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Kultopfer: Der dritte Hella-Reincke-Krimi
Kultopfer: Der dritte Hella-Reincke-Krimi
Kultopfer: Der dritte Hella-Reincke-Krimi
eBook298 Seiten3 Stunden

Kultopfer: Der dritte Hella-Reincke-Krimi

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Über dieses E-Book

Ein neuer Fall für Hella Reincke:
Gespenstisches spielt sich in den Vollmondnächten oben auf dem Hohenstein ab, einer steilen Felswand nahe Hameln, die in alten Zeiten als Kultstätte diente. Hella Reincke, die heimliche Beobachterin, steht vor der Frage, auf welche Weise ein Ingenieur aus Wiesbaden, der sich nun Rudmar vom Hohenstein nennt, in den Tod ihrer früheren Schulfreundin Valerie verwickelt ist. Diese arbeitete an einem Buch über den Pferdeheiler, der sich als die Reinkarnation eines sächsischen Schamanen betrachtet …
SpracheDeutsch
HerausgeberGmeiner-Verlag
Erscheinungsdatum13. Aug. 2009
ISBN9783839232781
Kultopfer: Der dritte Hella-Reincke-Krimi
Autor

Susanne Kronenberg

Susanne Kronenberg lebt als Autorin und Dozentin für kreatives Schreiben im Taunus. Als Schriftstellerin hat sie sich ihrer Wahlheimat und regionalen Themen verschrieben. Neben ihren Wiesbaden-Krimis rund um die Privatdetektivin Norma Tann erkundet sie kulturelle und kulinarische Schätze in und um ihre Heimat.

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    Buchvorschau

    Kultopfer - Susanne Kronenberg

    Susanne Kronenberg

    Kultopfer

    Der dritte Hella-Reincke-Krimi

    Personen und Handlung sind frei erfunden.

    Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

    sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

    Besuchen Sie uns im Internet:

    www.gmeiner-verlag.de

    © 2006 – Gmeiner-Verlag GmbH

    Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

    Telefon 0 75 75/20 95-0

    info@gmeiner-verlag.de

    Alle Rechte vorbehalten

    Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

    Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

    unter Verwendung eines Fotos von Manfred Enderle

    ISBN 978-3-8392-3278-1

    Prolog

    Der Süntel im Jahr 782

    Das Schweigen hallte in seinem Kopf wider wie zuvor der Klang der Hörner. Ihm war, als hätten sich alle Tiere des Waldes, die Vögel und Insekten und sogar der Wind davon gestohlen und diese tiefe Stille hinterlassen. Er kniete erschöpft am Boden und kämpfte gegen das Verlangen an, der Länge nach auf den Felsen zu sinken. All die erschlagenen Sachsen kamen ihm in den Sinn. Die Männer, die ihren fränkischen Feinden nicht entkommen konnten. Die unglückseligen Verwundeten, deren Sterben eben begonnen hatte. Zugleich fragte er sich staunend, was das Schicksal mit ihm vorhaben mochte. Er war unverletzt.

    Ein Geräusch ließ ihn hochschrecken: ein entferntes Rascheln zwischen den Bäumen. Er richtete sich auf und suchte nach Schatten hinter den Eichen, die die Lichtung umgaben. Sollten die Feinde nur kommen.Er war ungeübt im Kampf, doch trotzdem bereit, für diesen heiligen Ort zu kämpfen und sich die Felswand hinab zu stürzen, bevor er den Feinden in die Hände fiel. Doch es waren keine Franken, diese Männer, die sich nun in eine kleine Gruppe zusammen schlossen und ihm entgegen schritten: an der Spitze der oberste Priester und zugleich engster Vertrauter des Heerführers. Sein Gehilfe führte einen Schimmel am Zügel. Die Männer hielten die Blicke gesenkt. Nur die Wachen, die den Trupp begleiteten, spähten in das Unterholz ringsum und horchten angespannt.

