Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte
Von Wallstein Verlag
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Über dieses E-Book
Europa befindet sich in einem Übergangsstadium zwischen unabhängigen Nationalstaaten und einem geeinten Europa. Die Krisen der EU - Finanzkrise, Migrationskrise, Brexit - haben die europäische Idee in Gefahr gebracht. Neben das Narrativ Europa als Friedensprojekt müssen weitere sinnstiftende Erzählungen treten, um einen von Emotionen getragenen, europaweiten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen.
Die Frage ist: Wie können wir aus nationaler Vielfalt eine europäische Einheit bilden? Eine solche Einheit scheint heute mehr denn je erforderlich, um den globalen Herausforderungen begegnen zu können. Es gilt, die grundlegenden Werte, Konzepte und Identitäten Europas zu betrachten und zu überlegen, was Europa für die Welt leisten kann.
Mit Beiträgen u.a. von: Gabriel Felbermayr, Clemens Fuest, Jörn Leonhard, Rudolf Mellinghoff, Timo Meynhardt, Hans Ulrich Obrist, Yael Tamir, Roberto Viola
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Der Wert Europas in einer bedeutsameren Weltgeschichte - Wallstein Verlag
Autoren
Einführung
Liebe Convoco-Freunde,
es ist das erste Mal seit seinem 15jährigen Bestehen, dass Convoco sich ausdrücklich dem Thema Europa widmet. Natürlich wurde Europa seit Jahren immer mittelbar diskutiert. Denn man spricht über Europa, wenn man über das Rechtsstaatsprinzip nachdenkt, wenn man das Thema Demokratie beleuchtet, wenn man das Prinzip des Gemeinwohls, bzw. das des Sozialstaats, untersucht. Die Reihe ließe sich fortsetzen. All dies sind zentrale europäische Werte, auch wenn sie sich in den Interpretationen unterscheiden. Es wird schnell klar, dass Europa der Ursprung von Ideen und Konzepten ist, die ganz wesentlich für die Zivilisation der Welt sind. Und dann ist man auch bereits teilweise bei den Antworten zu den Fragen, um die es im vorliegenden Band geht: Was hat Europa der Welt zu geben? Für was steht Europa? Und was begründet den Anspruch Europas, neben den USA und den aufstrebenden Mächten Asiens ein Global Player zu sein?
Der Glaube an Europa scheint jedoch verloren zu gehen. Die europäische Idee ist im Moment nicht en vogue. Wir beobachten unsere Zeit im Aufruhr: Wut, Verwirrung, Vorurteile und die Radikalisierung von Menschen, die bisher nicht radikal waren. Europa hat das Vertrauen in sich selbst verloren – denken wir an den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU und an die voranschreitende Nationalisierung der einzelnen Staaten. Nichts scheint mehr sicher, nachdem Westeuropa 70 Jahre Frieden und Prosperität erlebt hat.
Es wird schnell klar, dass Europa sich mit seinen christlichen Wurzeln und seinen Prinzipien der Aufklärung in einer Identitätskrise befindet. In seiner Geschichte wurde Europa immer wieder neu entworfen und verhandelt. Bis heute ist Europas Motto »in Vielfalt geeint« (etabliert im Jahr 2000) eine Idee, die darauf wartet, tatsächlich realisiert zu werden. Die entscheidende Frage dabei lautet: Wie kann man aus der nationalen europäischen Vielfalt eine Einheit schaffen, in der jede Nation ihr eigenes, individuelles Leben führen kann, während gleichzeitig ihre Souveränität so weit eingeschränkt ist, dass es möglich ist, als Einheit international zu agieren. Es geht darum, eine Einheit durch die Vielfalt, durch die Verschiedenheit zu schaffen, und nicht darum, aus der Vielzahl eine Einheit zu machen. Es geht um ein Nebeneinander, getragen von einem Miteinander. Ein solches Europa entsteht durch die wechselseitige Würdigung des Andersseins.[1] Das heißt, man erkennt die Identität der Anderen, von denen man sich mit Behauptung der eigenen Identität unterscheiden will, an.
