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Kolonie Ost: Die Toucan-Trilogie
Kolonie Ost: Die Toucan-Trilogie
Kolonie Ost: Die Toucan-Trilogie
eBook484 Seiten6 Stunden

Kolonie Ost: Die Toucan-Trilogie

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Über dieses E-Book

Für alle außerhalb der Kolonie Ost wird die Zeit knapp

In einer Furcht einflößenden Welt, in der eine Epidemie fast alle Erwachsenen auf der Erde ausgelöscht hat, kämpft die fünfzehnjährige Abby darum, ihren Bruder und ihre Schwester zu beschützen.

Als eine neue, tödliche Krankheit unter den Überlebenden ausbricht, muss Abby die gefährliche Reise zur Kolonie Ost wagen, einer verborgenen Enklave von Wissenschaftlern, die sich aus unbekannten Gründen um eine kleine Gruppe von Kindern kümmert.

Abby fürchtet, dass die Zeit für die Opfer knapp wird, aber sie muss bald feststellen, dass auch für alle außerhalb der Kolonie Ost die Zeit davonläuft.

SpracheDeutsch
HerausgeberScott Cramer
Erscheinungsdatum1. Juli 2020
ISBN9781071554494
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    Buchvorschau

    Kolonie Ost - Scott Cramer

    KOLONIE OST

    DIE TOUCAN TRILOGIE

    BUCH 2

    ––––––––

    Scott Cramer

    Originaltitel: Colony East—Toucan Trilogy—Book 2

    Copyright 2013 Scott Cramer

    www.facebook.com/AuthorScottCramer

    Alle Rechte vorbehalten.

    Dieses Buch darf ohne die schriftliche Genehmigung des Autors weder ganz noch in Teilen reproduziert werden, Internetnutzung eingeschlossen.

    ISBN-13: 978-1505943733

    Coverbild von Silviya Yordanova

    www.facebook.com/MyBeautifulDarkness

    Redaktion

    http://laurakingsley.yolasite.com

    Formatierung von Polgarus Studio

    http://www.polgarusstudio.com

    Übersetzung von Malin Arend

    Die Personen und Handlung dieses Buches sind frei erfunden. Jegliche Verweise auf tatsächliche Personen, Begebenheiten, Organisationen etc. werden nur aus Gründen der Authentizität und fiktiv verwendet. Alle Dialoge, Ereignisse und Charaktere entspringen der Fantasie des Autors und nicht als real ausgelegt.

    WIDMUNG

    Für V, Megumi, J-girl, Harry & Misty-Duck

    RÜCKKEHR NACH

    CASTINE ISLAND

    KAPITEL EINS

    Abby war seit zwei Tagen wach und erholte sich von der Epidemie, die beinahe alle Erwachsenen der Welt dahingerafft hatte. Jetzt spürte sie, wie sie tiefer in die Matratze aus Winterjacken sank, die sie auf dem Boden aufeinandergestapelt hatte.

    Sie fürchtete, dass jemand versuchen könnte, in das Haus einzudringen, also stemmte sie sich hoch, indem sie sich auf ihren sonnenverbrannten Arm rollte. Irgendjemand musste schließlich Wache halten. Obwohl das Haus ihrer Mutter eines von tausenden war, das seit der Nacht des lila Mondes leer stand, wusste Abby, dass das Festland ein gefährlicher Ort war.

    Sie sehnte sich danach, wieder die salzige Luft auf Castine Island zu atmen. Ihr Zuhause auf der Insel lag zwanzig Meilen östlich von Portland, Maine, und von Boston, wo sie sich jetzt befanden, etwa hundert Meilen Luftlinie entfernt. Sie vermisste ihre Schwester Toucan. Außerdem zählten diejenigen, die sich auf der Insel der Pubertät näherten, darauf, dass sie und ihr Bruder Jordan mit den Antibiotikum-Tabletten zurückkamen. Die Pillen waren das einzige Heilmittel gegen die tödlichen Bakterien.

    Es war ein Jahr her, dass der Komet an der Erde vorübergezogen war. Aus seinem langen Schweif war Staub in die Atmosphäre eingedrungen und hatte den Himmel, die Sonne und den Mond lila gefärbt. Der Staub hatte außerdem Krankheitserreger enthalten, die die menschlichen Hormone befielen, die der Körper erstmalig in der Pubertät produzierte. Erwachsene und ältere Teenager waren binnen Stunden gestorben. Der Komet hatte eine Welt von Kindern hinterlassen, deren älteste Überlebenden mit der tickenden Zeitbombe der näher rückenden Pubertät im Inneren lebten. Wissenschaftler des Seuchenschutzzentrums, die in Quarantäne ebenfalls überlebt hatten, hatten nach einigen Verzögerungen schließlich ein Antibiotikum entwickeln können, das die Bakterien besiegte. Die ersten dieser Tabletten wurden gerade an einigen Stellen im Land verteilt.

    Abby verdrehte den Kopf, um zu den anderen im Wohnzimmer sehen zu können. Mondlicht umriss die Silhouette von Jordan auf dem Sofa, den wirren Haarschopf aus braunen Locken als Kopfkissen. Im Schlaf sah ihr Bruder immer liebenswürdig aus. Abby fröstelte, als sie daran dachte, wie nahe ihr Bruder dem Tod gekommen war. Sie würde sich nie wieder über seine Dickköpfigkeit beschweren.