    Sie hatten ihn bemerkt, und er trat den Männern entgegen. Der Schimmel prustete und rieb seine Nüstern sanft an der Schulter des Jungen, der die Zügel hielt. Sein Fell schimmerte so rein wie Neuschnee. Nicht der geringste Fleck trübte seine Schönheit.

    Der Priester berichtete vom Sieg über die Feinde. Die Genugtuung überspielte seine Erschöpfung. »Deine Vorhersage war falsch. Haben die Götter dich in die Irre geführt? Oder hast du uns belogen?«

    »Die Götter täuschen mich nicht«, entgegnete der Schamane. »Genauso wenig, wie ich euch belüge. Warum sollte ich das tun?«

    »Um den Männern den Mut zu rauben«, antwortete der Priester, »und damit den Franken und ihrem Christengott in die Hände zu spielen.«

    Der Schamane blickte zu dem heiligen Felsen hinüber. Er wusste seit langem, dass der Priester nur nach einer Gelegenheit suchte, ihn aus dem Weg zu schaffen. Konnte es eine bessere Rechtfertigung dafür geben als einen Verrat? Er wandte sich wieder dem Priester zu und sagte, jedes Wort abwägend, mit fester Stimme: »Die Götter haben mir eine Vision geschickt. Darin habe ich sie gesehen: die Heerscharen fränkischer Soldaten, die das Kreuz in unser Land bringen. Ich gebe nur weiter, was die Götter mir zugetragen haben. Willst du an ihrer Wahrheit zweifeln?«

    »Die Zweifel sind auf deiner Seite«, entgegnete der Priester zornig. »Du glaubst nicht an den Sieg der Sachsen.«

    Der Schamane hielt dem Blick seines Widersachers stand. »Diese eine Schlacht mögen wir gewonnen haben. Trotzdem wird der Kampf vergebens sein. In den Schlachten, die auf diese folgen, werden die Franken siegen. Überall im Land werden sie ihre Kreuze errichten und ihrem Gott huldigen. Die Freiheit der Sachsen ist verloren. Du willst den Göttern zum Dank für den Sieg jetzt und hier diesen Schimmel opfern? Das Schicksal wirst du damit nicht wenden können. Eines Tages wird selbst unser Heerführer den Franken und ihrem Christengott Gefolgschaft schwören.«

    Die Männer erstarrten. Nur einer riss sein kurzes Schwert hoch. »Wie kannst du es wagen, ihn zu beleidigen!«

    Der Priester hielt den zornigen Mann mit einem Wink zurück. »Töte ihn nicht mit dem Schwert. Dadurch sollten nur Krieger sterben. Keine Verräter.«

    Er zischte einen Befehl, und der Schamane wurde von zwei Männern an den Armen gepackt. Der Priester zog die Axt aus seinem Gürtel. Der Gefangene heftete seinen Blick auf den Schimmel. In dessen schwarzen Augen las er die Gelassenheit und Zuversicht eines den Göttern geweihten Wesens. Er würde nicht allein in den Tod gehen.

    1

    Als der Hof in Sicht kam, fiel der Schimmel aus dem Galopp in den Schritt. Er streckte den Hals aus und schüttelte sich die Fliegen aus dem Gesicht. Der Hengst trug nur ein leichtes Halfter und einen hineingeknüpften Strick, der dem Mann auf seinem Rücken als Zügel diente, und statt eines Sattels ein lose aufgelegtes Schaffell. Sein Reiter schloss die Augen und ließ sich blind am Parkplatz vorbei und durch das Hoftor tragen. Wenn er sich eins mit dem Pferd fühlte, vergaß er alle Bedenken. Es war richtig, was er tun wollte, und er durfte sich in seinem Weg nicht beirren lassen. Weder von Valerie noch von Toralf.