Kulturell ist Europa durch den Geist des Christentums geprägt, der auf die römisch-hellenische und jüdische Tradition zurückgeht. Diese Ideen wurden im Zuge der Aufklärung, die dem Einfluss der Kirche Grenzen setzte, tiefgreifend umgestaltet. Europas Eintreten für Freiheit, Demokratie und Individualität, also für die Rechte des Einzelnen, ist das Vermächtnis dieser historischen Entwicklungen. Die rechtsstaatliche Gewährleistung individueller Freiheitsrechte bildete sich beispielsweise im 17. Jahrhundert in England heraus. Ziele des Rechtsstaats sind die Mäßigung der Staatsgewalt, die Gewährung von Grund- und Menschenrechten, die Selbstbestimmung und das Recht des Bürgers, gerichtlichen Schutz in Anspruch zu nehmen. Als die höchste Errungenschaft der Aufklärung ist die Trennung von Staat und Kirche anzusehen. Erst der säkulare Staat machte es möglich, dass sich Wissenschaft als Autorität etablierte, während sich das christliche Prinzip der Nächstenliebe, Brüderlichkeit und Demut im Sozialstaat ausprägte.
Die Konzepte Europas hatten in der Geschichte allerdings auch eine andere Seite. Während innerhalb des Kontinents Toleranz, Freiheit und Gerechtigkeit etabliert wurden, existierte zeitgleich der europäische Imperialismus und Kolonialismus, also Unterdrückung, Sklaverei und Ablehnung des Anderen, getragen von einem europäischen Überlegenheitsgefühl. Ein nicht wegzudenkendes Merkmal Europas ist, dass es einerseits auf dem Prinzip der Inklusion basiert, andererseits auf dem der Exklusion.
Im 17. Jahrhundert fand die Herausbildung des Kontinents vor allem im Abgleich mit außereuropäischen Kulturen statt. In der Geschichte wurde das Fremde als primitiv, wild und exotisch ausgeschlossen. Zum Ende des 18. Jahrhunderts begann Europa ein europäisches Bewusstsein wiederzuerlangen: Das Gefühl einer kollektiven Identität, das durch die Reformation im 16. und 17. Jahrhundert zutiefst erschüttert worden war, fand nach dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress von 1815 neuen Ausdruck in dem Versuch, eine funktionsfähige gesamteuropäische Ordnung zu schaffen. Sämtliche Gesellschaftsbereiche wurden weitgehend zusammengedacht: ökonomische und soziale Ordnung, Mode, Architektur, Wissenschaft und technischer Fortschritt. Dieses europäische Bewusstsein deutete das Eigene als historisch gewachsen und kulturell bestimmt, indem es reale und fiktive Kontrastbilder schuf. Die Konstruktionen von kultureller Andersartigkeit dienten einerseits dazu, sich selbstkritisch zu hinterfragen, andererseits sich solidarisch nach außen abzugrenzen.[2]
Das moderne Europabewusstsein lässt sich mit dem französischen Historiker Jean-Baptiste Duroselle auf folgende Formeln bringen: L’Europe face aux Turcs. L’Europe face à l’Amérique. L’Europe face à elle-même.[3] Dieses Europa spiegelte Peter Paul Rubens in seinen Bildern wider. Er stellte einerseits das christliche Europa als bedroht vom Orient dar. Seit dem Fall Konstantinopels 1453 wirkte das muslimische Weltreich, die osmanische Bedrohung, als das »identitätsstiftende Andere« der Christen. Andererseits dokumentierte er das sich durch inneren Machtzwist und Konfessionskriege zerstörende Europa. Im gesamten Jahrhundert gab es in Europa nur drei einzelne Jahre ohne kriegerische Auseinandersetzung. Daraus entstand die europäische Sehnsucht nach Frieden.
