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Subliminal: Das Experiment
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eBook532 Seiten7 Stunden

Subliminal: Das Experiment

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Über dieses E-Book

Was, wenn mediale Fiktion alles Leben durchdringt? Was, wenn ihre Schattenseiten unter dem Radar die Oberhand gewinnen? Bei ihren Recherchen zur außergewöhnlichen Häufung extremer Gewalt stößt die Journalistin Natascha da Silva auf brisantes Material. Den langersehnten Karriereschub vor Augen, ermittelt sie zunächst auf eigene Faust. Dabei verfängt sie sich immer mehr im Netz einer Gruppierung, deren wissenschaftliche Experimente die althergebrachte Ordnung völlig auf den Kopf stellen. Während die Gruppierung selbst vor einer Zerreißprobe steht, muss Natascha tief in den Spiegel ihrer Seele blicken – von erbarmungslosen Feinden bedrängt, gerät sie selbst in den Sog des geheimen Experiments. Ein Kampf beginnt – nicht nur gegen sichtbare und unsichtbare Gegner, sondern auf Leben und auf Tod. Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel.
SpracheDeutsch
HerausgeberRuhland Verlag
Erscheinungsdatum27. Apr. 2020
ISBN9783920793498
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    Buchvorschau

    Subliminal - Thorsten Oliver Rehm

    Schweizer

    Vier Jahre zuvor

    Ostsee

    Geheimnisse. Dunkel sind sie, das liegt ihrem Wesen zugrunde. Manchen wohnt ein schwaches Licht inne, ein Funken Zweck, der die Mittel heiligen soll. Doch welcher Zweck hat dieses Recht – Mittel zu heiligen? Dem Zweck dienen… Er müsse es im Lichte des großen Ziels sehen, das sie verfolgten, und stets die großartige Aufgabe vor Augen haben, die ihre und auch seine Bestimmung sei; er müsse bereit sein, denn ein Neuanfang solchen Ausmaßes erfordere Opfer. Das hatten sie ihm gesagt. Und er hatte es ihnen geglaubt. Sich diesem Feldzug verschrieben, sich ihnen angeschlossen.

    Verführung! Das alte Übel! Verführt hatten sie ihn, sonst nichts. Nein, was sie taten, war nicht rechtens, konnte es nicht sein. Ihr Geheimnis war nicht nur dunkel, es war schwarz. Schwarz! Da war kein Funken Licht! Es war eine Mission der Finsternis, und er einer ihrer schwarzen Ritter, ein unheilbringender Todesengel, das war er. Sie alle ritten ins Verderben. Und sie rissen so viele mit! Die Menschen, die nichts davon wussten, bestenfalls Veränderungen wahrnahmen, Veränderungen, die sie aber nicht greifen, nicht benennen, nicht zuordnen konnten.

    Entschlossen drehte Leon Muth das Ventil der Tauchflasche auf und überprüfte den Flaschendruck. 200 bar. Die beiden zehn-Liter-Flaschen, zur Doppel-Flasche miteinander verbunden, waren mit je 2000 Liter Pressluft gefüllt. Die insgesamt 4000 Liter würden ihn lange genug versorgen, mindestens so lange, bis er die Sache heute Nacht zu Ende gebracht hatte. Als routinierter Taucher atmete er ruhig und somit verbrauchsarm; bei der moderaten Tiefe würde sein Atemgasvorrat also locker ausreichen. Möglich aber, dass sein Verbrauch heute höher lag, denn er fand einfach nicht zur nötigen inneren Ruhe und konnte sich auch nicht auf den bevorstehenden Tauchgang konzentrieren – seine Gedanken wirbelten doch immerzu wie in einem Strudel durch sein Hirn, um von dort aus dann durch die mit Adrenalin gefüllten Blutbahnen bis zum Herz vorzupreschen. Die Anspannung und sein Puls waren schlicht zu hoch.

    Wieder und wieder fragte er sich, ob er allein es verhindern konnte? Er bezweifelte es. Aber er wollte es versuchen, musste es. Sie waren zu weit gegangen, alles war dabei, außer Kontrolle zu geraten; vielleicht war es jetzt schon nicht mehr aufzuhalten… Doch die Chance dazu bestand! Wenn nicht jetzt, dann vielleicht niemals mehr.

    Seinen jetzigen Erkenntnissen zufolge würden sie es eines Tages bereuen. Dann aber würde sich keiner mehr für den Zweck interessieren, der am Anfang die Mittel hätte heiligen sollen; keiner würde ihnen verzeihen, nur weil sie einmal geglaubt hatten, Großes, Visionäres, Weltbewegendes zu vollbringen. Dann wäre es zu spät, viel zu spät, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach würden sie die Welt bewegen, allerdings aus ihren Angeln, sie würden die Welt völlig aus dem Gleichgewicht bringen! Aufgrund der neuesten Daten war er selbst zu dieser Schlussfolgerung gekommen, und daraufhin hatte er entschieden, fortan nicht mehr mitzumachen.

