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Die rosarote Hutschachtel
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eBook358 Seiten4 Stunden

Die rosarote Hutschachtel

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Über dieses E-Book

Jesse McCoy wächst als uneheliches Kind bei einer Amme auf. Mit siebzehn nimmt ihn sein Vater Clay mit auf einen der ersten Siedlertrecks nach Oregon, gen Westen. Staub, Schmutz, Rinderseuchen und eine erbarmungslose Hungerkatastrophe in den Schneemassen der Rocky Mountains werden für Jesse und Clay zu unerbittlichen Lebensprüfungen. Schicksalhafte Begegnungen mit Siedlern, Ureinwohnern und Revolvermännern bestimmen sein weiteres Dasein im unaufhaltsam wachsenden Amerika. Eines Tages verliebt sich Jesse in die Ureinwohnerin Adsila und muss um sein junges Glück kämpfen.
Währenddessen gerät Clay in einen erbarmungslosen Krieg zwischen Rinderbaronen und konkurrierenden Eisenbahngesellschaften. Können Jesse und Clay trotz aller Widrigkeiten in der rauen Welt des Wilden Westens ihr Glück finden und sich behaupten?

Eine Familiengeschichte der ganz anderen Art aus der Besiedlungsphase eines brodelnden Amerikas des 19. Jahrhunderts.
SpracheDeutsch
HerausgeberPlattini Verlag
Erscheinungsdatum31. Okt. 2021
ISBN9783947706471
Die rosarote Hutschachtel

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    Buchvorschau

    Die rosarote Hutschachtel - Paul Rainer Zernikow

    Paul-Rainer Zernikow

    Die rosarote

    Hutschachtel

    Ein Historienroman

    1. Auflage 2021

    ISBN 978-3-947706-47-1 (e-Book)

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

    © Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

    https://www.plattini-verlag.de

    Lektorat: Silvia Hildebrandt (Reutlingen)

    Korrektorat: Jana Oltersdorff (Dietzenbach)

    Umschlaggestaltung: Renee Rott (Eitzweiler)

    Konvertierung: Sabine Abels (Hamburg)

    Origon Karte

    Vorwort

    Während meiner Kindheit gab es als ultimatives Erlebnis fast nur den Western in seiner Urform. Von diesen Hollywoodproduktionen inspiriert von den »Glorreichen Sieben« bis zu »Für eine Handvoll Dollar« mit Clint Eastwood, sowie den Italo-Western mit Terence Hill, Guiliano Gemma und Lee van Cleef wollte ich daher diesen Roman dem Western-Genre widmen. Es ist aber dann doch kein echter Western geworden, eher eine außergewöhnliche Familiengeschichte, die ihre Mitglieder teilhaben lässt an allen Großereignissen des 19. Jahrhunderts, die die USA zu dem gemacht haben, was sie heute sind.

    Dabei kommt es mir wie immer darauf an, so nah wie möglich an historischen Ereignissen entlangzuschreiben. Obwohl, nach den aktuellen Western von Quentin Tarantino und dem vor kurzem erschienenen mit Tom Hanks und Helena Zengel, muss man zu der wohl unumstößlichen These gelangen, dass das Genre des Westerns einfach nicht totzukriegen ist. Western machen jedoch nur Spaß für den, der ihn überlebt. Es sind unter anderem eben auch die Waffen, die gerade für Männer dieses Thema so reizvoll machen. Hollywood hat im Laufe seiner Filmgeschichte im Hinblick auf »Western« viele historische Fehler eingebaut, immer nur darauf bedacht, viele Eckpunkte für spannende Unterhaltung zu schaffen. Näheres dazu im Nachwort.

    Es gibt aber auch erwähnenswerte Versuche, es besser zu machen. Das gelingt Steven Spielberg 2005 beindruckend mit der Serie »Into the West«. Ein gelungener Versuch mit alten Fehlern der Filmindustrie abzurechnen und die Eroberung des Westens so historisch echt wie möglich zu veranschaulichen.

