Die Genese Europas: Der europäische Kontinent vom antiken Griechenland bis heute
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Europa ist ein Kontinent, der sich definieren muss, wenn er der wirtschaftlichen eine politische Einheit folgen lassen will. Da es weder eine gemeinsame Sprache noch einen gemeinsamen Staat in der Vergangenheit gegeben hat, bleiben als Definitionskriterien nur die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Diese Wurzeln sind es, die alle europäischen Staaten gleichermaßen beeinflusst und inspiriert haben. Sie sind über viele Jahrhunderte durch Kriege und gegenseitiges Misstrauen möglicherweise verschüttet gewesen. Aber verloren sind sie nicht.
Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika schafft Europa eine politische Einheit – wenn überhaupt – erst nach dem Prozess des "nation building". Als sich die Amerikaner zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 und der Verfassung 1787 zu den "Vereinigten Staaten von Amerika" zusammenschlossen, hatten die einzelnen Mitglieder dieser Konföderation den Prozess des "nation building" noch vor sich – und zwar gemeinsam. In Europa ist das genau umgekehrt und deshalb ungleich schwieriger, ohne dabei die zahlreichen Probleme zu ignorieren, die bei der Gründung der USA zu bewältigen waren. Um es bildlich zu machen: Der Unterschied zwischen den USA und Europa kann man an vielen Städten beider Kontinente sehen.
Matthias von Hellfeld
Matthias von Hellfeld ist promovierter Historiker und Journalist (WDR, VOX, Dt. Welle, ZDF, Deutschlandfunk, DRadioWissen), Autor zahlreicher historischer und politischer Sachbücher zur Geschichte Deutschlands und Europas und zum Rechtsextremismus. Zudem hat er zahlreiche TV- und Hörfunk-Beiträge zu historischen Themen verfasst. Er ist Dozent des Masterstudiengangs "OnlineRadio" der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg und beim Kölner Campus für lebenslanges Lernen, sowie Vertrauensdozent einer politischen Studienstiftung.
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Die Genese Europas - Matthias von Hellfeld
Matthias von Hellfeld
Die Genese Europas
Der europäische Kontinent
vom antiken Griechenland
bis heute
Teil 1
Von der griechischen Antike (600 v. Chr.)
bis zum Ende des Frankenreichs (900 n.Chr.)
Inhalt
1.) Vorwort
2.) Europa - Thesen
3.) Deutschland – Thesen
4.) Die griechische Antike
Die Polisgesellschaft
Sparta
Griechische Mythologie
Solon: Reform in Athen
Kleisthenes
Themistokles
Perikles
Europas antike Wurzeln
Grenzen der Polisdemokratie
Griechenland im dauerhaften Kriegszustand
„Europa" in der griechischen Antike
Peloponnesischer Krieg
Alle Macht den Philosophen!
Philosophen-Trias
Alexander „der Große"
5.) Die Römische Antike
Die Römische Republik
Ämter im antiken Rom
Die Mutter aller Verfassungen
Die Magistratsverfassung
Von der Republik zum Reich
Imperium Romanum
Hannibal Barkas und die Punischen Kriege
Europäische Supermacht
Proletarier Roms vereinigt Euch!