    Mandy und Timmy, die Kinder vom Festland, teilten sich einen Polstersessel. Der neunjährige Timmy hatte das letzte Jahr ganz auf sich allein gestellt überlebt. Mit seiner Schmachtlocke und seinem strahlenden Grinsen schien er von Tragödie in Tragödie zu springen, als würde er von einer aufregenden Achterbahnfahrt zur nächsten hasten.

    Mandy war vierzehn Jahre alt und sah friedlich aus, wie sie an Timmy gekuschelt dasaß. So ähnelte sie nicht im geringsten mehr dem knallharten Mädchen mit der Reihe von Piercings und ungleichmäßig abgeschnittenen blonden Haaren, dessen Blick für einen Gegner ebenso tödlich war wie das Messer, das sie bei sich trug.

    Durch das Fenster sah Abby den Vollmond hoch am Himmel stehen und schätzte, dass es zwei Uhr sein mochte. Bis auf das Bellen von Hunden in der Ferne und das Summen von Grillen, die in den überwucherten Rasenflächen zirpten, war es draußen ruhig.

    Sie rümpfte die Nase, als der beißende Geruch von Rauch durch die zerbrochenen Fensterscheiben drang. Es roch nach brennendem Gummi und Chemikalien. Irgendwo in Boston oder vielleicht irgendwo in Cambridge musste ein Feuer wüten. Ein weiteres Gebäude oder ein weiterer Häuserblock in der Stadt zu Asche werden.

    Sie schabte mit der trockenen Spitze ihrer Zunge gegen ihre Zähne und versuchte zu schlucken. Obwohl sie übermächtigen Durst hatte, erschien ihr die Anstrengung, bis zu der Bierdose auf dem Tisch zu krabbeln, viel zu groß.

    Sie alle brauchten etwas zu Essen und Wasser zu Trinken, und Mel war ihre beste Chance, das zu bekommen. Abby und Mel waren seit der zweiten Klasse beste Freundinnen gewesen. Mel wohnte in der Pearl Street, nur zwei Häuserblocks entfernt – oder zumindest hatte sie dort gewohnt. Abby hatte sie seit über einem Jahr nicht mehr gesehen. Vor der Epidemie hatten sie sich immer zusammengetan und Jordan geärgert, wenn dieser sie genervt hatte – also sozusagen immer. Mel war schneller und stärker als irgendein Junge, den sie kannte.

    Gestern war Abby zu Mels Haus gefahren und hatte Wäsche im Garten hängen sehen, aber es hätte auch die von jemand anderem sein können, der das Haus bloß besetzt hielt. Sie hatte an der Haustür eine Notiz hinterlassen, nur für den Fall, dass sie doch dort wohnte, um Mel wissen zu lassen, dass Jordan und sie im Haus ihrer Mutter waren.

    Würde Mel ihre Vorräte mit ihnen teilen? Viele Kinder hamsterten Essen und Wasser, weil sie glaubten, dass es die einzige Möglichkeit war, um zu überleben. Abby dagegen glaubte, dass es die ganze Gruppe stärkte, wenn sie sich um jede einzelne Person kümmerten. Danach hatten sie auf Castine Island zu leben versucht. Ihr war klar, dass die Epidemie die Menschen veränderte, aber sie war der Überzeugung, dass ihre Freundin ihnen helfen würde, wenn sie konnte.

    Während sie nach oben starrte, spürte Abby, wie eine tiefe Erschöpfung von ihr Besitz ergriff, und sie begann, an der Decke Bilder zu sehen; sie segelte nach Hause und hatte die ruhigen Gewässer des Hafens von Castine Island erreicht. Sie richtete ihren Blick auf die Spitze der meilenlangen Kaimauer, die sich in die Mündung des Hafens streckte. Es war ihr Lieblingsort auf der Insel, um allein zu sein. Sie stellte sich vor, dass der widerliche Rauch von dem fernen Feuer der volle, rohe Duft von Seetang bei Ebbe wäre. Abby fielen die Augen zu, als sich ein Gefühl von Frieden über sie legte wie Nebel über einen Teich.

    ~ ~ ~

    Abby fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf auf. Draußen klapperten Schritte auf dem Asphalt. Jemand sprintete die Pearl Street herunter. Abby blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und setzte sich auf, aber plötzlicher Schwindel warf sie wieder zurück, als ob jemand sie geschlagen hätte. Sie drehte sich zum Fenster. Der Mond, schmutzig von den Rauchwellen, schwebte über den Häuserdächern der anderen Straßenseite. Es würde bald dämmern.

    Der Rennende kam näher. Adrenalin schoss durch Abbys Körper, als derjenige näher und näher kam, bis sie glaubte, dass er die Stufen hoch und ins Haus gestürmt kommen würde. Sollte sie die anderen aufwecken?