Wie auch das Europa des Westfälischen Friedens, das sich aus den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges erhob, wurde das heutige Europa durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und den darauffolgenden Idealismus geprägt. Zu den ureuropäischen Ideen der Aufklärung kamen die Konzepte der Europäischen Union: der gemeinsame Markt, die Gleichbehandlung und die europäische Unionsbürgerschaft. Von diesen Prinzipien steht der gemeinsame Markt an erster Stelle. Die EU ist die größte Wirtschaft der Welt mit einem Bruttosozialprodukt von 31.000 Euro pro Kopf bei 500 Millionen Konsumenten. Gleichzeitig ist sie der weltgrößte Handelsblock. Dieser gemeinsame Markt allein kann aber nicht identitätsstiftend wirken. Die Europäische Union, und damit Europa, befindet sich »in need of meaning«, denn die heutige EU hat einen ökonomischen Weg statt des kulturellen Pfads eingeschlagen.
Hans Magnus Enzensberger schrieb bereits 1986: »Die Propagandisten des gemeinsamen Marktes [haben sich mit der Zeit] alle abendländischen Prätentionen abgeschminkt. An die Stelle der Idee sind die Interessen getreten […]. Der einst so eindringlich gepredigte ›Gedanke‹ ist entbehrlich geworden.«[4]
Derzeit gibt es nur ein einziges klares Werte-Narrativ, nämlich Europa als Friedensprojekt. Geschichtlich betrachtet hatte Deutschlands Einigung von 1871 eine Nation im Herzen der europäischen Staaten geschaffen, die zu groß, wirtschaftlich zu stark und zu mächtig war, um ein Gegengewicht innerhalb des Kontinents zu finden. Durch den Zusammenbruch des fragilen europäischen Gleichgewichts kam es zu den zwei Weltkriegen. Es entstand ein Wunsch nach Frieden, der über die verschiedenen europäischen Staatsgrenzen hinausging. So hat die »Deutsche Frage« das Europa von heute gestaltet und ist Grund für die Bildung einer Reihe von europäischen Institutionen, angefangen bei der European Steel and Coal Community (oft auch Montanunion genannt) bis hin zur heutigen Europäischen Union. Daher immer wieder hervorgehoben: Europa als Friedensprojekt. Doch während die kriegerischen Konflikte Europas in immer fernere Vergangenheit rücken, scheint auch das Werte-Narrativ des europäischen Friedens zunehmend in Vergessenheit zu geraten.
Es müssen daher noch weitere sinnstiftende Erzählungen hinzukommen, um einen europaweiten gesellschaftlichen Zusammenhalt zu schaffen, der nicht nur von wirtschaftlichen Interessen, sondern von Emotionen getragen wird – Emotionen, wie sie auch von EU-kritischen Nationalisten aktiviert werden. In der Geschichte waren es immer kollektive Fiktionen, die Gesellschaften verbunden haben, und durch die Zugehörigkeit entstand. Menschen denken in Form von Geschichten und nicht in Fakten, Zahlen und Statistiken, und je einfacher die Geschichte, desto wirksamer ist sie.[5] Europa selbst hat als literarisches Motiv begonnen. Der Name Europa erscheint zuerst in Homers Ilias, dann wählte Herodot die Bezeichnung im 5. Jahrhundert v. Chr. für die Länder nördlich des Mittelmeers, die nicht zu Asien gehörten.