    In diesem Roman sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen nicht gewollt und nicht möglich. Ich bedanke mich für die unendliche Geduld bei meiner Ehefrau Bernadette. Für die umfassenden Tipps bei Frau Ulrike Bender, meinen Kindern Tatjana und Nikolai Zernikow.

    Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Lektorin Frau Silvia Hildebrandt, die wieder mit viel Herzblut an die Sache herangegangen ist. Nicht zu vergessen Jana Oltersdorff und Renee Rott, die hervorragende Arbeit geleistet haben.

    Unverzichtbar waren ebenfalls die Ratschläge von Frau Ulrike Woysch und Herrn Dr. Justus Senska, meinem Jagdfreund und Waffenliebhaber.

    Hinweis

    Waffentechnisch besonders interessierte Leserinnen und Leser können an den mit* gekennzeichneten Stellen im Text mit entsprechender Fußnote auf Technische Ausführungen zurückgreifen, die im Anhang (Für Waffenliebhaber und Gunmen) näher beschrieben werden.

    Kapitel I

    1829

    Behutsam legten zwei Frauenhände drei abgebrochene Dollarteile am Lederband in Pergamentumschläge. Verarbeitet mit Vogelfedern unterschiedlichster Art erschienen sie wie feinste Schmuckstücke indianischer Handwerkskunst. Sie ließen sie in einer großen rosaroten Hutschachtel verschwinden. Jedes Stück verschlossen mit einem langen, zärtlichen Kuss.

    Hier sollten die Kostbarkeiten, hoffentlich für eine sehr lange Zeit, verborgen bleiben, bis die auf den Umschlägen benannten Personen sie im richtigen Augenblick entgegennehmen würden.

    Eine Frau betrachtete sich dabei nachdenklich im Spiegel und beobachtete, wie Tränen unaufhaltsam und drängend die stark aufgetragene Schminke auffraßen.

    Ihre zahlreichen Liebhaber verehrten sie bis zur Selbstaufgabe und waren bereit, einen Teil ihres Vermögens für ihre Hingabe für sie auszugeben.

    Ihre Liebesdienste waren berühmt berüchtigt und hatten sie bereits als blutjunge Frau zu einem erheblichen Vermögen kommen lassen.

    Sie hatte sich mit Fleiß und Tatkraft einen kleinen Bordellbetrieb mit vielen Liebesdienerinnen aufgebaut, der über die Grenzen hinaus im ganzen Osten bekannt war.

    Sie träumte von einem imposanten, luxuriösen Saloon, der mit einer Bar aus Edelholz mit barocken Ornamenten verziert war. Dahinter würde sich ein riesiger Kristallspiegel mit bunten abgefüllten Getränkeflaschen befinden. Genauso eine Bar, die allgemein ehrfürchtig als Altar bezeichnet wurde.

    Hier würde Whiskey oder Bier getrunken, und zwar von der Brauerei Budweiser.

    Doch in einsamen Stunden, wenn die bunten Ablenkungen nachließen, dachte sie daran, wie schön es wäre, eine Familie zu gründen, mit Kindern und sie aufwachsen zu sehen. Doch Jessica fühlte sich einer solchen Verantwortung noch nicht gewachsen, ja vielleicht würde sie dieses Stadium in ihrem Leben auch nie erreichen.

    Was würde nur aus ihren Kindern werden, die sie mit ihren verschiedenen Liebhabern hatte. Nach langen Nächten der Verzweiflung war sie endgültig entschlossen gewesen, sie unter ihre Liebhaber zu verteilen. Würde ihr Plan aufgehen? War das verantwortungslos oder gar selbstsüchtig? Die Fragen, die ihr immer wieder den Schlaf raubten, vermochte sie nicht zu beantworten. Würden sie ihr Leben meistern oder waren sie samt den Vätern zum Scheitern verurteilt?

    Sie wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht und gesellte sich, nachdem sie ihren Schminkkoffer schnell geschlossen hatte, zu den anderen Damen ihres kleinen Betriebes.