    Plötzlich war es still, abgesehen von dem Trommeln in ihren Schläfen. Sie fragte sich, ob der Rennende stehengeblieben war, oder ob er sich lautlos durch das hohe Gras bewegte. Sie hielt den Atem an und horchte auf ein Knarren oder ein Rascheln auf dem Holz, irgendetwas, das ankündigte, dass jemand die Stufen erklomm.

    Abby hörte, wie noch andere nähergerannt kamen. Es klang, als wäre dort ein ganzes Rudel von Kindern. Vielleicht verfolgten sie den ersten Rennenden, oder vielleichtverfolgte eine größere Gruppe sie alle. Es war nur zu alltäglich hier auf dem Festland, dass die Stärkeren die Schwächeren jagten.

    Wieder überlegte sie, ob sie die anderen wecken sollte. Da jedoch keinerlei Gefahr zu drohen schien, beschloss sie schließlich, sie schlafen zu lassen. Sie waren unsichtbar, sagte sie sich. Das Haus ihrer Mutter war vor langer Zeit geplündert worden und unterschied sich nicht von all den anderen Häusern in dieser Straße. Selbst wenn sie entdeckt wurden, besaßen sie nichts Wertvolles, außer vielleicht die halbvollen Dose Bier.

    Abby schluckte hart und musste sich an Mandys Motorrad denken. Mandy und sie hatten es hinter die Büsche neben dem Haus gerollt. Das Motorrad war extrem wertvoll für sie, da es eine schnelle Möglichkeit bot, die Boote im Hafen von Boston auszukundschaften und zu den Antibiotikum-Tabletten am Flughafen zu gelangen. Sie konnte nur hoffen, dass sie es gut genug versteckt hatten.

    „In welche Richtung?", rief ein Junge. Abby fiel auf, dass er eine tiefe Stimme hatte. Er musste in ihrem Alter sein, wenn nicht sogar älter.

    „Da lang", sagte ein anderer Junge.

    „Wartet hier", sagte ein Mädchen.

    „Sie ist weg, sagte der mit der tiefen Stimme, diesmal wütend. „Wir haben sie verloren.

    Offenbar musste die Person, die vor der Gruppe weggerannt war, ein Mädchen gewesen sein.

    Die Kinder hielten an, um wieder zu Atem zu kommen. Als sie dort standen, schwer atmend, und miteinander redeten, trieben ihre Stimmen durch das zerbrochene Fenster herein. Sie mussten draußen gleich davor auf der Straße stehen. Abby setzte sich auf und hielt inne, um Kräfte zu sammeln, als die Wände anfingen, sich zu drehen. Sie konzentrierte sich auf die Stimmen.

    „Glaubt mir, sie ist hier irgendwo, sagte das Mädchen. „Sie versteckt sich. Ich bin mir sicher.

    „Sonst...!" Abby konnte den Rest des Satzes nicht verstehen.

    Sie beschimpften sich und redeten darüber, wo sie die Weggelaufene finden konnten. Abby zählte vier Stimmen: zwei Mädchen, zwei Jungen. Sie alle klangen, als könnten sie etwa dreizehn oder vierzehn Jahre alt sein. Der Junge mit der Männerstimme war mindestens so alt.

    Noch immer sah sie keinen Grund, die anderen aufzuwecken. Was immer draußen vor sich ging, hatte nichts mit ihnen zu tun. An oberster Stelle stand für sie, zur Insel zurückzukehren.

    Jordan grunzte laut und schlug mit den Armen um sich. Ein Schauder kroch Abby über den Rücken. Es war nicht der erste Albtraum, den ihr Bruder in dieser Nacht hatte, und glücklicherweise ging es schnell vorüber. Abby hielt den Atem an, besorgt darüber, dass die Bande draußen den Ausbruch mitbekommen haben könnte.

    „Ich brauche jetzt eine von den Pillen", bellte der mit der tiefen Stimme.

    „Hör auf zu jammern, Brad, fuhr das Mädchen ihn an. „Wir brauchen alle eine.

    Abby zitterte immer noch. Sie erkannte, dass die Kinder krank waren. Wer konnte es ihnen da verdenken, dass sie angespannt waren? Die Krankheit war entsetzlich: Man hatte einen Monat lang hohes Fieber, Appetitlosigkeit, im fortgeschrittenen Stadium Halluzinationen und bekam einen schmerzhafter Ausschlag, der die Haut verschlang, bevor man ein paar Tage später schließlich starb. Das Antibiotikum war das einzige Heilmittel.

    „Woher sollen wir wissen, dass sie überhaupt Tabletten hat?", fragte der andere Junge.

    „Warum sollte sie sonst wegrennen?", fragte das Mädchen.

    Abby wollte ihnen zurufen, dass sie zum Flughafen gehen sollten, wie alle anderen auch. Boston war ein Verteilzentrum der ersten Phase, eine von einer Handvoll Städte im Land, die die erste Lieferung der Tabletten erhielten. Die Wissenschaftler teilten das Antibiotikum am Logan Airport aus.

    „Brad, ich versteh dich nicht, sagte das Mädchen. „Vielleicht hätte sie sie mit uns geteilt.

    „Hast du ein Problem mit mir?", gab Brad zurück.

