Floristin nicht mehr ausüben konnte. Nachdem sie sich von diesem Schock erholt hatte, hatte sie den Entschluss gefasst, ein professionelles Medium zu werden, und ich hatte ihr meine Tante als ersten zahlenden Kunden ans Herz gelegt.
Tante Ethel, von jeher von der Existenz von Geistern überzeugt, fand es kein bisschen seltsam, dass ich nun wieder in ihrem Leben aufgetaucht war. Ziemlich tot zwar, aber dafür gut gelaunt. Meine Tante amüsierte sich königlich darüber und ihr altes Gesicht blühte bei jedem unserer Treffen auf.
»Erzähl mir doch noch einmal von der Familie, für die du jetzt arbeitest, Livie-Schatz. Das müssen ja ganz seltsame Leute sein«, sagte Tante Ethel und brachte ungerührt einen weiteren Kosenamen an.
Oh ja. Das waren sie. Die Harrowmores, Bewohner eines gleichnamigen Landsitzes nahe der schottischen Grenze, deren Banshee zu sein ich die Ehre hatte, waren sehr speziell.
Und so erzählte ich bereitwillig von Lady Claire, die nachts den Mond ansang, und von ihrem Gatten Lord Alistair, der sich zwar redlich bemüht hatte, aus seinen Kindern Millicent und Cameron vernünftige Menschen zu machen, aber auch dort versagt hatte. Millicent, als Wiedergeburt eines Druiden namens Badria, war meine beste Freundin geworden und leider zog sie Katastrophen an wie ein Magnet.
Auch die dritte Generation der Harrowmores, Camerons Kinder Jonathan und Patrick, brachten sich immer wieder in lebensgefährliche Situationen und hielten mich damit auf Trab.
Sie waren der Grund, warum ich Tante Ethel in ihrer Londoner Wohnung nur selten besuchen konnte. Ich war für die ganze Bande verantwortlich, verhinderte Unfälle und hatte stets ihr Schicksal im Blick. Nun, Letzteres erledigte Walt für mich. Mein Todesbote.
»Livie-Hase, ich möchte dich so gern noch einmal sehen. Nur ganz kurz. Kannst du das machen?«
»Ich weiß nicht, Tante Ethel. Ich möchte keinen Ärger kriegen. Und Walt sieht es gar nicht gern, wenn ich dich besuche. Ich glaube, er lässt mir das nur durchgehen, weil ich ihm erzählt habe, dass du schon immer an Geister geglaubt hast, und weil Gina dazwischengeschaltet ist.«
»Livie sagt, sie hält das für keine gute Idee, weil …«
Gott, wie sehr mich Ginas ewige Wiederholungen nervten. Es war schlimmer als eine schlechte Telefonverbindung, bei der man das Echo der eigenen Stimme ertragen musste.
»Nur ganz kurz, Livie. Es bleibt unter uns. Dein Walt muss es ja nicht erfahren«, bettelte Tante Ethel weiter.
»Hast du eine Ahnung. Der kriegt irgendwie alles raus und schwupp, steht er plötzlich neben mir. Der hat eine besondere Antenne für mich. Nichts ist schwerer, als ein Geheimnis vor Walt zu bewahren. Wenn ich ihn nicht so abgöttisch lieben würde, würde ich ihn dafür hassen«, antwortete ich düster.
Gina sah mich fragend an. »Soll ich das wirklich so weitergeben?«
Anstelle einer Antwort fasste ich einen spontanen Entschluss.
Warum ließ ich mich eigentlich immer von Walt bevormunden? Selbst wenn er nicht einmal anwesend war? Was war schon dabei, einmal kurz für Tante Ethel sichtbar zu werden? Ich musste nur ein paar Muskeln anspannen und mich dabei konzentrieren. Dann würde ich ihr mein sanftestes Lächeln schenken und zum Abschied damenhaft winken. Keine große Sache.
Gesagt, getan. Ich konzentrierte mich, spannte meine Muskeln an und setzte mein Sonntagslächeln auf. Und schon erschien ich. Mitten in Tante Ethels pinkfarbener Polstergarnitur. Und Tante Ethel riss augenblicklich Mund und Augen auf und stieß einen lauten und durchdringenden Schrei aus.