    Vor allem nicht von Toralf. Er sah ihn, als er die Augen aufschlug. Im Schatten der hohen Kastanien stand dieser mitten auf dem Hof, als hätte er nach ihm Ausschau gehalten: eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt in einem blauen Arbeitskittel. In jeder Hand hielt er einen Eimer. Toralf ließ es sich nicht nehmen, die Hunde in den Zwingern zu füttern, wann immer es seine Zeit erlaubte. Der Reiter glitt vom Pferd und legte den Arm über den Pferderücken, während er Toralf herankommen ließ. Toralfs hohe Stirn im schmalen Gesicht war, wie so oft, wenn sie unter sich waren, in skeptische Falten gelegt. Das gewinnende Lächeln, das ihm die Sympathien aller zutrug, verschwendete Toralf nicht an die engsten Vertrauten.

    »Rudmar, du musst Valerie zur Vernunft bringen«, zischte er halblaut, obwohl niemand sonst in der Nähe war. Die Frauen und Schülerinnen, die sich um die Pferde kümmerten, waren nach Hause gegangen. Um diese frühe Abendstunde war es auf dem Hof ruhig geworden. Die Pferde auf den Weiden standen dösend beieinander. Aus den Zwingern drang kein Laut herüber. Selbst die Katzen ließen sich nicht blicken. Eine schwüle Gewitterluft drückte auf das Tal.

    Toralf stellte sich dem Schimmel in den Weg. Der Hengst blähte die Nüstern und wich zurück, als scheute er vor dem rohen Fleisch und den zersägten Knochen in den Eimern. Doch es konnte auch Toralfs offensichtlicher Zorn sein, der ihn ängstigte.

    »Sorge dafür, dass sie die Schreiberei sein lässt!«, fauchte Toralf. »In dem Umfang war das nicht abgesprochen.«

    Gemächlich ließ Rudmar seine Hand über Monsuns Hals wandern. »Beruhige dich! Bisher recherchiert sie die Hintergründe. Zum richtigen Schreiben ist sie noch gar nicht gekommen.«

    Toralf musterte Rudmar mit finsterer Miene. Die Falten auf seiner Stirn vertiefen sich. »Reicht dir das nicht? Sie will das Material einem Experten vorlegen, einem Spezialisten für Schamanismus.«

    Rudmar wandte sich dem Schimmel zu; der Andere sollte seine Überraschung nicht bemerken. Von einem solchen Experten hatte er nichts gewusst. Außerdem reizte ihn, wie so oft in letzter Zeit, Toralfs herrisches Auftreten. Noch waren sie Freunde. Was hatte er ihm nicht alles zu verdanken. Toralf hatte ihn aufgefangen, als ihm der Boden unter den Füßen entglitten war.

    »Wovor hast du Angst?«, fragte Rudmar freundlich. »Befürchtest du, Valerie will mich als Schwindler entlarven? Glaubst du nicht mehr an mich?«

    Toralf stellte abrupt die Eimer ab. Monsun blähte die Nüstern. Rudmar vermied den Blick auf den Inhalt der Eimer. Das Pferdefleisch kam geradewegs aus der gut gefüllten Kühltruhe im Keller. Toralf bückte sich nach einer Rippe, die beim Abstellen heraus gerutscht war, und warf sie in den Eimer zurück.

    »Es geht hier nicht nur um dich und deinen Ruf als Pferdeheiler, Rudmar«, sagte er, als er sich wieder aufrichtete. »Mag sein, dass du dich neuerdings berufen fühlst, die Tätigkeiten der Gemeinschaft in die Welt hinaus zu posaunen. Und Valerie soll dir dabei behilflich sein. Aber ich lasse nicht zu, dass die Gemeinschaft verraten wird.«

    Die Glaubensgemeinschaft war Toralfs Lebenswerk. Darauf ließ er nichts kommen. Die Gemeinschaft stand über jeder Freundschaft.

    Rudmar behielt sein sanftes Lächeln bei. »Es stimmt, du und Valerie, ihr seid oft nicht einer Meinung. Aber in einem Punkt steht sie fest auf deiner Seite. Nicht auf meiner.«

    Toralf schnaubte zornig. »Was deinen irrsinnigen Plan angeht, würde jeder Mensch mit einem Hauch von Verstand zu mir halten. Du stehst damit einsam und allein, du Wahnsinniger.«

    Nicht Wahnsinn, sondern Wahrheit, dachte Rudmar. Aber Toralf war noch nicht so weit, das zu akzeptieren. Ebenso wenig wie Valerie.