    Er unterwarf seine Tauchausrüstung einem kritischen Check. Dann begann er, sich in seinen Trockentauchanzug zu zwängen – er war pechschwarz, wie ein Spiegelbild seines Gemütszustands und als wäre er, Leon Muth, Teil eines unterseeischen Todeskommandos, jemand, für den der Tod inzwischen zur Normalität geworden war. Doch er hatte Hoffnung, dass in ihm noch ein Funke war, ein Funke Licht, den er in der Mission, die er bisher pflichtbewusst erfüllt hatte, beim besten Willen nicht mehr entdecken konnte: ein Funke Licht, der ihren Methoden nicht innewohnte, der ihm nun aber die Kraft gab, statt Tod das Leben zu bringen. Wie hatte er mit seinem Wissenschaftler-Ethos nur derart brechen können? Warum nur hatte er das zugelassen? Warum!

    Es war einfach nicht richtig, es war gefährlich. Vor allem aber hatten sie nicht das Recht dazu! Sie verhielten sich, als wären sie die Schöpfer dieser Welt, als hätten sie das Universum und alle Lebewesen erschaffen. Als stünde es ihnen zu, die Menschen und ihr Schicksal zu lenken. Größenwahnsinnig waren sie, sonst nichts – und gierig! Die Kontrolle wollten sie haben, tatsächlich aber geriet alles außer Kontrolle! Nein, sie hatten wahrlich nicht das Recht, selbst wenn sie die Mittel dazu hatten. Die Büchse der Pandora hatten sie geöffnet, ja, das hatten sie, die Frage war nun, ob es möglich war, sie wieder zu schließen, und wenn ja, wie.

    Wütend spannte er die Flossenbänder um seine Fersen. Dann spuckte er wie bei einem Akt der Verachtung gegen sie alle und gegen sich selbst in die Tauchermaske und verrieb den Speichel. Das kleine Fläschchen mit dem Anti-Beschlag-Mittel war leer, doch die altbewährte Methode, in die Maske zu spucken, tat es auch. Sein Gesicht glühte. War es Aufregung? Wegen des Risikos, das er auf sich nahm? Oder war es vielmehr Erregung, ausgelöst durch seinen Tatendrang, dem ganzen Treiben Einhalt zu gebieten? Das Maskenglas würde sicher beschlagen, trotz des alten biologischen Hausmittels, der Temperaturunterschied zwischen Gesichtshaut und Wassertemperatur war einfach zu groß. Er würde besser zu Beginn des Tauchgangs etwas eisiges Ostseewasser in die Maske strömen lassen und den ganzen Tauchgang über darin belassen – das würde den Unterschied ausgleichen und das Beschlagen der Maske verringern.

    Maske, ja, das traf es! Sie alle trugen Masken – Masken gänzlich anderer Art… Maskierte, die die Menschen täuschten. Verborgen operierten sie im Hintergrund, trieben unentdeckt ihr perverses Spiel…

    Der Zweck heiligt die Mittel. Diese Lügner!

    Geheim agieren, manipulieren, verführen – und dabei entzweien, was zusammengehört; Zwietracht säen, Chaos verursachen – und dabei Ordnung vortäuschen, während sie tatsächlich Gesetzlosigkeit verwirklichten, Gier und ein Streben nach Macht… Das alles traf auf sie und diese Sache zu, das alles waren sie und diese Sache! Es war weder der richtige Weg, noch waren es die richtigen Mittel.

    Oder doch? Bekam er einfach nur kalte Füße und seine Emotionen nicht in den Griff? War er überhaupt noch er selbst? Oder hatten sie auch ihn bereits derart beeinflusst, dass er sich selbst nicht mehr trauen konnte? Wer wusste das schon… Die Möglichkeiten waren immens, wer wusste schon, wozu sie sie verwenden würden, ihnen war alles zuzutrauen. Sie hatten sich verrannt in ihrem Wahnsinn, das hatte er inzwischen erkannt.

    Dachte er anfangs noch, sie würden Fortschritt bringen, eine bessere Zukunft und das Wohl der Menschheit, so war er sich inzwischen sicher, dass sie unzählige Menschen in den Abgrund rissen, in einen dunklen Abgrund, so dunkel wie das Loch, das sich vor ihm auftat, als in diesem Moment die Schleusentür des geheimen Unterwasser-Forschungslabors zur Seite glitt. Zischend und bedrohlich, als öffne sich ein Tor zur Unterwelt, in die er nun hinabtauchen musste, um das Geheimnis zu schützen, es zu verbergen…

    Langsam glitt er hinaus in die nächtliche See.