Bürgerkrieg
Aufstand der Bundesgenossen
Sulla
Caesar
Spartacus
Bello Gallico
Kaisertum
Weltmacht Rom
Kaiserzeit
Jesus von Nazareth
Die Geburt eines Vorurteils
Religiöse Verfolgungen
Augustus
Die Varusschlacht
Von Tiberius bis Marc Aurel
„Constitutio Antoniniana"
Beginn der Spätantike
Das Konzil von Nicäa
Christentum wird Staatsreligion
Europa und das Imperium Romanum
6.) Germanen und Völkerwanderung
Römer, Gallier und Germanen
Gallien und Germanien
Götterdämmerung in Rom
Das Wandern der Völker
Die Goten
Alarich
Die Plünderung Roms
Attila
Odoaker und das Ende des Weströmischen Reichs
Die Merowinger
Das „christliche Abendland"
Slawen
Justinian I. und die „Restauratio Imperii"
„Codex Iustinianus"
Langobarden-Herrschaft
Mohammed
7.) Das Frankenreich
Hausmeier
Die Schlacht bei Tours und Poitiers
Bilderstreit zwischen Rom und Konstantinopel
Pippinische Schenkung
Die Franken und der Papst
Geburt eines Superstars
Kaiserkrönung
Die Organisation des Frankenreichs
Das fränkische Regierungssystem
Das Lehnswesen
Karolingische Renaissance
„Translatio Imperii"
Die Mitte Europas
Karls Erben und der Streit um die Nachfolge
Karolingischer Familienstreit
Straßburger Eide
Die letzten Karolinger
8.) Verwendete und empfohlene Literatur
1.) Vorwort
Der vorliegende Text ist die Grundlage meiner über drei Trimester gehaltenen Vorlesung am Kölner „Campus für lebenslanges Lernen, die im September 2013 begonnen hat. Ziel der Vorlesung ist ein Verständnis für das moderne Europa des 21. Jahrhunderts zu vermitteln und gleichzeitig Traditionen frei zu legen, die der Politik von heute zu Grunde liegen. Von den ersten „demokratischen
Schritten im antiken Griechenland bis in unsere Tage sind 2600 Jahre vergangen. Es waren Jahrhunderte, in denen in Europa viel Blut vergossen worden ist für Ideen, nach denen wir heute das geeinte Europa ausrichten. Vieles von dem, was mühsam errungen worden ist, erscheint uns heute alltäglich: Ohne Parlamentarismus, Trennung von Kirche und Staat, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung von Frauen und Männern oder den allgemeinen Menschenrechten ist ein Leben in Europa nicht mehr vorstellbar.
Europa ist ein Kontinent, der sich definieren muss, wenn er der wirtschaftlichen eine politische Einheit folgen lassen will. Da es weder eine gemeinsame Sprache noch einen gemeinsamen Staat in der Vergangenheit gegeben hat, bleiben als Definitionskriterien nur die gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Diese Wurzeln sind es, die alle europäischen Staaten gleichermaßen beeinflusst und inspiriert haben. Sie sind über viele Jahrhunderte durch Kriege und gegenseitiges Misstrauen möglicherweise verschüttet gewesen. Aber verloren sind sie nicht.
Im Unterschied zu den Vereinigten Staaten von Amerika schafft Europa eine politische Einheit – wenn überhaupt – erst nach dem Prozess des „nation building. Als sich die Amerikaner zwischen der Unabhängigkeitserklärung am 4. Juli 1776 und der Verfassung 1787 zu den „Vereinigten Staaten von Amerika
zusammenschlossen, hatten die einzelnen Mitglieder dieser Konföderation den Prozess des „nation building" noch vor sich – und zwar gemeinsam. In Europa ist das genau umgekehrt und deshalb ungleich schwieriger, ohne dabei die zahlreichen Probleme zu ignorieren, die bei der Gründung der USA zu bewältigen waren. Um es bildlich zu machen: Der Unterschied zwischen den USA und Europa kann man an vielen Städten beider Kontinente sehen. Während amerikanische Städte oftmals sehr gleich aussehen, findet man in Europa höchst unterschiedlich aussehende Städte, in denen eine andere Sprache gesprochen, etwas anderes gegessen und eine andere Lebensart bevorzugt wird.
Die Stärke und der Charme Europas ist seine Vielfalt, die in der gemeinsamen Geschichte und den vielen Ideen, die diesen Kontinent geprägt haben, ihren Ursprung hat. Sie freizulegen, ist Absicht der Vorlesung, der einige Thesen vorangestellt werden.