    „Was du gemacht hast, war dumm, warf das Mädchen ihm vor. „Sie haben dir nichts getan.

    Brad knurrte. „Guck mich nicht so an."

    „Oder was? Schlägst du mir sonst auch den Schädel ein?"

    „Ich bin durchgedreht, okay?", sagte Brad.

    Abby verzog das Gesicht und kroch zum Fenster, wo sie sich an die Wand direkt unter dem Fenstersims lehnte. Kühle, rauchige Luft strömte über sie hinweg wie ein verschmutzter Wasserfall. Sie wagte nicht, ihren Kopf höher zu heben, da sie fürchtete, dass ihre Bewegung sonst von draußen zu sehen sein könnte.

    „Teilen wir uns auf und treffen wir uns in zehn Minuten wieder hier", schlug das Mädchen vor.

    „Sie ist uns mittlerweile bestimmt eine Meile voraus", sagte Brad.

    Abby hoffte für sich selbst und für das namenlose Mädchen, das wegrannte, dass das stimmte.

    „Hey, was ist das?"

    Brads Stimme ließ Abby zusammenfahren. Er war näher zum Fenster gekommen. Viel näher.

    „Wir verschwenden unsere Zeit", sagte der andere Junge.

    Brad keuchte auf. „Hier drüben!" Er atmete schwer durch den Mund.

    Brad war jetzt so nah, dass sie die Hand hätte ausstrecken und ihn berühren können. Abby hörte, wie sie miteinander redeten.

    „Ich glaub’s nicht. Ein Motorrad."

    „Es ist abgeschlossen."

    „Denkt ihr, es ist vollgetankt?"

    „Der Tankdeckel ist abgeschlossen."

    „Überrascht dich das?"

    „Weißt du, wie man sowas fährt?"

    „Wie schwer kann das schon sein?"

    „Auf dem Nummernschild steht Maine. Brad redete mit gedämpfter Stimme. „Irgendwer ist aus Maine hergekommen, um die Tabletten zu kriegen. Sie sind hier drin. Sie haben Tabletten. Ich bin mir sicher.

    Sie hielten inne und schalteten eine Taschenlampe ein. Abbys Hand fuhr zu ihrem Mund, um ihr scharfes Einatmen zu ersticken. Batterien waren eine Seltenheit, und nur die brutalsten Banden hatten welche.

    Licht glitzerte auf den zerbrochenen Stellen der Fensterscheiben. Der Strahl tanzte über die Decke über ihr, schoss hin und her wie die Augen eines hungrigen Raubtiers. Dann ging das Licht aus.

    Abby wusste, dass sie das Haus jeden Moment betreten und die Schlüssel zu dem Vorhängeschloss an dem Motorrad verlangen würden. Wäre es dabei nur um sie gegangen, hätte sie sie ihnen überlassen. Das Motorrad war keine Notwendigkeit, war es nicht wert, dass sie dafür ihr Leben opferten. Aber Mandy lebte nach einem anderen Kodex. Sie würde darum kämpfen.

    Die Bande würde außerdem Tabletten von ihnen verlangen. Abby hatte die letzte Pille, die sie hatten, zerdrückt und das Pulver in Jordans Rachen gestopft. Aber davon würden sie niemals irgendetwas glauben – und was würde dann geschehen? Verzweifelte Menschen taten unvorhersehbare Dinge, und nach dem, was sie gehört hatte, klang es, als hätte Brad bereits jemandem den Schädel eingeschlagen.

    Sie konnten es unmöglich mit Brads Bande aufnehmen. Selbst wenn sie nicht vier gegen vier gewesen wären – sofern sie die Stimmen richtig gezählt hatte – erholten Jordan und sie sich immer noch von der Krankheit und hatten selbst mit etwas Glück kaum die Kraft eines einzelnen, wenn man sie zusammenzählte. Timmy wog allenfalls dann fünfundzwanzig Kilo, wenn sich seine Kleidung mit Wasser vollgesogen hatte. Damit blieb nur Mandy übrig. Mit ihrem Messer konnte sie es mit zweien auf einmal aufnehmen, aber dann blieben immer noch zwei weitere.

    Abby fragte sich, ob sie mit sich reden lassen würden. Sie könnte ihnen erklären, dass sich die lange Schlange für die Tabletten am Flughafen zwar langsam bewegte, aber zumindest bewegte sie sich vorwärts.

    Wenn das misslang, konnte sie immer noch versuchen, zu bluffen. Eine Bande, die ein Motorrad besaß, musste besonders gefährlich und gemein sein, oder? Sie würde sie überzeugen, dass die Mitglieder ihrer Gang in der Überzahl waren, und das sie, die Jäger, zu den Gejagten werden würden. Leider wusste Abby, dass sie nicht gerade eine gute Lügnerin war.

    Während Zweifel sie fest im Griff hielten, presste sie sich an die Wand, bereit, etwas zu tun, von dem sie hoffte, dass es ihnen Angst einjagen würde – und ihr wertvolle Sekunden einbrachte, um die anderen aufzuwecken.

    Sie sprang auf die Füße und wedelte wie wild mit den Armen und begann, zu rufen. Ihr Rufen kam als klägliches Krächzen heraus, und eine neue Welle von Schwindel packte sie. Sie musste sich am Fensterbrett festhalten.