    Das eiskalte Meerwasser schmerzte ihn auf der Stirn, der ungeschützten Gesichtspartie und den Lippen. In wenigen Sekunden schon würde er das Stechen nicht mehr spüren und diese Körperstellen unempfindlich für die Kälte werden. Schwer umhüllte ihn das schwarze Wasser, das ihn empfing, er spürte das Gewicht, den Druck der Wassermassen auf sich lasten. Wahrscheinlich war es nur sein Gewissen, das auf ihm lastete. Doch heute Nacht – jetzt – würde er umkehren und den richtigen Weg einschlagen.

    Ob er es wagen konnte, seine Taucherlampe einzuschalten, damit deren Lichtstrahl das schwarze Nichts durchschneiden und ihm den Weg weisen konnte? Nein, besser, er minimierte jetzt jedes zusätzliche Risiko, bemerkt zu werden. Bildete er es sich nur ein, oder zitterten seine Hände? War es die Kälte oder die Angst im Nacken? Mit seinen in unförmigen, kälteisolierenden Handschuhen steckenden Händen knickte er einen kleinen chemischen Leuchtstab in der Mitte ein. Sofort setzte die chemische Reaktion ein, wie ein Glühwürmchen, umgeben von schwarzer Nacht, begann das Stäbchen zu schimmern, verloren im unendlich erscheinenden Nichts. Mehr psychologische Stütze als wirklich den Weg erhellendes Leuchten. Die See war in dieser Nacht so dunkel wie das Geheimnis, das er verbergen wollte. In der Tiefe versenken würde er das Teil, es dem Vergessen anheimgeben, bis die Zeit reif und die Menschheit dafür bereit war; in der Tiefe der See versenken, die sich in solcher Schwärze offenbarte, wie das Geheimnis sich denjenigen offenbaren würde, die es eines Tages bergen würden. Noch hoffte er, dass seine heutige Aktion letztlich eine reine Vorsichtsmaßnahme war und er in wenigen Tagen die Chance bekam, die Dinge geradezurücken. Wenn er wieder auftauchte, würde er diesen Wahnsinn ans Tageslicht bringen, und wenn es das Letzte war, das er tat. Aber für alle Fälle musste er das Teil verbergen. Vorübergehend, es sollte nicht dauerhaft unauffindbar bleiben.

    Jetzt ergriff er die Chance und hoffte, dass sein nächtlicher Tauchgang unbemerkt blieb oder zumindest keinen Verdacht weckte – immerhin tauchten sie oft nachts, des Experiments wegen. Im Dunkeln war die Aufmerksamkeit nunmehr geschärft, die Auswirkung der Signale intensiver.

    Das Experiment! Die Veränderungen waren offensichtlich, nicht nur bei ihm selbst. Er konnte niemandem trauen. Den anderen Aquanauten im Unterwasser-Habitat schon gar nicht. Würde irgendetwas dazwischenkommen, man ihn durchschauen und aus dem Weg schaffen oder er plötzlich seine Meinung ändern – er wusste ja selbst nicht mehr, was er glauben sollte und was tun – dann wäre das Ding hier gut aufgehoben. So lange, bis er Klarheit darüber haben würde, welche Auswirkungen das Projekt hatte. Und Klarheit über sich, darüber, wofür er wirklich stand. Oder eben so lange, bis die Zeit reif war, um rückblickend zu verstehen. Dann, eines Tages, wenn die Dinge bereits ihren Lauf genommen hatten, schon eine lange Zeit, und wenn die Menschen Antworten suchen und sich Hilfe wünschen würden, dann würde dieses Teil so etwas wie ein Erbe sein, sein Erbe. Ein Vermächtnis, das er ihnen hinterlassen würde.

    Um zu erkennen. Um zu verstehen.

    Gegenwart

    Mallorca

    »Was ist nur los mit den Leuten!« Natascha zerrte an den Schultergurten und windete sich wütend aus ihrem Jacket. Energisch fixierte sie ihre Ausrüstung an der Reling und drehte das Flaschenventil zu.

    »Beruhige dich!« Sanft legte Jennifer eine Hand auf ihren Oberarm.

    »Ach, ist doch wahr!« Nataschas flammender Blick traf die drei Männer, die ihr vor ein paar Minuten den Abschlusstauchgang versaut hatten. Jennifers Gelassenheit machte Natascha nur noch wütender.