Köln, im Winter 2013
Matthias von Hellfeld
2.) Europa - Thesen
Europa ist identisch
Alle Werte und Normvorstellungen, an denen sich die europäischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts orientieren, sind in Europa entstanden, besser gesagt erkämpft worden: Der Parlamentarismus geht zurück auf die Staatsformenlehre des griechischen Philosophen Aristoteles, wurde in der mittelalterlichen Ständeversammlung ausprobiert und festgeschrieben beispielsweise in der englischen „Bill of Rights des Jahres 1689. Die Rechtsprechung kann auf eine lange Tradition zurückblicken, die vom oströmischen Kaiser Justinian I. im 5. Jahrhundert bis heute reicht. Der „Codex Iustinianus
ist vermutlich die wichtigste Gesetzessammlung der Spätantike, sie hat die moderne europäische Rechtsprechung vorgezeichnet. Die „Habeas-Corpus-Akte von 1679 begründet das moderne Haftprüfungsverfahren und die „Petition of Rights
ist seit 1628 die Grundlage des bürgerlichen Rechts in England. Die Menschenrechte gehen auf die Französische Revolution zurück, obwohl sie einige Jahre vorher schon in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung niedergeschrieben wurden. Die europäischen Völker haben sich nicht erst seit dem KSZE-Prozess am Ende des 20. Jahrhunderts der gemeinsamen Verantwortung für den Kontinent gestellt. Die erste „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit" hat nach dem 30jährigen Krieg stattgefunden, die zweite nach der Vertreibung Napoleons auf dem Wiener Kongress 1815. In beiden Fällen mit unterschiedlichen Ambitionen der Großmächte, aber doch von der Erkenntnis geleitet, den europäischen Kontinent als Ganzes zu betrachten.
Europa ist kohärent
Beginnend bei der griechischen Philosophie sind die Völker Europas von einer gemeinsamen Kultur geprägt. Etwa 500 Jahre vor Christus erhoben griechische Denker den Satz „Der Mensch ist das Maß aller Dinge zum Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Der Reformer Solon hat das 594 v. Chr. in Athen in eine erste „Verfassung
integriert. Das öffentliche Infrage stellen als philosophisches Prinzip ist die Voraussetzung der Befreiung des Menschen von der Sklaverei gewesen und markiert gleichzeitig den Beginn einer säkularen Welt. Aus diesen Grundlagen folgen Renaissance, Humanismus oder Aufklärung. Selbst wenn diese Denkströmungen durch Kriege lange Zeit verschüttet oder nicht erkennbar waren, haben sie den europäischen Kontinent überzogen, die Völker berührt und ihre Kulturen beeinflusst.
Europa ist christlich
Dieser Kontinent ist spätestens seit dem vierten nachchristlichen Jahrhundert von der römischen Kirche geprägt worden. Der römische Kaiser Theodosius I. hat das Christentum faktisch zur Staatsreligion erhoben und damit seine Ausbreitung dem staatlichen Schutz unterstellt. Die frühen Christen haben eifrig von diesem Schutz Gebrauch gemacht und teilweise mit der Waffe in der Hand „das christliche Abendland" geschaffen. Gleichzeitig haben sie über viele Jahrhunderte an den Grenzen Europas, die nur im Südosten schwer zu definieren sind, eine Demarkationslinie zu anderen Religionen, insbesondere dem Islam, gezogen. Das ist eine Bürde, mit der sich das moderne Europa jetzt herumschlagen muss. Die über viele Jahrhunderte starre, dogmatische Haltung der Päpste in Rom hat Antiströmungen provoziert. Die Aufklärung, der Protestantismus, aber auch die vielen mittelalterlichen Bettelorden sind ohne die von Dekadenz und Selbstüberschätzung gleichermaßen angefressene römische Kirche nicht zu verstehen. Das jüdisch verwurzelte Christentum und die Aufklärung sind die beiden Seiten einer europäischen Medaille.
Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen
Europas Geschichte ist die Geschichte von Kriegen. Beinahe jede europäische Generation zwischen dem 6. vorchristlichen Jahrhundert und dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat den Krieg als eine Art Dauerzustand erleben müssen. Dabei ging es meistens um Landgewinne, Eroberung von Rohstoffen oder schlichten Racheaktionen. Der 30jährige Krieg war zwischen 1618 und 1648 insofern eine Ausnahme, als er zumindest am Anfang ein Krieg um die Religionsfreiheit war. Nicht selten haben die europäischen Großmächte versucht, die alleinige Macht in Europa zu erlangen. Das ist in jeden Fall gescheitert. Die Ostfranken und ihr „Heiliges Römisches Reich", die Universalmonarchie eines Karl V., Napoleon, Wilhelm II. oder Hitler haben versucht, eine europäische Hegemonie aufzubauen, die es während des Imperium Romanum zumindest über einen Teil des Kontinents gegeben hat. Sie sind am Widerstand der anderen europäischen Völker – und im Zweiten Weltkrieg der USA – gescheitert: Einer ist nicht stärker als die anderen zusammen!
Ideen verändern, Kriege nicht
Europa hat eine lange Kriegsgeschichte hinter sich und doch ähneln sich die Landkarten der letzten 1200 Jahre sehr. Mitunter sind Grenzen verschoben und Millionen Menschen getötet oder vertrieben worden. Aber Franzosen, Deutsche, Spanier, Italiener, Kroaten oder Russen – um nur einige zu nennen – leben an nahezu der gleichen Stelle der europäischen Topographie wie ihre Vorfahren. Während also Kriege nur kurzfristig Zerstörung und Tod gebracht haben, ist Europa durch Ideen nachhaltig verändert worden: Christentum, Aufklärung, Perestroika. Deren Spuren prägen das Leben der Menschen in Europa auch viele Hundert Jahre nach ihrer Entstehung. Ideen verändern nachhaltig.
3.) Deutschland – Thesen
Deutschland ist ein Durchreise- und Einwanderungsland
Die geostrategische Lage gibt – etwas pathetisch formuliert – das Schicksal der Deutschen vor. Sie wohnen in der Mitte eines Kontinents, dessen Bewohner seit Jahrtausenden mobil sind. Händler und Handwerker, Kriegsheere und Elendsflüchtlinge, Heimatvertriebene und Menschen, die ihr Glück gesucht haben, sind durch dieses Land gereist. Manche sind geblieben, haben Familien gegründet, manche haben das Land wieder verlassen. Die germanischen Vorfahren der Deutschen, die vor und während der Völkerwanderung hier hergekommen sind, haben sich auf ihrer langen Reise ethnisch verändert. Sie sind in einer anderen Zusammensetzung angekommen als sie losgegangen sind. Die Deutschen sind immer schon ein Volk gewesen, das wegen seiner Lage in der Mitte Europas „gemischt gewesen ist. Die Idee des „reinrassigen Deutschen
oder der „germanischen Rasse" ist Blödsinn.
Die „deutsche Frage" ist Jahrhunderte alt
Deutschland liegt in der Mitte des Kontinents. Durch das Land führen fast alle wichtigen Handelswege. Für die europäischen Randstaaten, von denen einige eine lange Zeit Großmächte waren, ist es wichtig gewesen, wer in der Mitte geherrscht und die Regeln bestimmt hat. Wer das Zentrum des europäischen Kontinents passieren wollte, ist abhängig von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen in Europas Mitte gewesen. Es lag also durchaus im Interesse der europäischen Außenmächte, dass sich die Deutschen in der Mitte des Kontinents nicht auf einen gemeinsamen Staat einigen konnten. Stattdessen gab es bis zu 350 Einzelstaaten auf deutschem Boden. Es kam den Randmächten entgegen, dass der Prozess der Nationalstaatswerdung, der Europa am Ende des 18. Jahrhunderts erreicht, an Deutschland lange Zeit vorbeigegangen ist. Mehr noch: Im Westfälischen Frieden von 1648 wurden die deutschen Partikularstaaten zu Subjekten des Völkerrechts und konnten fortan Verträge mit andern Staaten abschließen. Die europäischen Mächte haben die deutschen Territorialfürsten also gegen die kaiserliche Zentralmacht gestützt. Die Deutsche Revolution von 1848 ist an der „deutschen Frage gescheitert, weil man sich nicht einigen konnte, wer eigentlich zu Deutschland gehört und wer nicht. Die beiden Versuche des 20. Jahrhunderts die „deutsche Frage
mit Gewalt zu lösen, gehören ebenfalls in diese Reihe. Im Übrigen ist auch diese Frage nicht mit kriegerischen Mitteln gelöst worden, sondern durch Diplomatie nach einer erfolgreichen und friedlichen Revolution in Ostdeutschland. Erst mit der deutschen Einheit und der europäischen Integration des vereinten Deutschlands ist die „deutsche Frage" gelöst – ohne einen einzigen Schuss abzufeuern.