    Mit Schrecken starrte sie aus dem Fenster. Doch die Bande hatte sich bereits auf die andere Straßenseite zurückgezogen und Abby war plötzlich dankbar für ihre ausgedörrte Kehle. Hastig duckte sie sich außer Sicht.

    Erneut spähte sie aus dem Fenster, darauf bedacht, den Glassplittern direkt vor ihrer Nase nicht zu nahe zu kommen. Sie sah vier Gestalten, die dicht beieinander standen. Eines der Kinder war fast einen halben Meter größer. Das musste Brad sein.

    Als Abby sich von dem Fenster entfernte, raschelte draußen etwas. „Da ist sie!", schrie Brad.

    Die Taschenlampe ging flackernd an, und der Strahl richtete sich auf ein Mädchen, das aus dem Gebüsch auf der anderen Straßenseite kam. Sie trug eine grüne Jacke und hatte lange Haare. Sie rannte direkt auf sie zu, wie ein Stier, der auf einen Matador losging. In der letzten Sekunde drehte sie sich zur Seite und raste die Pearl Street hinab. Wie Löwen hinter einer Gazelle stürzten die vier Kinder los und hinter ihr her.

    Es ergab keinen Sinn. Warum war das Mädchen auf sie zu gerannt? Abby schrieb es der Verrücktheit auf dem Festland zu.

    Da sie davon ausging, dass Brads Gang zurückkommen würde, um das Motorrad zu holen und Tabletten einzufordern, falls sie das Mädchen nicht erwischten, rüttelte Abby Jordans Schulter. „Hey, wach auf."

    Er grunzte, verschränkte die Arme und rollte sich auf die Seite.

    Die Geschichten darüber, was ihr Bruder alles durchschlafen konnte, waren legendär. Feuerwehrautos. Nebelhörner. Schreiende Babys. „Los, Jordie." Als sie ihn wieder rüttelte, schlug er ihre Hand beiseite.

    Sie sah ihre Niederlage ein und ging hinüber zu den anderen. Es versetzte ihrem Herzen einen Stich, zu sehen, wie Mandy an ihrem Daumen lutschte, und Timmy Mandys freie Hand mit beiden seiner eigenen umklammerte. Abby schauderte, als sie an Mandys tränenreiches Eingeständnis zurückdachte, aber es hatte ihr geholfen, zu verstehen, wieso Mandy sich als Timmys entschlossene Beschützerin verhielt, obwohl sie ihn seit kaum ein paar Stunden kannte. Selbst in dem Sessel aneinander gekuschelt sahen sie aus, als würden sie frieren, also deckte sie sie mit einer Jacke zu.

    Abby beschloss, sie alle schlafen zu lassen und nahm sich das einzige Bier, das noch da war. Sie neigte die Dose an ihre Lippen. Es war eine besondere lilafarbene Sorte, extra zu Ehren des Kometen gebraut. Sie nahm einen kleinen Schluck, der kaum ihre geschwollene Zunge befeuchtete, und schloss die Augen, kostete den schwachen, wässrigen Geschmack aus. Sie wollte nichts lieber, als ihren Kopf in den Nacken werfen und den Rest herunterstürzen, um ihren Durst zu löschen, aber sie hob den Rest für die anderen auf.

    Sie setzte sich auf die Klavierbank neben dem Fenster, um Wache zu halten. Der östliche Himmel zeigte bereits eine Spur von Licht durch den dunstigen Rauch. Sie betrachtete Vorgärten, in denen sie einst gespielt hatte, während ihre Gedanken die Stimmen von Nachbarn abspielte, die in der Nacht des lila Mondes gestorben waren. Angesichts der schwindelerregenden Menge der Verluste von Menschen, die einst Teil ihres Lebens gewesen waren, verspürte sie inzwischen nur noch Taubheit.

    Narzissen blühten im Garten unter dem Fenster. Das Schluchzen kam ohne Vorwarnung, begleitet von Tränen, von denen Abby nicht gedacht hätte, dass sie noch welche übrighatte. Sie rannen ihr die Wangen hinab. Sie hatte ihrer Mutter vor drei Jahren dabei geholfen, die Blumenzwiebeln zu pflanzen.

    Abbys Gefühle in Hinblick auf ihre Mutter waren noch frisch. Jordan und sie hatten Dad im letzten Jahr begraben. Gemeinsam mit Toucan hatten sie als Familie getrauert. Aber ihre Mom war hier im Haus, gleich oben in ihrem Bett, seit einem Jahr ungestört.

    Jordan war in ihr Zimmer gegangen. „Mom sieht so friedlich aus. Geh zu ihr, Abby."

    Abby hielt an einem besonderen Bild in ihrem Kopf fest – ihre Mutter auf der Castine Island Fähre, gesund und glücklich, das rote Haar im Wind wehend, während sie vom Deck aus winkte. Abby wollte diese Erinnerung an ihre Mutter aufrechterhalten.