Eine solche sinnstiftende Erzählung für Europa könnte zum Beispiel die zukünftige Erhaltung des Sozialstaates sein. Bisher sorgt der einzelne Staat für den Ausgleich zwischen Demokratie, Kapitalismus und sozialer Sicherheit. Dafür wird er von seinen Bürgern geschätzt. Dieses Erfolgsmodell gerät aufgrund des demografischen Wandels zunehmend unter Druck. Der Nationalstaat hat immer mehr Schwierigkeiten, seine Bürger effektiv abzusichern. Eine europäische Solidargemeinschaft – also eine Loslösung des Sozialsystems vom Nationalstaat hin zur Union – könnte hier Abhilfe schaffen und zeitgleich die emotionale Bindung Europas stärken.[6] Natürlich liegt hier auch die Gefahr neuer innereuropäischer Spannungen, wenn wirtschaftlich stärkere Mitgliedstaaten den Eindruck bekommen, dass weniger produktive Staaten von einem solchen System ungerechtfertigt profitieren.
Wichtig für die Gesamterzählung Europas ist auch die Demokratie. Als gemeinsamer Wert spielte sie bei der Identitätsfindung von Europa eine entscheidende Rolle. Sie war und ist auch das verknüpfende transatlantische Band. Zeitlicher Höhepunkt ist dabei der Mauerfall 1989 und die Gründung der Europäischen Union 1993. Dieses neue Europa ist die Antwort auf den Nationalismus des 20. Jahrhunderts. Es hat die Bereitschaft hervorgebracht, Souveränität zu teilen und gemeinsam Macht zu demonstrieren. Das heutige Europa und insbesondere das heutige Deutschland sind beide ein Produkt der liberalen Weltordnung.
Und diese liberale Ordnung scheint plötzlich in Gefahr zu sein, denn sie hat keine Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit wie den Klimawandel und die Disruption durch Technologie, die Hand in Hand geht mit ökonomischer Polarisierung. Weltweit befindet sich das liberale Narrativ in einer Krise. Und diese Krise führt dazu, dass Menschen sich zurückbesinnen auf alte Konzepte, die sich bereits im 20. Jahrhundert als falsch erwiesen haben, wie auf den Nationalismus, den religiösen Fanatismus oder auch auf den Sozialismus des vergangenen Jahrhunderts. Europa hat also in zweifacher Hinsicht ein Problem. Zum einen fehlt es an sinnstiftenden Erzählungen, zum anderen befindet sich mit dem Liberalismus ein fundamentaler Pfeiler des europäischen Wertesystems weltweit in einer Krise.
Im Osten Europas sind wir konfrontiert mit der Verwandlung unlängst noch demokratischer Regierungen wie die Ungarns und Polens in illiberale, autoritäre Systeme. Im Süden drohen Populismus und ein wirtschaftliches Ausscheren Griechenlands und Italiens. Im Westen verliert Europa einen wichtigen Mitgliedstaat. In ganz Europa sind starke populistische Tendenzen zu beobachten. Die Parteienlandschaft verschiebt sich gravierend und destabilisiert Regierungen.
Europa befindet sich in einem Übergangsstadium zwischen unabhängigen Nationalstaaten und einem geeinten Europa – auch wenn das künftige Ausmaß dieser Einheit kontrovers diskutiert wird. Solche Zeiten der Transformation verunsichern. Die Orientierung geht verloren. Faktoren fallen weg, die den kulturellen Rahmen ausgemacht haben.
Übergänge erfordern daher Rituale und emotionale Hilfestellungen – und genau an diesen mangelt es. Wir sollten mehr Zeit darauf verwenden, darüber nachzudenken, was Europa kulturell ausmacht, und dann Rituale schaffen, die Europa helfen, geeint zu sein. Zum Beispiel sollte die EU die Feierlichkeiten des jährlichen »Europe Day« am 9. Mai stärker ausbauen. Die europäische Idee braucht Wärme, die europäischen Bürger müssen sich für sie begeistern können, nur dann entsteht eine gemeinsam gefühlte europäische Identität.