    »Das ist es doch gar nicht wert. Jetzt komm runter, und nachher an der Basis reden wir mal mit denen. So geht’s nicht, und hier bei uns schon gar nicht, Stammgäste hin oder her… Keine Ahnung, was mit denen los war. So kenne ich die gar nicht, und die kommen schon seit Jahren zu uns.« Jennifer legte die Stirn in Falten.

    »Hast ja recht. Aber alles war so perfekt! Und dann das…«

    In einem Moment absoluter Entspannung hatte Natascha zehn Minuten zuvor das Sonnenlichtspektakel am Riff genossen. Es war atemberaubend. Wie in einer Lasershow brach das Licht durch türkisblaues Wasser, unzählige Strahlen tanzten dabei über das Riff und verloren sich weiter unten im Blau, als würden sie in einer anderen Welt verschwinden, nachdem sie die Szenerie in ein surreales Reich verzaubert hatten, das Natascha alles um sich herum vergessen ließ. Wie sie diese Momente liebte, wenn sie ganz im Hier und Jetzt eintauchte, eins mit sich, keine Gedanken an das, was gewesen war, keine Sorgen und Ängste um die Zukunft, die Alltagssorgen vergessen und die Probleme für eine kurze Zeit in der Tiefe der See versenkt. Unter Wasser schaltete Natascha ab. Völlig. Tauchen entspannte sie. Immer. Und in Augenblicken wie diesen war Natascha nicht einfach nur entspannt – sie war tiefenentspannt im doppelten Sinne des Wortes »Tiefe«.

    Zum Ende des Tauchgangs schwebte Natascha etwa fünf Meter unter der Wasseroberfläche, um vor dem Auftauchen den Sicherheitsstopp zu absolvieren. Die für jene Stopps empfohlenen drei bis fünf Minuten waren längst abgelaufen, aber Jennifer drängte sie nicht, den Tauchgang zu beenden. Wie schön, wenn man den anderen so gut kannte und sich ohne Worte verstand wie sie und Jennifer seit nunmehr zwanzig Jahren. Immer kostete Natascha die letzten Minuten aus, so gut und so lang es eben ging, und die letzten Minuten jenes Tauchgangs, der gleichzeitig der letzte ihres Urlaubs war, erst recht. Wenn möglich, wollte sie als letzte der Gruppe auftauchen, zumal das Licht heute die faszinierende Stimmung hier unten, die Gelöstheit im puren Sein und die Farben von Flora und Fauna so perfekt unterstrich. Wie immer packte sie nochmals jede Emotion und Faszination der Zeit unter Wasser in diesen kurzen Moment, zog nochmals mit jedem Atemzug die Atmosphäre, die Schönheit und das Glück des Augenblickes in sich auf, um dann wie gewohnt, so hatte sie es zumindest vorgehabt, die letzten fünf Meter im Zeitlupentempo nach oben zu tauchen und dabei in die Tiefe zu blicken und sich vom Meer und seinen Bewohnern zu verabschieden. An der Oberfläche angelangt, wollte sie dann ohnehin nach unten schauen, um dieses Gefühl der Glückseligkeit beim Durchbrechen der Wasseroberfläche mit an die Luft zu bringen und es in den grauen Alltag mitzunehmen und zu Hause, so lange es eben ging, von diesen Momenten zu zehren.

    Doch daraus war diesmal nichts geworden! Verdorben – nein, gestohlen hatte man ihr diesen Augenblick!

    »Wegen dieser drei Ignoranten da drüben… echt ärgerlich!«

    »Ich weiß.« Jennifers Stimme strahlte die gewohnte Ruhe aus.

    Wo nahm ihre Freundin nur diese Gelassenheit her?! Nicht, dass Jennifer nie wütend war, aber sie hatte sich immer unter Kontrolle und rastete nie aus. Bewundernswert, aber manchmal auch beängstigend, und zwar immer dann, wenn Nataschas Temperament sich mal wieder zügellos den Weg bahnte und alles beherrschte – leider meist auch ihre Zunge. Wie schnell sie aus der Haut fahren konnte, in letzter Zeit jedenfalls… Natascha nahm dieses Aufbrausen überhaupt erst seit Kurzem bei sich wahr. War sie früher auch so schnell auf hundertachtzig gewesen? In letzter Zeit war sie das oft, privat und im Job. Sie hatte ja auch allen Grund dazu, und das schon eine ganze Weile. Nicht zuletzt wegen ihrer zunehmenden Unausgeglichenheit hatte sie sich auf diesen Urlaub so gefreut, darauf, vielleicht hier ihrer inneren Balance wieder ein kleines Stück näherzukommen. Umso ärgerlicher, dass ihr diese Chaoten den schönen Augenblick vorhin verbockt und ihr das ultimative Abschlusserlebnis ihres Urlaubs zunichtegemacht hatten! Eine knappe Woche auf Mallorca war offensichtlich zu wenig…

    »Solche Deppen, echt! Was ist bloß in die gefahren! Das gibt’s doch nicht! Unfassbar!« Sie senkte die Stimme, hatte sie doch bereits die Aufmerksamkeit anderer Taucher an Bord auf sich gezogen. Aber ihre Wortwahl hatte sie nicht annähernd im Griff, wieder einmal. Pfeif drauf!