    Die Morgendämmerung brach herein und wischte die Schatten und ihre düsteren Gedanken fort. Hohes Unkraut spross aus Rissen im Bürgersteig, und ein Teppich aus Eichen- und Ahornlaub bedeckte die Straße. Die Natur forderte die Stadt zurück. Abby fragte sich, ob Cambridge eines Tages einer uralten Mayastadt gleichen würde, vom Dschungel verschlungen, oder ob die Kinder sie mit der Hilfe von den wenigen übrig gebliebenen Erwachsenen erhalten und wiederaufbauen würden.

    Der Himmel erhellte sich zu einem polierten Grau, als sich in der Ferne schwarze Rauchschwaden zusammenbrauten. Der Rauch war so dicht und schwarz, dass er die Sonne austilgte. Änderte dieses Feuer etwas an ihren Plänen? Konnten sie über die Route, die sie kannte, zum Flughafen gelangen, oder würden sie einen anderen Weg finden müssen?

    Dies und andere Probleme belasteten ihre Gedanken schwer, sodass Abby es bald nicht länger aushielt, allein zu sein, egal, wie sehr die anderen sich ausruhen mussten. Sie warf ein letztes Mal einen Blick nach rechts und links die Straße hinab, dann drehte sie sich um zu dem Anblick der schlafenden Kinder.

    „Hey, Zeit aufzustehen." Abby drückte Jordans Schulter. Wieder schlug er ihre Hand weg. Er machte seinem Ruf, ein grummeliger Bär im Winterschlaf zu sein, alle Ehre. Sie zog in Erwägung, ihn vom Sofa zu zerren, was ihm nur Recht geschehen würde.

    Der Türknauf der Haustür klickte und Abby erstarrte.

    Wie dumm konnte sie sein? Brads Gang war zurückgekehrt. Sie hatten ihr Fenster die ganze Zeit über beobachtete und machten nun den ersten Schritt, sobald sie ihren Posten verlassen hatte.

    Ihr Herzschlag dröhnte. Sie hastete zu Mandy und drückte ihren Arm. Mandys Augen flogen auf. Abby legte einen Finger an ihre Lippen und deutete in Richtung der Tür.

    Mandy verstand sofort. Sie zog Timmys Kopf näher an sich heran, und legte eine Hand über seinen Mund. „Schhh", wisperte sie ihm ins Ohr.

    Die Tür quietschte.

    Abby hielt vier Finger hoch, um Mandy zu zeigen, gegen wie viele Kinder sie kämpfen mussten. Dann hob sie einen Finger höher, um ihr zu zeigen, dass eines der Kinder ein Monster war. Mandy nickte und zog ihr Messer aus dem Etui. Der Anblick der langen Klinge jagte Abby einen Schauder über den Rücken.

    Mandy legte das Etui auf den Boden. Dann tippte sie Timmy an und deutete auf eine der Ecken des Zimmers. Sie wollte, dass der Junge ein gutes Stück entfernt und in Sicherheit war. Timmy blieb, wo er war, bereit, jeglicher Gefahr ins Auge zu sehen. Mandy warf ihm einen scharfen Blick aus zusammengekniffenen Augen zu. Missmutig schlich er auf Zehenspitzen in die Ecke.

    Als die Haustür mit einem Klicken zufiel, fürchtete Abby, dass die Bande drinnen war.

    Sollte sie versuchen, Jordan aufzuwecken? Wenn sie jetzt etwas sagte, würde sie sie alle in Gefahr bringen. Sie atmete tief durch und konzentrierte sich auf den Flur. Das Blut rauschte in ihren Ohren und blendete alle anderen Geräusche aus.

    Mandy drückte sich an die Wand, bereit, plötzlich und kraftvoll zuzustoßen. Sie umfasste das Messer fester und gab Abby ein Zeichen, den Weg freizumachen. Abby wollte sich nicht zu weit von Jordan entfernen, vertraute Mandys Instinkt jedoch. Also bewegte sie sich zu einer Stelle neben dem Klavier, von wo aus sie einen guten Blick in den Flur hatte. Sie bemerkte eine Bewegung. Sie spannte sich an. Timmy kroch nach vorn.

    Als das Mädchen mit der grünen Jacke um die Ecke kam, hob Mandy das Messer hoch und sprang vor. In einer fließenden Bewegung drehte sie ihren Oberkörper und stieß mit der Messerhand vor.

    „Halt! Ich kenne sie!", schrie Abby.

    In dem Augenblick, als die Messerspitze die Jacke des Mädchens berührte, fuhr Mandy überrascht zusammen. Sie öffnete ihre Finger, und das Messer fiel zu Boden.

    Abby warf ihre Arme um den Hals ihrer Freundin Mel und weinte vor Erleichterung.

    KAPITEL ZWEI

    Jordan setzte sich abrupt auf, als der Motor eines Motorrads aufröhrte. Schwindel erfasste ihn, und er schwang einen Arm über die Rückenlehne des Sofas, um sich abzustützen. Er war allein in einem Zimmer, das er nur zu gut kannte. Erinnerungen rieselten in sein Bewusstsein. Das Haus in Cambridge. Er war hier aufgewachsen. Als er neun war, war er mit Abby, Toucan und seinem Dad nach Castine Island gezogen, aber seine Mom war wegen ihres Jobs in Boston hier geblieben. Jetzt war sie endlich soweit, dass sie ihnen folgen konnte.