    Kapitel II

    1830

    Es war schon dunkel, als die Silhouette eines Reiters auf der matschigen, zerfurchten Straße eines dreckigen Handelspostens kurz sichtbar wurde. Er trug ein Bündel auf dem Rücken, sicher festgeschnallt. Bis dato war das hier der Treffpunkt von Händlern, Abenteurern, Jägern und Fallenstellern.

    Das dumpfe Hufgetrappel entfernte sich schnell und wurde gleich wieder vom heftigen Präriewind verschluckt.

    Gegen Morgen erreichte der unbekannte Reiter ein einsames Haus an einem anderen, noch kleineren Handelsstützpunkt.

    Er stieg mit dem Bündel auf seinem Rücken vorsichtig vom Pferd und strebte eilig der Haustür entgegen.

    Er war erfreut, als eine Frau mittleren Alters ihm aufsperrte und behutsam das Bündel entgegennahm, das er ihr etwas ungelenk entgegenhielt.

    Ein leichtes Wimmern war vernehmbar.

    Ganz vorsichtig legte die Frau das Bündel auf einen altersschwachen Holztisch und öffnete die Leinentücher, die nach und nach den Blick auf ein Baby freigaben.

    Ein mildes Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht der Amme ab, als sie in die großen Augen blickte und dabei ein lustiges Glucksen bemerkte, was sie wohl als Willkommengruß wertete.

    »Hier ist der Kleine, gnädiges Fräulein, wie abgesprochen«, sprach eine knorrige, rauchige Stimme mit einem angedeuteten Nicken.

    »Das übrigens sind einige Dollarscheine, die für ein paar Monate für die Pflege und Unterbringung reichen dürften.«

    Der Mann entnahm sie der Innentasche seines weiten Wetterumhangs und legte sie auf den blank gescheuerten Küchentisch.

    »Ich werde einmal im Monat nach ihm sehen«, und Sie sagen mir bitte, wenn Sie etwas benötigen.«

    Er schluckte.

    »Ich bin immer für ihn da, solange er mich braucht«, flüsterte der hagere Mann fast sentimental, um gleich noch hinzuzufügen: »Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen. Ihm soll es an nichts fehlen, verstanden?«

    Wie Sie sehen, habe ich auf diesen Notizzettel eine Adresse geschrieben, unter der Sie mich im Notfall erreichen, aber bitte nur im Notfall. Ich werde unaufgefordert hereinschauen. Sie können sich darauf verlassen. Es wird sich zwischen uns schon einspielen.«

    Er übergab mit einer hastigen Bewegung ein verschmutztes Stück Papier und wandte sich ab.

    Dann grunzte er so etwas wie einen Abschiedsgruß und hob sich nach ein paar Schritten in den Sattel seines Rappen.

    Er streifte die Spitzen des Regenumhangs über seine Oberschenkel, und seine Hände glitten über das kalte Eisen seines Steinschlossgewehres.*

    So etwas galt im Amerika dieser Tage als unverzichtbar, und jeder trug so eine Waffe wie ein gewöhnliches Werkzeug mit sich.

    Er rückte sich den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht und galoppierte in die Weiten der sich am Rande des Handelspostens öffnenden Prärie hinaus.

    »Ich wünsche ihm alles Glück dieser Erde, meinem Kleinen, er soll es mal besser haben als sein Vater«, murmelte er gedankenverloren.

    Er war sich schlagartig bewusst, dass er nunmehr als Vater die alleinige, schwere Verantwortung für sein uneheliches Menschenkind trug, abgesehen von der Hilfe, die er von der Amme erwarten durfte.

    Bald war er eins geworden mit den Schatten und Winden der rauen Natur dieser trostlosen Gegend.

    Kapitel III

    1839

    So vergingen die Tage einer unbeschwerten Kindheit. Der Kleine war bereits zehn, als er mit den zahlreichen Kindern gleichen Alters vor einer Bretterbude herumtollte.

    Die Holzbretterbude, die sich Schule nannte, war stets Treffpunkt einer wilden Horde wissbegieriger Jungen.