    Toralf stemmte die Arme in die Seiten. »Habe ich dein Wort, dass du nichts gegen meinen Willen unternimmst?«

    Rudmar versprach, dass beim nächsten Vollmond nichts außer der Reihe zu erwarten wäre. Versöhnlich und zuversichtlicher, als ihm zumute war, sagte er: »Mach dir keine Gedanken wegen Valerie. Ich kläre das.«

    Valerie verhielt sich zunehmend unberechenbarer, und das gab auch ihm zu denken. Toralf sollte seine Zweifel nicht spüren.

    »Du weißt, was auf dem Spiel steht«, knurrte Toralf und nahm die Eimer auf. Die Zwinger lagen hinter der Scheune: lange Reihen von Käfigen, in denen die von den Behörden beschlagnahmten Bullterrier, Staffordshire Terrier, Dobermänner und allerlei Kreuzungen bis an ihr Lebensende ausharren mussten. Einige waren friedlicher gestimmt und ließen sich von Toralf anfassen und an die Leine nehmen, doch die meisten gebärdeten sich wie rasend, wenn man sich den Zwingern näherte. Toralf war kaum hinter der Scheune verschwunden, als sich ein ohrenbetäubendes Kläffen und Heulen erhob, doch es gab in Hörweite keine Nachbarn, die sich daran gestört hätten.

    Rudmar blieb noch einen Augenblick stehen und schaute auf die Felswand des Hohensteins, der sich in der Ferne aus dem bewaldeten Hang des Süntels erhob. Turmartige Gewitterwolken bauschten sich darüber auf.

    Jedes Mal, wenn er den Felsen betrachtete, dachte er an seinen ersten Tag auf dem Pferdeschutzhof. Mit allen Gefühlen zwischen Angst und Hoffnung hatte er im Morgengrauen das Hotel in Hameln verlassen und war an der Weser entlang gefahren, bis er ihn wahrhaftig erblickte: den Felsen aus seinen verstörenden Visionen. Einen Tag hatte er dort oben verbracht, war abends durch Felder und Wiesen geirrt und irgendwann erschöpft auf den Schutzhof gestoßen. Mit zaghafter Freude bemerkte er die vielen Pferde und traf verwundert auf eine Gruppe altertümlich gekleideter Leute, die ein Feuer umringten und monotone Sprüche raunten. Ein Mann in einem hellen bodenlangen Gewand warf einen Büschel weißer Pferdehaare in die Flammen. Das Ritual des Mannes war stümperhaft, aber Rudmar wollte nicht kleinlich sein. Er trat an die Leute heran, fühlte sich in ihren Kreis aufgenommen und verlor sich in der Erleichterung, angekommen zu sein. Seit dieser Zeit war Toralf ein guter Priester geworden, mit überzeugenden Gesten für das einfache Glaubensvolk und kraftvollen Ritualen für die Eingeweihten. Die meisten Brüder und Schwestern, die sich in aller Naivität den Wahren Erben Widukinds angeschlossen hatten, wären hoffnungslos überfordert, hätte man sie mit den wahren Zeremonien konfrontiert. Nur eine Hand voll Menschen, sorgfältig ausgewählt und geprüft, bildeten den engsten Kreis der Gläubigen. Valerie war eine von ihnen.