Die Teile dominieren das Ganze
Für die deutsche Geschichte ist die starke Position der Partikulargewalt kennzeichnend. Zwar haben deutsche Kaiser über große Teile Europas geherrscht, aber sie hatten kein eigenes Heer. Ohne die deutschen Fürsten ging nichts im „Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Aus dieser Gemengelage hat sich über die Jahrhunderte eine besondere Tradition des „Gebens und Nehmens
entwickelt. Wenn der Zentralstaat etwas wollte, dann mussten die Territorialstaaten entweder der gleichen Meinung sein oder durch Zugeständnisse, Geldzahlungen, neue Privilegien oder sonstige Vergünstigungen „überzeugt" werden. Daraus ist ein institutionalisiertes Mitspracherecht entstanden. Dieser Föderalismus ist historisch gewachsen und eine der Konstanten in der deutschen Geschichte. Die Ministerpräsidenten von heute sind die Nachfolger der Territorialfürsten des Mittelalters – und sie benehmen sich manchmal auch so.
Magna Charta 2
Fasst man die Thesen zusammen, dann ergeben sich Schlussfolgerungen, die bei einer politischen Einheit Europas berücksichtigt werden sollten. Der alleinige Verweis darauf, dass die EU einen Krieg in Europa verhindert, reicht bei Jüngeren nicht aus, um Europabegeisterung zu erzeugen. In einer zweiten „Magna Charta, die nicht zurückgenommen werden kann, sollten die gemeinsamen Wurzeln benannt und für ein Europa der toleranten Religionen geworben werden. Das vermutlich höchste Gut neben den allgemeinen Menschenrechten ist die Trennung von Kirche und Staat. Das gilt auch für die Aufklärung, die aus Europa einen Kontinent gemacht hat, der auf das Wissen und nicht den Glauben setzt. Der für jüngere Europäer wahrscheinlich wichtigste Punkt ist die Garantie eines europäischen Sozialstaats, der Ausbildungsplätze und Hilfe in der Not ebenso festschreibt, wie er genügend Schulen und Kindergärten bereithält. Das besondere an der historischen Magna Charta des Jahres 1215 ist die Tatsache, dass sie als „sakrosankt
, also „unverletzlich" betrachtet und deshalb auch nie in Frage gestellt wurde. Das muss auch für die Magna Charta 2 gelten.
4.) Die griechische Antike
Die Polisgesellschaft
Die antiken Siedlungsgemeinschaften der Griechen sind die Poleis, kleine Orte mit kaum mehr als 2.000 oder 3.000 Einwohnern gewesen. Sie leben – meist bescheiden - weitgehend von Ackerbau und Viehzucht. Von diesen kleineren agrarisch strukturierten Siedlungen hat es auf dem griechischen Festland etwa 700 gegeben. Die Bauern bringen nach harter Arbeit ihre Erzeugnisse in die nächstgrößere Stadt, wo sie auf guten Umsatz und ein ausreichendes Einkommen hoffen. Die größte Poleis ist Athen, sie die „Mutterstadt - die „Metropolis
- und Namensvorbild für die Großstädte der Neuzeit. Dort leben im vierten vorchristlichen Jahrhundert etwas mehr als 30.000 Einwohner. In der gesamten Poliswelt sind es nicht mehr als 120.000. In der Zeit der Hochblüte Athens leben dort ca. 150.000 Menschen.