    »Wer von euch hat schon mal auf einen Hasen geschossen?«

    Jesse, so hieß der Kleine, war sehr wach und aufmerksam.

    »Von uns bisher noch keiner«, kam es vielstimmig aus der Kinderschar zurück.

    »Das werde ich aber bald, hat mir mein Daddy versprochen«, rief der Kleine stolz aus und machte die Geste eines eifrigen Schützen nach.

    »Glauben wir nicht, glauben wir nicht, du hast ja gar kein Gewehr«, versuchten die anderen ihn zu necken.

    »Mein Daddy aber, das ist so groß.« Der Kleine reckte sich, bis er den Halt verlor und nach vornüberkippte. Jetzt war die Bande nicht mehr zu halten. Sie feixten und lachten, bis der kleine Jesse Tränen in seinen Augen hatte.

    Das hatte die kinderfreundliche Amme sofort gesehen, die die Gruppe schon länger beobachtet hatte. Sie war stets pünktlich, um Jesse und ihre zahlreichen eigenen Kinder ähnlichen Alters zum Essen nach Hause zu holen. Jetzt trat sie auf Jesse zu und umarmte ihn fest mit tröstenden Worten.

    »Lass dich von denen nicht ärgern, Jesse, die wissen doch gar nicht, wovon sie sprechen. Sie haben keinen Vater, der sie mit auf die Jagd nimmt. Du bist ihnen doch meilenweit voraus.«

    Dann wandte sie sich den anderen Kindern zu.

    »Und ihr da, zerreißt euch nicht weiter die Münder, ihr seid doch nur neidisch, weil Jesse so einen lieben Daddy hat, der ihn mitnimmt. Kommt jetzt mit nach Hause, ihr habt bestimmt Hunger.«

    Damit sammelte sie vier weitere Kinder ein, und sie marschierten im Gänsemarsch in ihr bescheidenes Heim dort in dem kleinen wachsenden Nest im mittleren Westen, in dem Kinder wie Jesse das Beste aus ihrer Langeweile und Abenteuerlust machen durften.

    »Dein Vater kommt morgen, Jesse, wie jeden Monat. Es ist schrecklich, wie rasend schnell die Zeit vergeht. Du bist inzwischen ein eifriger Schüler und ein sehr athletischer Junge geworden. Ich denke noch an die Zeiten, als ihr Lausebengel jeden Tag eine andere Scheibe eingeworfen habt, nur um euch in dieser öden Wildnis die Zeit zu vertreiben.«

    Jesse nickte freundlich, er hatte sich inzwischen an die Besuche seines Vaters gewöhnt und freute sich mit zunehmendem Alter immer mehr darauf. Er hatte bemerkt, dass sich sein Vater immer mehr Zeit nahm und sich intensiv um ihn kümmerte, in der Hoffnung, wie er immer zu sagen pflegte, dass er sein Leben gut meistern würde.

    Er fühlte sich glücklich, dass er bei seiner Mum leben durfte in der freundlichen Umgebung eines sicheren Heims, inmitten einer Schar von Kindern als ein besonderer und wichtiger Teil einer intakten Großfamilie.

    »Ich hoffe«, meinte Jesse, »dass er mich morgen wieder auf einen Jagdausflug mitnimmt, um mir den Umgang mit der Waffe beizubringen. Er sagt immer, das sei ein unverzichtbares Hilfsmittel, um in der rauen Natur dieser Gegend zu überleben, Mum.«

    Er wusste, sie liebte es, wenn er Mum zu ihr sagte wie ihre anderen, eigenen Kinder. Das schien sie wohl als ein Zeichen seiner Liebe und Verehrung für sie zu verstehen.

    Jesse meinte es genauso, wie er es sagte, er liebte diese Frau, die so selbstverständlich freudig und klaglos die Mutterrolle für ihn übernommen hatte.

    So vergingen die Monate mit Lernen aus Schulbüchern, mit gemeinsamen Ausflügen mit dem Vater und mit dem Blödsinn, den Jesse so mit seinen Altersgenossen anstellte.