Aufbauend auf einer gefestigten europäischen Identität sollte man dann überlegen, ob eine größere Einheit nicht zwingend notwendig ist, ein Global Player zu sein. Der geopolitische Stratege Parag Khanna bezeichnet das 21. Jahrhundert als das Asiatische.[7] Nach Jahrhunderten geprägt von Kolonialismus und der Teilung durch den Kalten Krieg kehrt Zusammenhalt nach Asien zurück. Die Ökonomien Asiens sind seit Jahren dabei zu wachsen. Der asiatische Binnenhandel, gesehen als Teil des asiatischen Gesamthandelsverkehrs, hat sich zwischen 2009 und 2016 von 29 Prozent auf 57 Prozent fast verdoppelt. Nicht nur die einzelnen Ökonomien, sondern der gesamte asiatische Raum erstarkt als einheitlicher Handelsraum. Das neue Ausmaß der Handelsbeziehungen innerhalb und zwischen den nicht-westlichen Regionen verringert bzw. beseitigt bestehende Abhängigkeiten von den USA und Europa.
Für Europa bedeutet das, dass es nun sowohl im Westen als auch im Osten zwei starken Handelsräumen gegenübersteht. Die America First-Politik der USA zwingt die EU militärisch wie wirtschaftlich in eine stärkere Eigenständigkeit. Gleichzeitig fordert der amerikanische Protektionismus, dass Europa und Asien neue Handelsbeziehungen aufbauen. Und bei einem Blick in die nahe Zukunft darf man auch nicht Afrika aus den Augen verlieren. Afrika hat eine kontinentale Freihandelszone etabliert, die CFTA. Wenn sie ein Erfolg wird, dann schafft sie einen Markt von heute schon 1,3 Milliarden Menschen mit einer Wirtschaftsleistung von rund 2 Billionen Euro.[8]
Es zeigt sich: Um als Global Player mitzuspielen, um mit den globalen Herausforderungen umgehen zu können, aber auch um den neuen global agierenden Unternehmen wie Amazon, Alphabet, Apple und Facebook zu begegnen – denn auch diese sind Teil der neuen imperialistischen Weltordnung –, muss man eine größere politische und wirtschaftliche Einheit darstellen.
Dabei ist auch zu beachten, dass Europas wirtschaftliche Innovation auf dem Gebiet der Digitalisierung im internationalen Vergleich weitgehend ausbleibt. Bei der Suche nach dem Warum stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Werte und Konzepte, die die Einzigartigkeit Europas ausmachen, auch ein Hindernis in der neuen Welt darstellen. Und gegebenenfalls: Wie müssen sich diese Werte adaptieren, um Europa den Weg in das neue Jahrhundert bzw. in das neue Jahrtausend zu ebnen?
Dieser Gedanke lässt sich am Beispiel des Rechtsstaatsprinzips erläutern. Das Recht ist ein wesentliches Mittel, die Ungewissheit, der Zukunft einzuschränken. Durch rechtlich verbindliche Vereinbarungen wird die Zukunft vorhersagbarer. Es bleibt aber ein großer Rest an Ungewissheit, und gerade diese Ungewissheit ist eine Grundvoraussetzung kapitalistischen Wirtschaftens. Sie eröffnet Chancen für Innovation und Kreativität. Ungewissheit kann als konstitutive Bedingung kapitalistischer Ökonomien angesehen werden. Angesichts dieser Tatsache kann man fragen, ob Europa das Rechtsstaatsprinzip überzogen hat. Zu überlegen ist, ob sich die Rule of Law – zumindest in den westlichen Demokratien Europas – zu einem Innovationshindernis entwickelt hat. In der Regellastigkeit liegt einer der Hauptkritikpunkte an der EU. Man kann hierin auch einen weiteren Grund für den Brexit sehen.