Die Bewohner der „Poleis" stellen eine religiöse, wirtschaftliche und kulturelle Lebensgemeinschaft dar. Das Leben wird von der männlichen Bevölkerung bestimmt, Frauen haben bei den Diskussionen über die öffentlichen Angelegenheiten keinerlei Mitspracherechte. Sie sind ans Haus gebunden und mit der Erziehung der Kinder beschäftigt. Mitunter werden sie Priesterin oder Wahrsagerin und bekommen damit eine besondere Bedeutung. Die Frau im antiken Griechenland steht unter der Vormundschaft des Mannes. Falls dieser in einer der zahlreichen militärischen Konflikte ums Leben kommen sollte, nehmen Brüder oder Vater des Verstorbenen den Vormundplatz ein.
Die Polisgesellschaft ist Ausdruck des Wunsches nach Selbstverwaltung und Selbstregierung. Sämtliche Regeln, Pflichten, Rechte oder Privilegien gelten nur für freie männliche Bürger. Aber auch bei den Männern gibt es Einschränkungen: Um in den vollen Genuss aller Rechte und Pflichten zu kommen, müssen sie von Einheimischen abstammen. Zeitweise müssen sie über ein gewisses Vermögen verfügen, um neben dem aktiven auch das passive Wahlrecht ausüben zu können. Die ersten „demokratischen" Versuche in der griechischen Antike kann man also als eine selektive Form der Partizipation der männlichen Bevölkerung beschreiben.
Die Polisgesellschaft im 6. oder 5. vorchristlichen Jahrhundert ist aber auch Ausdruck eines unbändigen Freiheitswillen der Menschen. Sie wollen die Unabhängigkeit durch eigene Gesetze und eigene Institutionen erreichen. Für sie zählt „Autonomia" mehr als alles andere. Das gilt auch für die eigene Wehrhaftigkeit. In der Polisgesellschaft besteht allgemeine Wehrpflicht, die mit der Pflicht verbunden ist, sich selbst auszurüsten.
Die Bewohner werden oft in Bruderkriege geschickt, die Griechenland zu einem dauerhaften Kriegsschauplatz machen. Trefflich wird die Geschichte „des alten Hellas als die eines einzigen großen Verwandtenmordes" bezeichnet. Diese Einschätzung geht zurück auf den Althistoriker Egon Friedell. Der Krieg aller gegen alle, zwischen Dorf und Dorf oder Tal und Tal ist der Normalzustand, der bald eine erhebliche Schwächung bedeutet, denn auf Dauer lässt sich eine solche Selbstzerfleischung nicht kompensieren. Vor der Wehrpflicht kann sich kein Mann in der griechischen Polisgesellschaft drücken, ebenso wenig wie vor dem Grundsatz, dass alle Bürger der Polis vor dem Gesetz gleich sind. Man könnte hierin eine frühe Form der Rechtsstaatlichkeit erblicken, wenn diese Gleichheit nicht nur für den männlichen Teil der Bevölkerung gegolten hätte. Unantastbar ist auch der Grundsatz, dass es Privateigentum an landwirtschaftlich nutzbarem Boden gibt. Damit soll – zumindest in der Theorie – die ökonomische Unabhängigkeit der einzelnen Bauern erreicht werden. Aber die Realität ist anders, denn oft müssen Bauern wegen Kriegseinsätzen ihre Felder brach liegen lassen oder können sie nur schlecht bewirtschaften. Das antike Griechenland kennt persönliche Insolvenzen, die oft mit Verarmung oder sogar Leibeigenschaft der einst freien Bauern endet. Aber so lange der Ertrag stimmt, können die Bauern über ihr Land verfügen, es beleihen oder vererben.