    Morgen sollte es mal wieder so weit sein. Der Vater hatte sein Kommen angekündigt, und Jesse stand schon ausgehfertig mit Hut und Jacke am Eingangstor des kleinen Hausanwesens am Rande der zwischenzeitlich entstandenen Dorfgemeinschaft.

    Jesse freute sich auf die Geschichten und Ausführungen seines Vaters, der, so oft sich die Gelegenheit bot, Lebensgrundsätze, wissenswerte Informationen und Fertigkeiten weitergab, die für seine Lebenserfahrung und Bildung notwendig waren. Die Grundregeln eines guten Benehmens gehörten selbstverständlich dazu.

    Auch das Reiten gehörte dazu. Jesse hatte vom Vater gelernt, dass es bei diesen großen Distanzen im Land das einzige Mittel war, um sich fortzubewegen.

    Er war richtig stolz, dass sich sein Vater die Zeit dafür nahm, ihm eine fundierte Ausbildung in Reiten, Jagen und Schießen zukommen zulassen, die das Überleben in einer solchen Umgebung sichern konnte.

    Dann war es so weit. Am Horizont erschien die Silhouette eines Reiters, der ein weiteres Pferd an der Longe führte.

    »Hallo, Vater«, rief Jesse begeistert, als ihm sein Dad den Steigbügel hielt, um ihm ein schnelleres Aufsteigen zu ermöglichen.

    »Mein Sohn, schön, dich zu sehen. Heute geht’s endlich zur Hasenjagd. Ich hoffe für dich, dass wir Jagdglück haben, Jesse.«

    Nach einer Stunde intensiven Reitens deutete sein Vater ihm an, vom Pferd zu steigen.

    Sie waren in diesem romantischen Tal gelandet, wo die Bäume sehr dicht standen und ein Bach sich entlangschlängelte. Jesse kannte diese Gegend inzwischen wie seine Westentasche.

    »Wir schleichen uns durch die Baumreihen und beobachten das Unterholz sehr genau. Vielleicht haben wir ja etwas Jagdglück heute.«

    Jesse wusste vom Vater, dass man Respekt vor jedem Tier haben sollte, sei es noch so klein. Es bot immerhin die wertvolle Gelegenheit für ein intensives, gesundes Mahl.

    Vater hatte ihm eingebläut, nur zu schießen, wenn er ausreichend Schussfeld für einen sicheren Schuss hatte und das Tier nicht zu weit entfernt war. Vater hasste es, wenn sich die Kreatur nach dem Schuss noch bewegte. Zielsicherheit war das A und O.

    »Du weißt, Jesse«, mahnte der Vater, »schieß nur, wenn du dich zu hundert Prozent sicher fühlst und das Tier nicht leiden muss.«

    Jesse nickte gewissenhaft, obwohl er es schon tausendmal gehört hatte.

    »Was ist das für eine Waffe, die du mir heute überlassen hast, Vater?«

    »Die Waffen haben sich weiterentwickelt, Jesse, insbesondere die Gewehre sind einigermaßen zielsicher. Diese Waffe hat Geschichte geschrieben. Tausende von Pionieren haben sie geführt.« Er hielt inne und flüsterte: »Sie wurde von deutschstämmigen Büchsenmachern als Pennsylvania-Rifle aus einer deutschen Pirschbüchse, einem Jagdgewehr, weiterentwickelt. Sie erhielt einen längeren Lauf, und der Schlossmechanismus wurde nach und nach vereinfacht. Sie wird sehr häufig in den Jagdgebieten von Kentucky verwendet und daher auch als Kentucky-Rifle bezeichnet.«

    Jesse nickte und tat zumindest so, als hätte er alles verstanden.

    Nachdem sie schweigsam immer weiter in den Wald gelaufen waren, traten sie einen Hasen los.

    Jesse zögerte nicht lange, gab ihm einen gewissen Vorsprung und schoss. Der Hase überschlug sich und blieb regungslos liegen.