    Er führte Monsun in den Paddock und hängte das Halfter über einen Zaunpfosten. Das Schaffell rollte er mit den weißen Zotteln nach innen auf und trug es unter dem Arm zum Haus hinüber. Das zweistöckige Fachwerkhaus war genauso heruntergekommen wie der gesamte Pferdeschutzhof: eine dürftige Zuflucht für Verfolgte und Gestrandete, für Pferde, Hunde, Katzen und den ein oder anderen Menschen; er nahm sich selbst davon nicht aus. Die Pferde standen in düsteren und stickigen Boxen. Das Dach der Scheune war von Löchern durchstoßen. Toralf, der selbst in einem schmucken Haus am Klüt wohnte, suchte seit Monaten nach einem neuen Domizil für den Tierschutzverein und steckte keinen Cent mehr in die Anlage. Der ersehnte Umzug war ein Dauerthema für die Leute vom Schutzhof. Keines der einfachen Mitglieder konnte wissen, dass es Toralf kaum um den Tierschutzverein selbst ging. Mit den Tierfreunden hätte gleichzeitig die Glaubensgemeinschaft eine neue Heimat gefunden. Toralf stand beiden Gruppen vor und wusste dieses zum Vorteil der Brüder und Schwestern bestens zu nutzen. Ein abtrünniger Glaubensbruder hatte einmal behauptet, der Pferdeschutzverein wäre der Wirt und die darin hausende Organisation der blutsaugende Schmarotzer. Kein schmeichelhaftes, aber durchaus zutreffendes Bild, wie Rudmar zugeben musste.

    Sorgfältig putzte er die Stiefel ab, bevor er den Flur betrat. Der unübersehbaren Baufälligkeit zum Trotz verlangte Toralf Ordnung im Erdgeschoss. Hier befanden sich der Seminarraum, zwei einfache Gästezimmer und das Büro des Schutzhofes. Den meisten Leuten, die zu Rudmars Seminaren auf den Hof kamen, waren die Gästezimmer zu primitiv, und sie übernachteten lieber in einer Pension. Deshalb hatte Toralf das größere Zimmer vor kurzem an einen Jungen aus Frankfurt vermietet. Björn war nicht im Haus, jedenfalls hing seine Lederjacke nicht an der Garderobe. Vielleicht hatte er endlich eine Arbeit gefunden. Als einfacher Glaubensbruder gehörte er zu den Personen, die sich mit Toralfs öffentlichen Ritualen und einer Light-Version ihrer Religion, wie Valerie es einmal spöttisch formuliert hatte, begnügen musste. Doch er strebte ganz eindeutig nach Höherem und verfolgte Toralf wie ein Schatten. Rudmar war diese Aufdringlichkeit zuwider.

    Leichtfüßig stieg er die ausgetretenen Treppenstufen hinauf. In seiner Zeit in Wiesbaden hätte er die winzigen Dachkammern niemals als Wohnung akzeptiert, und selbst als Student wäre er nicht in eine solche Behausung gezogen. Inzwischen kümmerte es ihn nicht weiter. Das waren Äußerlichkeiten, die nicht zählten. Valerie empfand es mit Sicherheit anders. Sie hatte für Rudmar nicht nur ihre Ehe, sondern auch ein bequemes Zuhause aufgegeben. Trotzdem beklagte sie sich nicht. Bisher nicht. Noch war Sommer. Im Winter, wenn die Kohleöfen rußten und der Sturm durch die Fensterritzen pfiff, würde sie vielleicht weniger nachsichtig sein. Ada lag auf der oberen Stufe und schaute ihm entgegen. Beim Wedeln klopfte sie mit der buschigen Rute gegen den Türrahmen. Als er die Tür öffnete, drückte sie sich an ihm vorbei und trabte voraus in die Küche. Dort saß Valerie über die zerschrammte Tischplatte gebückt und sortierte getrocknete Kräuter zu grünen Haufen. Sie sah nicht auf als er herein kam, und zupfte mit den Fingerspitzen an einem Bündel aus welken Blättern. Im eisernen Kohleofen, ein Stück wie aus einem Freilichtmuseum, knisterte die Glut, und im Kessel auf der Herdplatte begann das Wasser zu sieden.