Während Griechenland sich in einem permanenten Kriegszustand befindet, verfassen die Dichter und Denker in den Metropolen der Antike jene kulturellen Wurzeln, die bis heute auf dem europäischen Kontinent ihre Wirkung zeigen. Sie gehören nach wie vor zum klassischen Bildungsgut Europas. Das kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass für die meisten Menschen der griechischen Antike das Leben mühsam und der Ertrag ihrer Ernten kärglich gewesen ist. Viele Tausend Kleinbauern leben in Abhängigkeit vom Grundherrn, der ihr Land aufgekauft oder es im Zuge der Überschuldung der Bauern als Gegenwert bekommen hat. Die Bauern plagen sich Tag für Tag mit den Widrigkeiten der Landbestellung. Überliefert sind die Lebensverhältnisse des 8. und 7. vorchristlichen Jahrhunderts von Hesiod (ca. 710 – 660), der in dieser Zeit in Askra gelebt und seinen Lebensunterhalt mit der merkwürdigen Kombination aus Ackerbau und Schreiben verdient hat. Sein Werk überliefert die Lebens- und Denkweisen jener Zeit. Hesiod schildert das hoffnungslose, an Arbeit und Enttäuschungen reiche Leben der Bauern, die sich nur durch ihren unerschütterlichen Glauben an eine göttliche Gerechtigkeit über die Widrigkeiten des irdischen Lebens hinwegtrösten können.
Aus seinem Werk lässt sich heute schließen, welche Vorstellung die Griechen von der ihnen bekannten Welt gehabt haben. In der Abhandlung „Theogonie" beschreibt Hesiod vor allem den östlichen Mittelmeerraum und Kleinasien – also die Ägäis und den heute zur Türkei gehörende Teil Asiens, der im Norden vom Schwarzen Meer, im Nordwesten vom Bosporus, im Süden vom Mittelmeer und im Westen eben von der Ägäis begrenzt wird. Das westliche Mittelmeer ist ihm ebenso bekannt wie die Donau und die Alpen. Weiter nördlich reicht sein Wissen nicht. Aber immerhin: Die ersten Umrisse Europas sind durch ihn überliefert.
In den meisten Städten Griechenlands stellen adlige Familien die höchsten Beamten, den obersten Feldherrn sowie die Gerichts- und Finanzbeamten. In Athen sind sie im „Areopag" versammelt, einem Adelsrat, der die oberste Staatsaufsicht stellt und für die Rechtsprechung zuständig ist. Die Angehörigen des Demos – also des Volkes – besitzen insofern ein Mitspracherecht, als sie zur Volksversammlung Zutritt haben und dort auch reden dürfen. Sklaven, Männer aus anderen Städten und Frauen kommen nicht in den Genuss dieser ersten Form der Mitsprache in öffentlichen Angelegenheiten - sie stehen außerhalb der politisch-rechtlichen Ordnung der attischen Gesellschaft.
Die politische Führung liegt in Athen in den Händen des griechischen Adels. Aber mitunter reißen Tyrannen die Macht an sich und verschlimmern damit das soziale Elend der Kleinbauern noch. Zwar erlangen sie vordergründig durch soziale Versprechungen das Vertrauen der Menschen, aber ihre Alleinherrschaft dient nicht dem Wohl des Volkes. Dennoch ist es vorgekommen, dass Tyrannen die Unzufriedenheit der Bürger und inneren Unruhen für sich haben nutzen können, um mit Hilfe von Söldnern ihre Gegner aus der Stadt zu verjagen.
Sparta
Athen und Sparta sind die klassischen Gegenentwürfe der griechischen Antike gewesen. Auf der einen (attischen) Seite sind die ersten Versuche eines auf Ausgleich bedachten sozialen Gemeinwesens (mit teilweise dramatischen Auswüchsen!) zu beobachten. Auf der anderen Seite steht eine Gesellschaftsordnung, die den militärischen Belangen unterstellt ist. Die Erziehung der Kinder wird den Eltern in Sparta weitgehend genommen, der Nachwuchs wird schon in jungen Jahren