In Sorge um Europa: Bausteine für eine gemeinsame Identität
Von Verlag Herder
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Über dieses E-Book
Mit Beiträgen von Wolf Biermann, Monika Grütters, Romano Guardini, Andreas Rödder, Michael Rutz, Patricia Schlesinger und Peter Wittig.
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Buchvorschau
In Sorge um Europa - Verlag Herder
Michael Rutz (Hg.)
In Sorge um Europa
Bausteine für eine gemeinsame Identität
Abb002© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019
Alle Rechte vorbehalten
www.herder.de
Umschlagskonzeption: Verlag Herder GmbH
Umschlagmotiv: © id-work/iStock/Getty Images
E-Book-Konvertierung: Daniel Förster, Belgern
ISBN E-Book: 978-3-451-81946-9
ISBN Print: 978-3-451-03249-3
Inhalt
Michael Rutz
Europa neu denken
Von Romano Guardini bis heute – unverändert aktuell
Romano Guardini
Europa – Wirklichkeit und Aufgabe
Rede nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962
Monika Grütters
Vom Reichtum europäischer Kultur
Antworten auf die Frage nach dem »Wir«
Andreas Rödder
Auf die eigene Kraft vertrauen
Eine historische Bestandsaufnahme Europas und ihre aktuellen Folgen
Patricia Schlesinger
Das europäische Ideal
Eine Reflexion über ethische Verbundenheit und innere Provinzen
Peter Wittig
Warum ich Europäer bin
Eine biografische Annäherung
Wolf Biermann
Den Tiger der Demokratie reiten …
Ein Gesprächskonzert
Die Autorinnen und Autoren
Michael Rutz
Europa neu denken
Von Romano Guardini bis heute – unverändert aktuell
Bedeutende Errungenschaften kommen und gehen. Manchmal eröffnen sich die Chancen – aber keiner ergreift sie. Und nicht selten wird eine großartige Gegenwart vertan, weil man sie für selbstverständlich hält und sie nicht sorgsam pflegt. In dieser Gefahr steht gegenwärtig die Europäische Union.
Im Inneren droht sie von Nationalismus zerfressen zu werden, der sich aus Neid und der Idee einer Volkszugehörigkeit speist, die dem ius sanguinis näher ist als jeder anderen Begründung von Staatsangehörigkeit. Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Abschottung sind dann nicht mehr weit, ein fataler Weg, auf dem sich gegenwärtig Großbritannien befindet, aber auch manch östlicher EU-Nachbar. Das kann nicht Sache von Christen sein.
Im Äußeren aber haben die anderen Großmächte der Welt entdeckt, dass ihnen eine Europäische Union im Wege sein kann, die ihre wirtschaftliche Kraft bündelt, ihre Verteidigung gemeinsam organisiert und auch in ihrer Außenpolitik aus gemeinsamen Werten lebt und hier eine koordinierte Stoßkraft entwickelt. Deshalb versuchen sie, mit attraktiven bilateralen Abkommen einzelne Staaten aus der Europäischen Union herauszubrechen und so die Wirkung des Europäischen Verbundes zu zerstören.
Wo bleibt der Aufschrei? Wo bleibt das entschiedene, das leidenschaftliche politische Handeln, wo die politischen und auch christlichen Missionare, die von den Kanzeln unserer Zeit den Menschen in Europa davon erzählen, wie schnell die Friedensdividende der europäischen Idee verspielt sein kann? Mit Schweigen, mit Toleranz alleine verteidigt man keine Freiheit und keine Demokratie. Die europäische Idee muss wehrhaft sein, lautstark, emotional und selbstbewußt.
Weil es sich um eine für uns Heutige und auch für die folgenden Generationen zutiefst existenzielle Frage handelt, haben sich die DomGedanken 2019 der europäischen Idee angenommen – ihres Zustandes, ihrer Ziele und auch notwendiger und möglicher Reformen. Daraus entstand eine Vortragsreihe, die auf außerordentliche Resonanz stieß. Sie wurde, das ist erwähnenswert, von EVONIK Industries in Essen finanziell unterstützt im festen Glauben an Europa und seine kulturellen Wurzeln, auf denen auch das heutige Wirtschaftsethos beruht. Das Domkapitel am St. Paulus-Dom zu Münster, namentlich Dompropst Kurt Schulte und Domkapitular Hans Bernd Köppen, haben die Reihe theologisch eindrucksvoll und organisatorisch perfekt begleitet, wie dies auch mit berührender Musik Domorganist Thomas Schmitz tat. Sie alle engagierten sich, weil sie wissen: Europa ist in Gefahr.
Einer, der heute diese Gefahr erkennen und sofort die Kanzeln erklimmen würde, ist der große Theologe Romano Guardini, dessen 50. Todestag wir im vergangenen Jahr begangen haben. Vor dem Zweiten Weltkrieg machte er, vom Lehrstuhl an der Humboldt-Universität zu Berlin aus und auf den Kanzeln der Hauptstadt, den Nazis die Einvernahme des historischen Jesus in ihre antisemitische Ideologie streitig und focht gegen den ausgrenzenden Faschismus, gegen den Niedergang der Demokratie.