    Wie drei Kampftaucher auf Kamikazemission waren die Kerle plötzlich auf sie und Jennifer zugeschwommen und hatten sie fast »über den Haufen getaucht«, mit einer Geschwindigkeit, als wären sie entweder hinter einem Feind her oder auf der Flucht vor ihm. So etwas hatte Natascha in hunderten von Tauchgängen nicht erlebt. Ohne Worte! Als wären sie und Jennifer Luft und gar nicht zu sehen gewesen. Die Situation hatte etwas völlig Unwirkliches und stand dazu noch im krassen Gegensatz zur friedlich-surrealen Stimmung, in der sich die Freundinnen kurz zuvor noch befunden hatten.

    Wie im falschen Film. Würde sie diese Typen, deren komplett schwarze Neoprenanzüge das Bild des Kampftauchers unterstrichen, nicht hier und jetzt mit eigenen Augen sehen, wie sie sich friedlich, als wäre nichts gewesen, aus ihrer Ausrüstung pellten, sie würde glauben, sie hätte geträumt und sich die Sache unter Wasser nur eingebildet.

    Sie spürte, wie ihre Wut verflog, vielmehr breitete sich plötzlich Erstaunen aus. Was sie nun irritierte, war die Tatsache, dass die drei Männer anscheinend keinen blassen Schimmer hatten, warum und über wen sie sich gerade so aufregte. Denn die drei schauten genauso verdutzt wie die anderen, deren Aufmerksamkeit sie mit ihrer Schimpfattacke auf sich gezogen hatte. Hätten die Kamikazetaucher hämisch gegrinst, sich über ihr übertriebenes Aufbrausen mokiert oder sich hinter Machogehabe versteckt, es hätte ins Bild gepasst. Aber so?

    Die drei sahen eigentlich ganz sympathisch aus, als könnten sie keiner Fliege etwas zuleide tun, sie wirkten auf Natascha, als wären sie sich nicht der geringsten Schuld bewusst, ja, als wüssten sie gar nicht, was passiert war. Seltsam. Als wären Jennifer und sie unter Wasser tatsächlich unsichtbar gewesen und als hätten die drei wie Tornados durchs Wasser jagenden Typen sie tatsächlich nicht gesehen… Rücksichtslos bis zum geht nicht mehr, aber ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein? War das möglich?

    Was unter Wasser geschehen war, war nicht nur ärgerlich, es war auch gefährlich. Was, wenn sie und Jennifer keine routinierten Taucher gewesen wären und sich durch die Situation plötzlich erschreckt und bedrängt gefühlt hätten? Was, wenn sie Anfänger wären, die in solch einem Moment die Ruhe und deswegen die Kontrolle verloren hätten? Was, wenn sie dann hastig und tief eingeatmet und dadurch unkontrolliert Auftrieb bekommen hätten und viel zu schnell nach oben geschossen wären? Und was, wenn dabei etwas passiert wäre? Unverantwortlich und egoistisch. Ich – Ich – Ich. Dreimal Ich! Überall war Platz, aber sie und Jennifer waren denen im Weg?

    Doch Jennifer hatte recht. Sich darüber aufzuregen, lohnte nicht. Sie würde sich den Tag nicht dadurch vermiesen lassen. Mit einem mürrischen Kopfschütteln erklärte sie den Wutanfall für beendet.

    Eine Stunde später saß Natascha am großen Tisch auf der Veranda der Tauchbasis. Alle anderen Taucher, die gerade noch dort gesessen hatten, waren zum Mittagessen aufgebrochen. Natascha wollte noch einen Moment die Ruhe genießen, den Vormittag in sich zurückgezogen ausklingen lassen. Sie war gerade dabei, die Daten des Tauchgangs in ihr Logbuch einzutragen, als Jennifer neben sie trat.

    »Und? Was haben die Jungs zu ihrer Verteidigung vorgebracht?«, fragte Natascha. Da ist sie wieder, diese Wut! Was ist nur los mit mir?

    Nur selten wurde Natascha zornig, und wenn, dann über genau diese Art von Verhalten und dann gleich richtig, sodass die Glut noch lange glomm und, sobald dicke Luft drankam, sofort neu entfachte. Sie musste unbedingt daran arbeiten. So konnte sie sich einen ganzen Tag kaputtmachen, und das passierte ihr in letzter Zeit ständig.