    »Gut, Jesse, das war ein Lehrbeispiel für einen gut angesetzten Schuss. Ich bin begeistert und gratuliere. Dein erstes Stück Wild.«

    Noch vor Ort nahmen sie ihn aus und suchten ein freies Plätzchen, an dem sie gefahrlos ein Feuer abbrennen konnten. Es dauerte nicht lange, und sie aßen die Häppchen des erlegten Hasen an kleinen Holzspießen, die sie sich sorgfältig geschnitzt hatten. Sie lehnten sich entspannt zurück, und dann kam Jesses Lieblingswunsch.

    »Vater, erzähl mir die Geschichten von den Mountainmen, den Trappern, die, wie du letztes Mal erwähnt hast, meistens in kleinen Gruppen reisten, oft den Flüssen folgend bis zum Felsengebirge und weiter, um Pelztiere zu jagen.«

    »Ja«, begann der Vater: »Das habe ich oft von meinem Vater gehört.«

    Er hielt kurz inne, dann begann er: »Die große Bedeutung des Biberfangs war angebrochen, da etwa um 1830 Hüte aus Biberfilz groß in Mode gekommen waren. Bis zu einhunderttausend Biber wurden pro Jahr von Mountainmen erlegt, aber auch von Indianern. Weißt du, Jesse, so nennt man die Ureinwohner dieses Landes, die schon weit vorher hier lebten, lange bevor überhaupt weiße Menschen wie wir hier siedelten.«

    »Das kann doch nicht wahr sein«, bemerkte Jesse zornig, »dass eine Mode-Richtung über den Tod einer ganzen Tiergattung bestimmt. Tausende von Bibern einfach abgeschlachtet!«

    »Da gebe ich dir recht, Jesse, ein Wahnsinn.«

    Er fuhr jedoch fort: »Das große Rendezvous ist legendär, bei dem sich seit dem Jahre 1823 einmal im Jahr tausende Indianer und weiße Pelzjäger treffen, um die Beute der vergangenen Saison bei den angereisten Händlern in Gewehre, Blei, Pulver, Alkoholika und Ähnliches umzutauschen.«

    Jesse hatte sich beruhigt, schaute zum Vater herüber.

    »Komm, Vater, bitte erzähl weiter.«

    »Die ersten Mountain-Men waren übrigens Franzosen, die Voyageurs. Sie waren die ersten Pelzjäger, Waldläufer und Pelzhändler im Norden Amerikas. Sie drangen bis zu den großen Seen vor, gründeten Niederlassungen und missionierten. Sie unterhielten enge Kontakte zu den Eingeborenen und heirateten oft indianische Frauen. Deshalb kamen sie mit den Indianern meistens gut zurecht, Jesse.«

    »Warum gerade die, hatten sie einen besonderen Hang zu den Indianern, Vater?«

    »Das vermag ich dir nicht zu beantworten, Jesse. Die neuen Handelsgüter, die sie mitbrachten, wie stählerne Messer, Beile, Kochkessel, Gewebe, Farben, Feuerwaffen, Munition und Alkohol, machten sie leider immer abhängiger.«

    Der Vater stand auf und legte ein weiteres Holzscheit ins Feuer.

    »Die Besiedlung des Westens hat zunehmend die Natur verändert. Ausgebrochene Pferde hatten bereits zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges dazu geführt, dass es wieder Herden von wilden Mustangs gab, die begonnen haben, ganz Nordamerika zu besiedeln.«

    »Das finde ich ausgesprochen gut«, rief Jesse begeistert aus. Jesse ahnte, es war für den Vater kein Geheimnis geblieben, dass er sich für jedes Pferd interessierte, ganz egal welcher Rasse und Schattierung.