Nach dem Kriege setzte er seine Kämpfe für die christliche Freiheit an der Universität München fort, wo sein Lehrstuhl für christliche Weltanschauung und Religionsphilosophie zu den intellektuell attraktivsten Angeboten der Universität gehörte. Die Menschen, die ihm, dem Universitätsprediger, sonntags in der meist überfüllten Münchner Ludwigskirche zuhörten, spürten: Da war ein Universalgelehrter, den liturgische und dogmatische Fragen seiner Kirche ebenso umtrieben wie die christlichen Grundlegungen der Gesellschaft, der Politik, der Literatur, der Wissenschaft, der Musik.
Guardini redete mit Leidenschaft, er hatte einen feinen Sinn für die Gefährdungen der Menschenwürde. Er konnte die dem Christen auferlegten Pflichten nicht nur nennen, sondern sie in die Anforderungen der Gegenwart transponieren.
In Italien geboren und in Deutschland beruflich etabliert, stand Guardini zwischen zwei Nationen, die ihm Heimat gaben. Er überspannte diese Dichotomie mit dem festen Bewusstsein, Europäer zu sein, was ihm nicht nur eine geografische Festlegung gewesen ist. Europäer wollte er auch sein, weil er die gemeinsame christliche und (damit eng verbundene) kulturelle Geschichte Europas für das einzige Fundament hielt, auf dem diese Gemeinsamkeit würde bestehen können.
Wenn nun wieder, in der Folge der großen Flüchtlingsströme, das Andere, das Fremde zum Verkehrten und Bedrohlichen, zum Feindlichen umgedeutet wird und ein Staat wieder Feinde haben kann – dann würde Guardini daran erinnern, wie stark doch die Widerstände gegen solche Vorgänge wie die Bildung einer echten europäischen Gesinnung noch sind und wie viel noch geschehen muss.
So tat er es 1962 in seiner großen Rede »Warum ich Europäer bin«, als er in Brüssel den Praemium Erasmianum erhielt, eine Rede, die namensgebend für unsere diesjährige Vortragsreihe der DomGedanken ist.
Guardini wägt darin »Begabungen« einzelner Erdteile ab und weist Europa mit seinen Erfahrungen großer Erfolge und großen Leides und vor dem Hintergrund des ins Menschliche tief eingreifenden technischen Fortschritts die Aufgabe zu, »Kritik an der Macht« zu üben. Und wörtlich: »Nicht negative Kritik, weder ängstliche noch reaktionäre; aber ihm sei die Sorge um den Menschen anvertraut, weil es dessen Macht nicht als Gewähr sicherer Triumphe, sondern als Schicksal erlebt, von dem dahinsteht, wohin es führen werde … Europa hat die Idee der Freiheit – des Menschen wie seines Werkes – hervorgebracht; ihm wird es vor allem obliegen, in Sorge um die Menschlichkeit des Menschen, zur Freiheit auch gegenüber seinem eigenen Werk durchzudringen.«
Damit dieses Europa wirklich entstehe, sei es notwendig, »dass jede seiner Nationen ihre Geschichte umdenke; dass sie ihre Vergangenheit auf das Werden dieser großen Lebensgestalt hin verstehe.« Guardini sah Europas Zukunft in einem die kulturelle Lebensfülle aller Stämme umfassenden Bundesstaat, eine Aufgabe, an der das antike Griechenland gescheitert sei, weshalb es in römische Unfreiheit versank.
Diese große Rede stand am Beginn der DomGedanken 2019 – eine historische Rede Guardinis, vom Tonband nur, aber dennoch ein voller Dom, ein Indikator für die Sensibilität der Menschen, die sie für die Erschütterungen des europäischen Gefüges haben. Guardini endet seinen Vortrag: »Auch Europa kann seine Stunde versäumen. Das würde bedeuten, dass eine Einung nicht als Schritt in freieres Leben, sondern als ein Absinken in gemeinsame Knechtschaft verwirklicht würde.«
Ein Appell, der aus dem Heute kommt. Es lohnt sich, Guardini auch als großen Europäer wiederzuentdecken. Seine Rede von 1962 »Warum ich Europäer bin« eröffnet diesen Band.
Romano Guardini
Europa – Wirklichkeit und Aufgabe
Rede nach der Verleihung des »Praemium Erasmianum« zu Brüssel am 28. April 1962
Ew. Königliche Hoheit! Meine Damen und Herren!
Die Verleihung des Erasmus-Preises bedeutet für mich eine hohe und aufs Lebhafteste empfundene Ehre – darüber hinaus eine Bestätigung besonderer Art, über die ich gleich noch Genaueres sagen möchte. Vor allem bitte ich aber Ew. Königliche Hoheit als den Regenten der Stiftung des »Praemium Erasmianum«, sowie auch dessen Kuratorium, meinen angelegentlichsten Dank entgegennehmen zu wollen. Die empfangene Ehre wird für mich die Verpflichtung bedeuten, meine Bemühungen um das Werden eines lebendigen europäischen Bewusstseins fortzusetzen.
Über den Europa-Gedanken etwas Hörenswertes zu sagen, ist, nachdem so viel des Bedeutenden in Wort und Schrift gesagt worden ist, nicht leicht. Erlauben Sie mir, von eigener Erfahrung auszugehen. Wenn man alt geworden ist, dann darf man das wohl, falls man sich bemüht, nicht pedantisch zu werden.
Meine Eltern waren Italiener und leidenschaftliche Patrioten. Eine wirtschaftliche Unternehmung führte meinen Vater nach Deutschland; aber auch da suchte er für sein