Man darf jedoch nicht vergessen, dass das Rechtsstaatsprinzip zu den wichtigsten Merkmalen europäischer Identität gehört und Voraussetzung für unser freiheitliches Zusammensein ist. Die Erkenntnis, dass erst die Verkehrsregeln und deren Durchsetzung den freien Verkehr gleichberechtigter Verkehrsteilnehmer ermöglichen, ist zentral. Es ist ein schmaler Korridor zwischen einem die Gesellschaft und die Ökonomie erdrückenden Rechtssystem und einem, das Wohlergehen und Innovation fördert. Ein starker Staat und eine starke Gesellschaft müssen sich in Balance befinden, damit Freiheit sich entfalten kann.[9]
Das Rechtsstaatsprinzip ist die Voraussetzung für Grund- und Menschenrechte. António Guterres sagte bei der Verleihung des internationalen Karlspreises im Mai 2019: »Europa ist zu bedeutend, um zu scheitern«, denn das wäre auch ein »Scheitern der Rechtsstaatlichkeit […]. Als Generalsekretär der Vereinten Nationen habe ich die Notwendigkeit eines starken und geeinten Europas nie so klar und deutlich gespürt wie jetzt«.
Noch ist das Projekt eines vereinten Europas nicht gescheitert. In der Vergangenheit hat Europa bewiesen, dass es sich ändern kann und dass es die Fähigkeit hat, sich neu zu definieren. In der Geschichte hat sich Europa immer entwickelt. Durch Anpassung und Veränderung hat es dem Wandel die Gewalt genommen. Fest steht lediglich: So wie bisher geht es nicht weiter.
Im Jahr 2013 diskutierte Convoco das Thema Rechnen mit dem Scheitern - Strategien in ungewissen Zeiten. Nur der Unkluge rechnet nicht damit, scheitern zu können. Der Kluge weiß, dass Scheitern ein Teil erfolgreichen Handelns ist. Der Philosoph Karl Popper zeigte der Wissenschaft, wie man mit Hilfe des fehlgeschlagenen Versuchs zu Erkenntnissen kommt. Das Prinzip Trial and Error ist in der Wissenschaft anerkannt. Wenden wir es auf das Projekt Europa an.
Die Notwendigkeit der Einheit besteht letztendlich nicht nur in Bezug auf Europa, sondern auch auf die Weltgemeinschaft als solche. Denn wie soll man anders als eine universale Gemeinschaft Herausforderungen wie dem Klimawandel entgegentreten? Die Antwort kann nur eine globale Allianz sein, die sich auf eine gemeinsame Ordnung verständigt. Das sollte unser aller Ziel sein.
Corinne Michaela Flick, im Januar 2020
Anmerkungen
1 Vgl. Bazon Brock, Europa fällt, in: Die Welt, 11. 5. 2019; ders., Europa bleibt, in: Die Welt, 24. 5. 2019.
2 Nicolas Detering, Krise und Kontinent: Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit, Köln 2017, S. 542.
3 Jean-Baptiste Duroselle (1917-1994), L’idée d’Europe dans l’histoire, Paris 1965, S. 75-103; siehe auch Detering (Anm. 2), S. 545.
4 Hans Magnus Enzensberger, Brüssel oder Europa – eins von beiden, in: Der fliegende Robert, hg. von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt am Main 1989, S. 117-125, hier S. 118.
5 Yuval Noah Harari, Does Trump’s Rise Mean Liberalism’s End?, in: The New Yorker, 8. 10. 2016.
6 Die Studie »How strong is European Solidarity?« fand in Europa eine mehrheitlich positive Einstellung zu der Idee einer EU-weiten Solidargemeinschaft. Siehe: Martin Heidenreich (Hg.), Horizontal Europeanisation. The Transnationalisation of Daily Life and Social Fields in Europe, New York 2019, S. 39-57.
7 Parag Khanna, The Future is Asian: Global Order in the Twenty-First Century, London 2019; siehe auch Convoco Interview mit Parag Khanna in diesem Band.
8 Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, 2019, https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Schlaglichter-der-Wirtschaftspolitik/2019/09/kapitel-1-6-pan-afrikanische-freihandelszone.html, abgerufen am 14. 1. 2020.
9 Siehe Daron Acemoglu und James A. Robinson, Das Gleichgewicht der Macht: Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft, Frankfurt am Main 2019.
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