    Endlich hob Valerie den Kopf. Sie lächelte. »Ich bin gleich fertig. Ich will nur noch die Kräuter in Papier einwickeln.«

    Sie griff nach einer Deister-und-Weser-Zeitung der vergangenen Woche, schlug wahllos eine Seite auf und wollte das Kräuterbündel darauf legen, als sie überrascht innehielt. »Das habe ich neulich übersehen. Die Dewezet hat über diese Rehaklinik für Pferde berichtet.«

    »Lass mal sehen!« Er beugte sich über ihre Schulter und überflog die Zeilen. Neben dem Artikel war das Foto einer jungen Frau abgedruckt, die ein Pferd am Zügel hielt: Hella Reincke, die Geschäftsführerin der kürzlich eröffneten Pferdeklinik. Rudmar duckte sich ein wenig tiefer herunter. »Na so was! Ich kenne Hella aus Wiesbaden. Wie mag sie ausgerechnet nach Hameln gekommen sein?«

    »Weil sie aus Hameln stammt«, bemerkte Valerie trocken. »Der Reinckehof gehörte ihren Eltern.«

    Er richtete sich auf und blickte mit leichtem Misstrauen auf sie herab. »Darüber steht aber nichts in dem Artikel.«

    Valerie packte die Kräuterbündel auf die Zeitung und begann, das Papier aufzurollen. »Wir kennen uns seit der Schulzeit. Später sind wir uns in Wiesbaden wieder begegnet. Ich hätte nie gedacht, dass Hella so wie ich einmal nach Hameln zurückkehren würde. Merkwürdig, wie sich unsere Wege immer wieder kreuzen.«

    »Du willst sie besuchen?«

    »Auf keinen Fall«, widersprach sie heftig. »Wir sind nicht im Guten auseinander gegangen. Wie hast du Hella kennen gelernt?«

    »Durch gemeinsame Bekannte auf der Wiesbadener Weinwoche«, sagte er. »Es ist lange her.«

    »Und seid ihr, ... ich meine, ward ihr enger befreundet?«

    Sie erhielt keine Antwort. Draußen kam Wind auf. Er klapperte mit den Fensterläden und fing sich heulend unter dem Giebel.

    Rudmar trat ans Fenster. Er schaute in den Hof hinunter und auf die Kastanienbäume, die wild die Äste schüttelten. »Das wird ein ordentliches Unwetter geben. Magst du auch einen Tee?«

    Valerie war noch mit ihren Pflanzenbündeln beschäftigt, als er die Teetassen auf den Tisch stellen wollte.

    »Vorsicht! Warte noch!« Sie nahm einen Lappen und wischte mit weiten Schwüngen über die Tischplatte.

    Er schob die Tassen zurück ins Regal. »Pass auf mit dem Zeug! Dass davon bloß nichts als Basilikum in der Tomatensuppe landet.«

    Valerie lachte leise. »Wünsch dir das nicht! Sieh mal, was ich heute Morgen am Hohenstein gefunden habe. Beinahe hätte mich der Förster erwischt.«

    Der Fuß des Hohensteins und die Dütberge, eine Gruppe niedriger Kuppen südöstlich von Hameln – eiszeitlich Endmoränen – gehörten zu ihren bevorzugten Sammelgebieten für Heilpflanzen und Pilze aller Arten. Die mageren Böden sorgten für eine spezifische Vegetation. Sie nahm einen verschrumpelten graubraunen Pilz vom Fensterbrett, auf das sie ihn zum Trockenen gelegt hatte, und hielt ihn wie eine Trophäe hoch. Der lateinische Name klang lang und unverständlich.

    »Toralf war sehr beeindruckt von meinem Fund! Vor allem nachdem ich ihm erklärt habe, dass ein paar Krümel davon im Tee genügen, um einen Menschen ins Jenseits zu schicken.« Sie schnupperte an dem hässlichen vernarbten Schirm, sorgsam darauf bedacht, ihn dabei nicht mit der Nasenspitze zu berühren. »Übrigens habe ich einen Wissenschaftler ausfindig gemacht, der sich bestens mit Schamanismus auskennt.«

    In ihrem Blick lag etwas Triumphierendes. Bisher hatte er ihr Buchprojekt unterstützt und dabei darauf vertraut, dass der Großteil dessen, was er ihr über seine Visionen anvertraut hatte, nur ihrem eigenen Verständnis dienen und nicht an die Öffentlichkeit gelangen sollte. Die Gespräche hatten ihm sogar gut getan. Sie analysierte seine Berichte mit einer bemerkenswerten Emotionslosigkeit und hatte ihm zudem ein Mitspracherecht am Manuskript eingeräumt. Von einem Experten, der vorab wie mit dem Seziermesser in ihren Aufzeichnungen herum stochern würde, war keine Rede gewesen.