Vor Schreck wurde ich gleich wieder unsichtbar und fragte Gina: »Was ist los? Habe ich mich in ein Monster verwandelt? Fällt mir das Fleisch von den Knochen?«
»Nichts Derartiges, ehrlich nicht«, stotterte Gina. »Du siehst aus wie immer, ganz genau wie immer.«
Ich sah an mir hinunter. Noch immer trug ich das weiße Fetzenkleid, in dem ich wie das Model des Vorher-Fotos in einer Diät-Werbung aussah. Ein neues Banshee-Kleid, welches ich mir mit unserem letzten Abenteuer redlich verdient hatte, würde ich bald selbst aussuchen dürfen, das hatte Walt versprochen. Doch aus unerfindlichen Gründen musste für meinen Einkaufsbummel Vollmond sein, und der war eben noch nicht wieder gewesen.
Weiter davon ausgehend, dass Gina die Wahrheit sagte und auch mein Gesicht noch immer jugendlich und frisch unter meinen dunklen Locken wirkte, gab es keinen Grund zur Aufregung.
»Was ist dann mit meiner Tante los?«, wollte ich wissen und deutete auf Tante Ethel, die jetzt die Hände vor ihr Gesicht geschlagen hatte und leise wimmerte.
Gina gab meine Frage weiter. Doch es dauerte eine volle Minute, bis wir eine Antwort erhielten, die wir beide nicht verstanden.
»Der Schatten des Todes. Ich kann ihn sehen. Er steht hinter dir«, presste Tante Ethel hervor und wedelte dazu mit den Händen in der Luft herum. Sie hatte schon immer einen Hang für Dramatik.
Schatten des Todes? Ich drehte mich im Sofa um. Kein Schatten. Hinter mir war nur die grässliche violette Wand.
»Deine Aura, Livie! Sie ist schwarz wie Tinte. Wie bei einem Todgeweihten!«
Jetzt dämmerte es mir. Meine Tante hatte sich schon immer für alle möglichen Formen von Aberglauben erwärmt. Stets hatte sie behauptet, die Aura eines Menschen sehen zu können. Und zu meinen Lebzeiten war meine Aura angeblich smaragdgrün gewesen.
Gina schien ebenfalls verstanden zu haben, denn sie sagte: »Vielleicht sieht Livies Aura jetzt immer so aus. Schließlich ist sie eine Banshee.«
Aber Tante Ethel schüttelte energisch den Kopf. »Als ich Livie das letzte Mal sah, war sie auch schon eine Banshee und ihre Aura war nicht schwarz. Tatsächlich habe ich damals überhaupt keine Aura an ihr bemerkt. Aber dieser Vorbote des Todes, der jetzt an ihr klebt, ist kaum zu übersehen. Du befindest dich in Lebensgefahr, Livie!«
»Ich kann mich nicht in Lebensgefahr befinden, Tante Ethel. Ich bin schon tot«, ließ ich Gina sagen und rollte genervt mit den Augen.
Doch Tante Ethel war nicht zu beruhigen. »Eine Aura kann nicht lügen. Du wirst sterben, Livie-Maus. Es tut mir so leid für dich.«
»Gina, erklär ihr doch bitte, dass man nicht zweimal sterben kann«, sagte ich und gab meiner Freundin einen kleinen Stoß mit der Stiefelspitze gegen ihr Schienbein.
»Bist du dir da auch ganz sicher, Livie?«, erwiderte Gina und sah mich zweifelnd an.
»Ob ich mir da sicher bin? Natürlich bin ich mir sicher. Hast du schon mal von jemandem gehört, der zweimal gestorben ist? Ganz davon abgesehen, dass mir einmal wirklich gereicht hat. So toll war es nun auch wieder nicht, dass ich das mehrfach machen muss.«
»Und da bist du dir wirklich ganz sicher? Ich meine, was wissen wir denn schon groß über den Tod? Sollten wir nicht lieber Walt fragen?«
Gina schien nicht überzeugt. Sie gestikulierte ein wenig mit ihrem verbliebenen Arm in der Luft herum und verriet mir damit, wie sehr Tante Ethels Entdeckung sie beunruhigt hatte.