    »Doch das bedeutendste Tier, Jesse, ist der Bison in den Grasländern der Great Plains, die durch diese intensive Beweidung und Düngung durch Kot und Urin erst ihre Fruchtbarkeit erlangten. Davon hängen Millionen von anderen Pflanzenfressern ab wie Hirsche, Elche, Gabelböcke und Bighornschafe, aber auch die Fleischfresser wie Wölfe, Kojoten und Füchse, um nur einige zu nennen. Auch für die Prärieindianer ist der Bison als Nahrungs- und Bezugsquelle unerlässlich.«

    Jesse schaute in das Gesicht seines Vaters und bemerkte aufrichtig: »Es ist wahrhaftig schön, Vater, dass du mir so viel darüber erzählen kannst.«

    Jesse sog diese Geschichten in sich auf. Er konnte nicht genug davon bekommen. Auch sein Sinn stand nach Abwechslung und Abenteuer. Als sein Vater wieder aufbrach, fragte er ungeduldig: »Erzählst du mir beim nächsten Treffen mehr davon?«

    Der Vater lächelte zufrieden, nickte, und Jesse spürte, dass ihm viel daran lag, seine Versprechen zu halten. Jesse schien es, dass er dem Vater mit zunehmendem Kontakt immer wichtiger geworden war.

    Sie sprangen beide auf, traten das Feuer aus und sammelten ihre Ausrüstungsgegenstände ein. Sie bewegten sich zu den Pferden in der kleinen Koppel, die sie für diese Zwecke eingerichtet hatten.

    Vater hatte Jesse schon frühzeitig erklärt, dass er als Geschäftsmann und in der Anfangsphase als Cowboy umfangreiche Erfahrungen in der Vieh- und Weidewirtschaft gesammelt habe. Wo viele Menschen leben, hatte er gemeint, müsse das Vieh hingetrieben werden, teilweise über tausend Meilen und mehr.

    Nach diesem ereignisreichen Jagdausflug bemerkte Jesse plötzlich bei sich, dass er drängende Lust auf Ortsveränderung spürte. Er wollte mehr von der Welt sehen, wollte selbst Abenteuer erleben, wie sein Vater, der schon so weit herumgekommen war.

    Die neue Herausforderung dieser Tage hieß Oregon.

    »Der Oregon Trail«, erzählte der Vater bei einem der nächsten Treffen, »ist eine rund zweitausenddreihundert Meilen lange Route, über die Siedler aus den bevölkerten Teilen im Osten und der Mitte der USA über die Rocky Mountains in den Westen der Vereinigten Staaten ziehen. Die Reise führt meist im Planwagen durch Steppen, Wüsten und Berge, um neue Regionen im Pazifischen Nordwesten zu besiedeln.«

    Das gebräunte Gesicht von Jesses Vater, einem harten, hageren Mann von Ende dreißig, nahm sichtbar weiche Züge an, als er seinem Sohn von der Geschichte der Vereinigten Staaten und den neuen, zu erschließenden, Routen im Westen erzählte: »Schau mal, Jesse«, begann er.

    »Anfang des Jahrhunderts hatten die Briten und die bis dahin politisch verbündeten Vereinigten Staaten vereinbart, die Gebiete westlich der Rocky Mountains gemeinsam zu besiedeln.

    Als wenig später dann die ersten amerikanischen Pioniere eingetroffen waren, vereinbarten die beiden Staaten, beschlossen also im Oregon-Kompromiss, das Gebiet entlang des 49. Breitengrades unter sich aufzuteilen. Damit hat nun die Besiedlung der südlichen US-amerikanischen Hälfte erst richtig Fahrt aufgenommen.«

    Jesse schaute zum Vater herüber.

    »Dieser politische Kram ist schwer zu verstehen, doch ich versuche es, ich arbeite jeden Tag in der Schule daran.«

    Jesse war fasziniert von den Schilderungen seines Vaters, weil mit jeder Bewegung, ja in seiner ganzen Mimik dessen Leidenschaft zu spüren war.

    »Erzähl weiter, Vater«, sagte er oft, »ich möchte das alles wissen, jeden Winkel dieses Landes kennenlernen.«

    Der Vater strahlte über das ganze Gesicht, da er umfängliche Geschäfte witterte und neue Abenteuer auf ihn warteten. Mit hochrotem Kopf begeisterte er sich weiter: »Die neue Route ins gelobte Land und Ausgangspunkt einer sehr beschwerlichen Reise ist Independence oder Kansas City in Missouri. Die Reise endet in Oregon City. Schon unterwegs lassen sich viele Siedler nieder und beginnen, das Land einzufrieden und zu kultivieren.«

    »Woher kommen denn die vielen Siedler?«, fragte Jesse interessiert.