    »Nichts. Sie wussten gar nicht, wovon ich spreche.« Jennifer nahm neben Natascha Platz. »Keine Ahnung, was in die gefahren ist. Seltsam, das Ganze. Aber ich habe ihnen deutlich gesagt, dass Frank und ich rücksichtsloses Verhalten unter unseren Gästen nicht dulden.«

    Einmal mehr beneidete Natascha Jennifer um deren Ruhe und Ausgeglichenheit. Wo sie die hernahm, war ihr ein Rätsel, erst recht nach dem, was Jennifer und Frank vor fünf Jahren widerfahren war! Manche Menschen wären daran zerbrochen, andere würden nur noch Groll vor sich herschieben, aber Jennifer – sie steckte das alles weg. Ebenso Frank. Aber vielleicht sah es auch nur so aus. Wer wusste schon, wie es in den beiden tatsächlich aussah. Wer kannte sein Gegenüber wirklich? Dennoch wünschte sich Natascha, sie könnte mit der Enttäuschung, die sie erlebt hatte, nur halb so gut umgehen wie ihre treue Freundin mit den damaligen traumatischen Erlebnissen.

    »Wir sehen uns heute Abend?« Jennifer wechselte das Thema. »Mike kommt übrigens auch.« Sie zwinkerte Natascha zu. »Natürlich auch der Rest unseres Teams.« Sie schmunzelte. »Passt doch prima, dass unser monatlicher Taucherabend mit deinem letzten Urlaubsabend zusammenfällt. Lass uns richtig Spaß haben! Komm, das tut dir gut. Es wird Zeit, dass du loslässt und so langsam wieder die heitere, starke und selbstbewusste Natascha wirst, die du eigentlich bist. Nicht warst, sondern bist! Vergiss den Kerl doch endlich und fang neu an! Nicht von Null auf Hundert, das verlangt doch keiner, und das solltest du auch nicht von dir verlangen. Aber setz dich in Bewegung und bieg zumindest wieder auf die Straße Richtung etwas Glück ein. Mike könnte dir dabei helfen, er ist echt ein toller Mann. Und dass es zwischen euch gefunkt hat, ist ja wohl nicht zu übersehen.« Wieder zwinkerte Jennifer ihr zu, diesmal noch vergnügter als zuvor.

    »Da war nichts!« Natascha spürte die Röte in sich aufsteigen.

    »Ich weiß. Das ist ja das Problem.« Jennifer lachte. »Ich muss rein. Um acht, okay?« Sie ließ das unbequeme Thema einfach in der Luft hängen und Natascha mit ihrer Verlegenheit allein am Tisch zurück.

    Natascha blickte ihrer Freundin nach. Jennifers Haar reichte ihr inzwischen bis zur Hüfte und war, seit sie auf Mallorca lebte, noch blonder als zuvor. Sie beide waren wirklich so was von unterschiedlich – sowohl optisch als auch vom Wesen her. Eigentlich genaue Gegensätze, und das schon immer, und doch von Beginn an so verbunden, einander so nah. Auch was die Wahl ihrer Männer anging, hätte es sie unterschiedlicher nicht treffen können. Während Jennifer mit Frank einen Fang gemacht hatte, von dem die meisten Frauen träumten – zuverlässig, klug, gebildet, idealistisch, empathisch, charakterstark und dazu noch gutaussehend –, hatte sie nur die herbe Enttäuschung eines sie nach Strich und Faden hintergehenden Taugenichts erfahren müssen. Wie hatte sie damals nur auf ihn hereinfallen können? Der größte Fehler, den sie in ihren dreiundvierzig Lebensjahren zustande gebracht hatte. Und geendet hatte es in einem Fiasko, das sie völlig aus der Bahn geworfen hatte. Einzig ihre gemeinsame Tochter ließ sie rückblickend Sinn in diesen verlorenen Jahren erkennen, ohne den Mistkerl würde es Lea nicht geben, sie war das Beste, das ihr in ihrem ganzen Leben passiert war.

    Dieser Mehrklang in der Bewertung ihrer gescheiterten Beziehung war manchmal schwer auszuhalten. Ja, ihre Tochter war ein Geschenk des Himmels! Leider aber war ihr Ex-Mann in diesen himmlischen Plan eingebunden. Warum gerade er, das war die Frage, auf die sie wohl in diesem Leben keine Antwort bekommen würde. Und dass sie es sich vorgenommen hatte, ihre Tochter da nicht mit hineinzuziehen und ihm den Kontakt zu ihr daher regelmäßig ermöglichte, machte es nicht einfacher. Sobald sie ihn aber sah oder hörte, kam alles wieder in ihr hoch, es war dann immer, als fange sie mit der Bewältigung des Ganzen wieder ganz von vorne an. Ein Dilemma, aus dem sie noch keinen Ausweg gefunden hatte.