Ich spürte, wie ich langsam ärgerlich wurde. »Das ist doch albern. Man muss lebendig sein, um sterben zu können. Und ich bin nicht lebendig. Möchtest du meinen Puls fühlen?«
Ich hielt Gina mein Handgelenk unter die Nase und sie betrachtete es wie ein seltenes Insekt. Nach meinem Puls tastete sie nicht.
Stattdessen sagte sie nur: »Ich kann keinen schwarzen Schatten erkennen«, und wandte sich Tante Ethel zu, die sich gerade ein Glas Portwein zur Stärkung einschenkte. »Wie macht man das eigentlich? Auren sehen?«
»Na, du guckst einfach ganz genau hin und schon sind sie da«, verkündete Tante Ethel und trank ihren Port in einem Rutsch aus. »Deine Aura, liebe Gina, ist übrigens weinrot. Sie ist voller Leidenschaft und Energie. Die von meiner Livie-Maus ist völlig ausgebrannt. Eine Ruine. Der Schatten einer Aura.«
»Ich hab überhaupt keinen Schatten! Nicht mal im Sonnenlicht!«, protestierte ich ein weiteres Mal.
Aber keine der beiden Grazien beachtete mich. Bei Tante Ethel konnte ich das entschuldigen, aber nicht bei Gina.
»Sag ihr gefälligst, was ich gesagt habe«, fauchte ich sie an.
Doch Gina musterte mich stattdessen aufmerksam und meinte schließlich: »Doch. Ich glaube, jetzt kann ich es auch sehen. Ein rußig-schwarzer Schatten. Gleich hinter dir.«
Ich zeigte ihr einen Vogel, erstarrte jedoch in der Bewegung, als Tante Ethel die Hände faltete und in beschwörendem Ton sagte: »Du musst auf dich aufpassen, Livie. Du musst dem Tod davonlaufen. Versuch es zumindest. Tu es für mich. Ich will dich nicht noch einmal begraben müssen.«
Ihre eindringliche Stimme machte mir klar, wie groß ihre Sorge um mich war. Um mich. Ihr totes Patenkind.
»Sag ihr, dass ich auf mich aufpassen werde, Gina. Sag ihr, dass alles gut wird«, soufflierte ich meinem Medium. Dann blickte ich erneut misstrauisch hinter mich.
Am Abend desselben Tages stand ich in meiner Dachkammer auf Schloss Harrowmore vor dem Spiegel und drehte mich immer wieder um die eigene Achse. Sosehr ich mich auch bemühte, ich konnte keine Aura und keinen Schatten entdecken.
»Was machst du da?«, fragte eine tiefe Stimme.
Walt war gekommen. Mein Todesbote, das Gesicht wie stets verborgen unter der Kapuze einer rotbraunen Kutte, lehnte neben dem Rundfenster, welches mir einen traumhaften Ausblick auf die Gärten des Schlosses bescherte.
Dass ich ihn nicht hatte kommen hören, war nicht verwunderlich. Walt teleportierte sich bei Bedarf munter durch Raum und Zeit. Auch ich hatte kürzlich gelernt, auf diese Weise zu reisen, musste aber noch mit kleinen Pannen bezüglich der Zielorte leben. Nicht immer landete ich dort, wohin ich gewollt hatte. Aber ich wurde immer besser.
»Was ist eine Aura, Walt?«, fragte ich und drehte mich erneut um mich selbst, um meine Kehrseite im Spiegel zu betrachten. Kein rußig-schwarzer Schatten klebte an meinem Hintern. Natürlich nicht.
»Eine Aura ist eine Art Fußabdruck deiner Seele«, sagte Walt.
Enttäuscht löste ich die Anspannung und mein Spiegelbild verschwand. »Das verstehe ich nicht. Kann ich nicht einmal eine Antwort bekommen, die ich verstehe? Nur mal so zur Abwechslung.«
»Es ist außerdem eine Sehstörung zu Beginn einer Migräne und ein finnischer Käse. Von welcher Aura sprechen wir gerade?«, fragte Walt.
»Von der, die bei mir angeblich schwarz geworden ist. Tante Ethel sagt, das bedeutet, dass ich bald sterben werde.«
»Deine Tante Ethel hat nicht rein zufällig vergessen, dass du