    »Die meisten stammen aus dem alten Europa. Briten, Franzosen, Italiener und Deutsche sind dabei«, antwortete der Vater.

    »Meistens sehr gottesfürchtige Menschen.«

    Jesse liebte es, wenn sein Vater bei seinen Erzählungen ins Schwärmen geriet.

    Er bemerkte sehr wohl an den Reaktionen seines Vaters, wenn der den Eindruck hatte, ihn zu überfordern. Doch an seinen ständigen Fragen erkannte der Vater scheinbar auch, welche Interessengebiete ihm nahe lagen und ob er gewillt war, seinen umfassenden Ausführungen zu folgen.

    Jesse hatte in der Schule aufgepasst, sodass auch er schon in der Lage war, einige geschichtliche Eckpunkte dieses wachsenden Amerikas zu beschreiben.

    »Die Pioniere sollen sich an Flüssen orientiert haben, Vater, und an sogenannten Landmarken, auffällige, meist sichtbare topografische Objekte in der Natur. In Nebraska folgten sie dem Platte River nach Wyoming. Nach Überquerung der Great Plains zieht man weiter über den South Pass in die Rocky Mountains und folgt danach dem Snake River und dem Columbia River. Das muss wahnsinnig aufregend gewesen sein.«

    Sein Vater nickte und fuhr fort: »Dort geht es entweder mit einem Floß nach Fort Vancouver oder über eine steile Strecke, die Barlow Road, zum Willamette Valley.«

    Jesse schaute stolz seinen Vater an, ob der Dinge, die er gelernt und sich besonders eingeprägt hatte.

    »Etwa fünf Monate muss man für so eine entbehrungsreiche Unternehmung einplanen, meint der Mountainman Miller, ein berühmter Treckführer und sehr guter Freund von mir«, sagte der Vater lachend, dem seine Begeisterung bei jedem Wort anzumerken war.

    »Werden wir diesen Miller denn irgendwann treffen?«, unterbrach ihn Jesse wissbegierig.

    »Ja, Jesse, habe noch etwas Geduld, ich werde ihn dir bald vorstellen«, antwortete der Vater mit beruhigender Stimme.

    »Entlang der Trail-Route haben sich Handelsposten teilweise zu befestigten Anlagen, den Forts, ausgebildet. Ich habe einige davon bereits kennengelernt, beispielsweise Fort Laramie. Fort Bridger, Fort Hall oder Fort Boise sind die bekanntesten an der Oregon-Strecke. Manche davon wurden sogar als Militärposten eingerichtet.«

    »Es ist erstaunlich, was sich jeden Tag an dieser Strecke Neues tut, Vater.«

    »Miller erzählte, sie böten nicht nur Schutz, sondern auch die Chance, sich mit Proviant und Ersatzteilen zu versorgen. Er hat es schon selbst erlebt, dass verzweifelte Siedler oft in den Armeeposten kostenlos das Nötigste erhalten hätten. Die US-Regierung hat jeder Siedlerfamilie, die nach Oregon zieht, mindestens zweihundertsechsundfünfzig Hektar kostenloses Farmland angeboten. Auch das hat eine wahre Auswanderungsflut ausgelöst.«

    »Das klingt nach sehr viel«, warf Jesse ein.

    Er schaute seinen Vater ungläubig an, konnte aber nicht verhehlen, dass auch er steigendes Interesse an diesem Abenteuer verspürte.

    »Jesse, mein Sohn«, sprudelte es weiter aus dem Vater heraus, »du bist jetzt siebzehn Jahre alt und hast die Reife, mich auf der geplanten Geschäftsreise zu begleiten. Du bist körperlich robust und verstehst, mit deinen Kräften schon gut umzugehen. Ich glaube, du kannst mir eine große Hilfe sein.«

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