    Nein. Alle Erwachsenen, auch seine Mutter, waren vor einem Jahr gestorben. Schmerz pulsierte tief in seinem Herzen. Letzte Nacht hatte er ihren Leichnam oben gefunden. Um sich endgültig von ihr zu verabschieden, hatte er eine Hand ausgestreckt und ihren Arm unter der Decke berührt. Jordan ballte die Fäuste und ächzte, während er darum kämpfte, die traurigen Erinnerungen aus seinem Gehirn zu verbannen.

    Er erinnerte sich dunkel daran, wie sie hier angekommen waren. Abby hatte ihm die Stufen hinaufgeholfen und auf dem Weg nach drinnen gestützt. Sie hatte ihn zum Sofa gebracht. Jetzt kam alles zurück. Abby war zum Flughafen gefahren, um die Tabletten zu holen, während er allein im Haus zurückgeblieben war. Eines schien ihm gewiss: Sie musste erfolgreich gewesen sein – sonst wäre er nicht mehr hier, um sich irgendwelche Fragen zu stellen.

    Jordan stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als er ein behelfsmäßiges Bett aus Jacken auf dem Boden entdeckte. Vielleicht war Abby draußen vor dem Haus, bei demjenigen mit dem Motorrad?  Das Geräusch des Motors im Leerlauf machte ihn aus irgendeinem Grund unruhig.

    „A-Aaa..." Sein Versuch zu Rufen blieb ihm in der trockenen Kehle stecken.

    Er wollte zum Fenster gehen, aber so, wie sich gerade alles um ihn drehte, würde er mit dem Gesicht auf dem Boden landen, bevor er mehr als einen Schritt machen konnte.

    Er fuhr sich mit dem Ärmel über die Augen und fragte sich, ob er halluzinierte. Auf dem Tisch stand eine Dose Bier. Er griff danach, warf sie jedoch aus Versehen um. Lilafarbenes Bier tropfte von der Tischkante. Schnell versuchte er es mit der Zunge aufzufangen und von der staubigen Tischplatte zu lecken, war dabei jedoch nicht gerade erfolgreich. Er sackte erneut auf dem Sofa zusammen und verfluchte sich selbst.

    Der Motor des Motorrads heulte auf. Jordan spürte, wie er vor Wut rot anlief, als er mit einem Mal an die Gang dachte, die Abby und ihn in New Hampshire im Stich gelassen hatte. Mandy, Jerry und ihr Anführer, Kenny, hatten sie von Portland bis Boston mitgenommen, um die Tabletten zu holen. Jordan würde nie vergessen, wie das Geräusch der Motorräder in der Ferne verklang, als sie davonrasten und Abby und ihn zum Sterben am Straßenrand zurückließen.

    In seinem Hals formte sich ein riesiger Kloß, als er das Messeretui auf dem Boden entdeckte. Er erkannte es augenblicklich. Er hatte Mandy nie ohne das lange Messer gesehen, das ihr am Gürtel baumelte.

    Wie konnte Mandy hier sein? Und warum? Abby musste sie irgendwo getroffen haben und ihr eine Bleibe angeboten haben. Es klang ganz nach seiner Schwester, so nachsichtig zu sein. Und es klang auch ganz nach seiner Schwester, etwas so Dummes zu tun.

    Ihn durchfuhr eine Welle aus kalter Angst. Vielleicht hatte Mandy Abby erstochen. Sie war zu allem fähig. Er suchte mit den Augen das Zimmer ab und fand glücklicherweise kein Blut, aber das bedeutete nicht, dass Abby in Sicherheit war.

    Er sprang auf und verlor im selben Moment das Gleichgewicht und sackte auf ein Knie. Er heftete seinen Blick auf das Gemälde über dem Klavier. Es war ein Aquarell von den Segelbooten im Hafen von Castine Island. Jordan benutzte das Bild als optischen Anker und erhob sich. Er schwankte, als hätte er die ganze Dose Bier getrunken, aber es gelang ihm, sich auf den Füßen zu halten.

    Zum Fenster zu gehen wäre Zeitverschwendung. Er konnte Abby nicht mit seinen Augen verteidigen. Er brauchte eine Waffe.

    Er ging in Richtung der Küche, um sich mit einem Messer zu bewaffnen. Sich durch Wellen von Schwindel und Übelkeit hindurchkämpfend stolperte er die drei Schritte zur Wand zwischen dem Flur und dem Wohnzimmer. Von dort aus schob er sich Stück für Stück weiter, dabei immer mit der Schulter an der Wand entlang streifend, bis er in den Flur kam. Dort hielt er inne, um sein nächstes Ziel ins Auge zu fassen: die Küchentheke. Wenn er es bis dahin schaffte, konnte er sich bis zur Messerschublade abstützen. In der Schublade lag ein Fleischerbeil, das seine Mutter immer benutzt hatte, um Hühnchen kleinzuhacken.