    Lea, ihr Sonnenschein! Wie unbeschreiblich sie ihre Kleine liebte! Sie würde alles für sie tun! Ein Lächeln umspielte Nataschas Lippen als sie nun daran dachte, wie stolz Lea heute Morgen gewesen war, als sie zum ersten Mal in der Kinderbetreuung des Hotels bleiben durfte, damit Mama tauchen gehen konnte! Und wie sehr hatte Natascha mit sich gerungen, ob sie ihre Tochter wirklich für ein paar Stunden dort anmelden sollte. Aber als Lea so glücklich über die ihr zugetraute Selbständigkeit war, da war jede Sorge wie weggeblasen. Und dass Jennifer extra freigenommen und sie auf ihrem letzten Tauchgang begleitet hatte, war die Krönung gewesen. Als sie nun genauer darüber nachdachte, musste sie Jennifer recht geben: den Tag konnten ihr die drei Kamikaze nicht madigmachen. Sie sollte öfter auf Jennifer hören…

    Das Smartphone riss Natascha aus ihren Gedanken. Lea? Nein, es konnte nicht der Kids-Club sein, es war noch Zeit. Sie schaute aufs Display. Eine E-Mail war hereingeflattert, von Nadine, einer Freundin. Zumindest dachte Natascha bis vor wenigen Wochen, dass sie das waren, Freundinnen. Aber dann…

    Ohne Vorwarnung hatte Nadine plötzlich die Freundschaft gekündigt. Mit einer WhatsApp! Was für ein Glück, dass sie es auf WhatsApp nicht gleich in der Mutter-Kind-Gruppe hinausposaunt und sich herabgelassen hatte, ihr die Neuigkeit persönlich zu übermitteln! Naja, persönlich ging anders… Wie konnte man eine jahrzehntelange Freundschaft einfach so aufgeben, ohne dass konkret etwas vorgefallen war?! Noch dazu übers Smartphone?!

    Die Chemie passt nicht mehr, hatte Nadine geschrieben, und wir sehen uns ohnehin zu wenig und haben auch kaum noch gemeinsame Interessen, geschweige denn gemeinsame Zeit. Ich will nicht im Streit auseinandergehen und mag dich immer noch, sehe aber einfach keine Basis mehr und somit keinen Sinn darin, bloß phasenweise Kontakt zu halten, sich hin und wieder zu treffen, fast wie eine Pflichtveranstaltung, aus Anstand, um sich mal wieder gesehen zu haben. Und viele deiner Meinungen finde ich inzwischen absolut inakzeptabel. Das ist alles nicht das, was ich mir unter Freundschaft vorstelle. Es ist sicher das Beste, es nun zu beenden.

    Das Beste für wen?

    Natascha war an dem Tag völlig vor den Kopf gestoßen gewesen und hatte sich gefühlt, als läge ein Sandsack auf ihrer Brust. Und was sollte das mit ihren Meinungen? Sie hatten sich doch immer über alles offen ausgetauscht! Selten hatte Natascha sich so gedemütigt und wertlos, das krasse Gegenteil von wertgeschätzt gefühlt. Und das, wo sie derzeit ohnehin voller Selbstzweifel und Sorgen war – und zu alledem der kraftraubende Alltag als alleinerziehende Mutter mit Fulltime-Job und ohne ihre eigene Mutter oder irgendwem sonst als Auffangnetz.

    Wie der sprichwörtliche Hamster raste sie im Rad, bestrebt, all ihren Pflichten gerecht zu werden. Gut, dass Sie nicht auch noch die Rolle der Mega-Liebhaberin und perfekten Ehefrau und Köchin gerecht werden musste! Dann würde sie das Klischee der modernen Powerfrau perfekt erfüllen. Am besten noch nebenher in der Politik Karriere machen. Na klar! Schwachsinn das Ganze! Wer glaubte den Mist denn heute wirklich? Dass man als Frau allem und jedem gerecht werden könnte – gerecht werden müsste – und daran, dass man es tatsächlich schaffen würde! Mit einer Nanny und jeder Menge Kohle auf dem Konto und Personal-Coach, Masseur und Gourmet-Koch an der Seite, dann vielleicht, mag sein! Ins gemachte Nest gebettet, wie manche Promis, die aus ihrer perfekten Märchenwelt heraus den Normalbürgern den Spiegel vorhielten, damit diese dann mit Schrecken ihre eigene Unzulänglichkeit erkannten, vorgespiegelt aus einem Schlaraffenland voller Illusionen.