    Er stieß Ada, die sich an seine Beine schmiegen wollte, mit dem Knie zur Seite. »Toralf hat es mir erzählt! Wieso sagst du es ihm zuerst?«

    Sie zog den Pilz zurück. »Reg dich nicht auf, Rudmar. Ich hatte den Laptop auf dem Tisch und war im Internet gerade auf die Adresse des Mannes gestoßen, als Toralf herein kam. Er hat es auf dem Bildschirm gelesen. Du weißt, er ist gegen das Buch. Aber was kümmert uns das! Stell dir vor, dieser Ethnologe wohnt in Hameln!«

    Ihre Antwort klang ehrlich und beschwichtigte ihn. Zudem sie ihm versicherte, sie hätte den Mann noch nicht angerufen. »Das hat Zeit. Ich will das Gespräch mit ihm gut vorbereiten. Jedenfalls werde ich nicht eine Zeile ungeprüft veröffentlichen.«

    »Von einer Veröffentlichung kann bis jetzt nicht die Rede sein«, wandte er ein. »Oder hat sich ein Verlag gemeldet?«

    Sie lachte. »Stell dir vor, ein Verlag ist tatsächlich sehr interessiert! Man erwartet in den nächsten Tagen ein Konzept.«

    Das Aufblitzen ihrer Augen verriet, wie sehr sie sich auf die Aufgabe freute. Behutsam legte sie den Pilz zurück auf die Fensterbank.

    Rudmars Blicke folgten ihr. »Toralf macht sich Sorgen. Er befürchtet, dass du die Gemeinschaft bloßstellen willst.«

    »Und was ist mit dir?«, fragte sie herausfordernd. »Bist du inzwischen auch gegen das Buch? Schließlich wird es in ersten Linie von dir handeln.«

    Ein Donnerschlag ließ sie zusammen zucken. Augenblicklich erhellte ein Blitz den Hof, und der erste Schauer prasselte gegen die Fensterscheibe.

    Rudmar sah gar nicht hin. »Du weißt, ich fürchte die öffentliche Meinung nicht. Ganz und gar nicht. Mir geht es um etwas ganz anderes. Das große Ritual ...«

    »Nein, Rudmar!«, unterbrach sie ihn. »Kein Wort darüber!«

    Sie drückte wie ein Kind die Hände auf die Ohren. Ada verkroch sich mit eingezogener Rute unter dem Tisch.

    »Du kannst mich ebenso wenig aufhalten wie Toralf«, rief er aufgebracht. Ihr hartnäckiger Widerstand verletzte ihn. »Kann ich weiter auf deine Treue zählen?«

    »Wer könnte treuer sein als ich?« Sie nahm die Hände herunter. »Mit keiner Silbe habe ich verraten, was bisher geschehen ist. Aber was du in Zukunft verlangst ...«

    Als er einen Schritt näher kam, wich sie zur Seite. Er hätte sie mit einem schnellen Griff packen und an den langen Haaren zu sich heran zerren können. Stattdessen blieb er abwartend stehen. Ihre Schultern kippten nach vorn. Sie wirkte noch zarter als sonst. Zerbrechlich und verletzlich.

    »Hast du überhaupt eine Vorstellung davon, was du von mir forderst?«, flüsterte sie.

    »Aber natürlich weiß ich das«, sagte er, mit einem Mal voller Mitgefühl.

    Sie wich seinem Blick aus. »Du setzt unsere Liebe aufs Spiel.«

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