    Er warf sich nach vorn und griff nach der Küchentheke. Handgriff um Handgriff, Schritt für Schritt, arbeitete er sich vor, am Herd vorbei, am Gewürzeschrank, an der Zwiebelschublade, dem Toaster daneben, der Spüle, einem zerbrochenen Glas, einer leeren Müslipackung. Der Weg erschien ihm endlos.

    Er riss die Messerschublade mit einem Ruck auf und schluckte ein Aufschluchzen herunter. Das Fleischerbeil war nicht dort. Die Tranchiermesser fehlten ebenfalls. Ihm wurde klar, dass Plünderer jedes größere Messer mitgenommen hatten.

    Er schnappte sich ein Schälmesser, das eine schmale, vielleicht acht Zentimeter lange Klinge hatte. Es war der schärfste Gegenstand in der Schublade. Besser als nichts, dachte er mit einem Seufzen.

    Das Messer fest umfassend machte er einen Schritt in Richtung der Haustür und geriet ins Taumeln. Er ruderte wild mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, schwankte nach links. Er verlagerte sein Gewicht, legte sich nach rechts auf die Seite wie ein Boot zu hart am Wind, und stürzte nach vorn. Er schlug hart mit der Schulter auf dem Boden auf.

    Jordan richtete sich auf seine Knie auf und krabbelte im Zickzack weiter, mied dabei die Glasscherben, die auf dem Boden verteilt lagen. Als er die Tür erreichte, tastete er blind nach dem Knauf, zog jedoch seine Hand hastig zurück, als seine Handfläche scharfkantiges Glas an dem zerschlagenen Fenster in der Tür berührte. Blut tropfte an seinem Arm herunter.

    Er übergab das Messer an die Hand mit dem Schnitt und umfasste damit fest den Griff, um den Blutfluss aufzuhalten. In einer einzigen Bewegung stemmte er sich hoch und stieß die Tür auf.

    „Jordie!"

    Er prallte zurück. Abby stand vor ihm. Ihre Wangen waren eingefallen. Schmutz bedeckte ihre sonnenverbrannte Haut. Ihre roten Locken hingen schlaff herunter. Sie sah halb tot aus. Ein kleiner Junge war mit ihr auf der Veranda, ebenso wie ein weiteres Mädchen in Abbys Alter. Das Mädchen starrte ihn mit schockleerem Blick an. Tiefe Traurigkeit spiegelte sich in ihren Augen wider.

    In dem Moment fuhr Mandy mit ihrem Motorrad die Pearl Street hinab.

    Jordan platzte heraus: „Hat Mandy dir wehgetan?"

    „Mir wehgetan? Abby schüttelte den Kopf. „Sie hat uns das Leben gerettet.

    „Hä? Das Messer fiel ihm aus der Hand. Der neue Junge lief die Stufen bis zum Bürgersteig herunter. „Mandys Gang hat uns zum Sterben zurückgelassen, sagte Jordan.

    Ein besorgter Ausdruck huschte über das Gesicht seiner Schwester. „Mandy hat uns Tabletten gegeben."

    Es waren ihre Augen, die ihn erstaunt nach Luft schnappen ließen. Zum ersten Mal seit Wochen leuchteten sie voller Lebensmut. Mandy musste sie hereingelegt haben. „Ist mir egal, was sie uns gegeben hat. Wir sollten ihr nicht trauen."

    Abby streckte eine Hand aus und nahm den Schnitt in seiner Hand in Augenschein. Er war etwa fünf Zentimeter lang und befand sich nahe am Daumenansatz. Jordan verzog das Gesicht, als sie ihn mit der Fingerspitze nach irgendwelchen Fremdkörpern wie Glassplittern abtastete. „Wir müssen das säubern und verbinden."

    „Wo ist Mandy hingefahren?", fragte er.

    „Sie versteckt das Motorrad."

    „Abby, sie ist gefährlich."

    Sie runzelte die Stirn. „Es gibt da einiges, was ich dir erzählen muss."

    „Wer sind die?", fragte er und deutete auf die Fremden.

    Abby deutete mit einem Kopfnicken zu dem Jungen auf dem Bürgersteig. „Timmy hab ich auf dem Weg zum Flughafen kennengelernt. Und an Mel erinnerst du dich doch noch, oder?"

    „Mel?" Jordan Kinnlade klappte herunter. War das hier dasselbe Mädchen, das ihn so oft in den Schwitzkasten genommen hatte, bis er um Gnade flehte? Mel Ladwick, Abbys beste Freundin, die er so gerne gepiesackt hatte und bei der er immer versucht hatte, schneller zu laufen als sie, obwohl Mel ihn immer eingeholt hatte. Sie rannte wie eine Löwin. Jetzt war Mel ein Schatten ihres früheren Selbst. Irgendetwas stimmte ganz und gar nicht mit ihr.

    Abby nahm ihn am Ellbogen. „Lass uns in die Küche gehen." Er widersetzte sich ihren Bemühungen, ihn umzudrehen, und trat an ihr vorbei auf die Veranda hinaus. Der Himmel über ihnen war dunkel und wurde nach Süden hin noch dunkler. Die Nachbarschaft war still und verlassen. Jordan hatte das unheimliche Gefühl, als wäre eine große Bombe explodiert und

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