    Natascha aber verzweifelte daran, dieses Klischee der Megafrau auch nur im Ansatz erfüllen zu müssen und wollte es auch gar nicht. Wenigstens diesbezüglich war sie noch »Herr« ihrer Sinne. Wenn ansonsten das meiste nicht rund lief, klar denken konnte sie noch. Oder etwa nicht?

    Hatte Markus sie deswegen sitzenlassen? War sie nicht perfekt genug für ihn gewesen? Hatte sie ihn in die Arme dieser jungen Göre getrieben? War sie es, die alles falsch machte, auch noch die falschen Meinungen hatte, sich falsch verhielt, nicht nur in der Partnerschaft, sondern auch sonst?

    Wendete man sich also zu Recht von ihr ab? Hatte sie sich negativ verändert, nicht etwa die anderen? War ihre eigene Neigung, sich ständig über andere zu ärgern und dabei zunehmend hart zu werden, womöglich genau das, was sie an den anderen missbilligend wahrnahm? Wenn sie wütend auf andere blickte, sah sie womöglich schlicht in einen Spiegel? War sie es, die immer zickiger, intoleranter und herzloser wurde, und nicht die Menschen um sie her? Hatte der Stress sie schon so fest im Griff? Oder waren sie allesamt gefangen in diesem Kreislauf von überhandnehmender Lieblosigkeit, Eigensucht und Stress? Klar, die einstige Natascha war sie seit geraumer Zeit nicht mehr. Aber wie könnte so ein Alltag auch spurlos an einem vorübergehen und man immer voll bei sich, in seiner Mitte sein? Sie war permanent unter Stress und fand keinen Ausweg.

    Ihre Ex-Freundin Nadine hatte da gut reden – zwei Großelternpaare an der Seite, fast jedes Wochenende ausgehen und unter der Woche arbeiten dürfen und, wenn es hart auf hart kam, nicht einmal wirklich müssen – ihrem Mann und seinem Traumgehalt sei Dank… Nicht dass sie es Nadine nicht gönnte. Das tat sie von Herzen. Aber es ärgerte sie, dass Nadine den Unterschied nicht sah. Da war ein riesiger Unterschied zwischen ihrem und Nataschas Leben, aber Natascha hatte trotzdem versucht, den Kontakt so gut es ging aufrechtzuerhalten.

    Ja, sicher, Nadine gegenüber hatte sie sich die letzten Jahre rargemacht – aber sie hatte es ihr auch immer wieder erklärt. Es war ihr einfach nicht möglich, auf dieselbe Weise wie früher soziale Kontakte zu pflegen. Aber sie war sich sicher, dass sie nicht weniger zugewandt war als früher. Das einzige war, dass freundschaftliche Begegnungen mit anderen Menschen – ihrem fordernden Alltag geschuldet – immer seltener stattfanden. Mit Kind, mit Job, ohne Partner, ohne Eltern, die sie hätten entlasten können, und mit begrenzten Kindergartenöffnungszeiten.

    Sicher, sie hätte damals den anderen Kindergarten ein bisschen weiter entfernt wählen können – dort waren die Betreuungszeiten ausgedehnter. Aber sie wollte so viel Zeit wie möglich mit ihrer Tochter verbringen. Sicher, sie hätte öfter die Initiative ergreifen und zu Freunden fahren können, aber aus ganz verschiedenen Gründen war das immer schwieriger geworden. Die Überlastung, die unterschiedlichsten Wendungen in ihrem und im Leben ihrer Freunde, das immer magerer werdende Interesse aneinander bei gleichzeitig immer größer werdender Distanz…

    Natascha hatte Lea spät bekommen – na und?! Plötzlich war sie aus dem Raster gefallen – einem Raster, dass die anderen um sie herum definiert hatten – und war mehr und mehr außen vor. Wer aber hatte ihr denn mal angeboten, Lea zu nehmen, sodass sie mal wieder mit anderen etwas hätte unternehmen können? Sie war sich nicht einmal sicher, dass sie zugesagt hätte, vielleicht war sie dazu viel zu sehr Helikopter-Mama und konnte schlecht loslassen… War das ihr Problem? Konnte sein. Aber wer hatte es ihr denn zumindest mal angeboten? Niemand! Wo war da denn Hilfsbereitschaft? Fürsorge? Das Miteinander? Unterstützung? Gemeinschaft? Freundschaft?! Zu wenig gemeinsame Zeit? Wenn das die Chemie war, die nicht mehr passte, dann war das traurig.

    Okay, sie hatten sich teils in andere Richtungen entwickelt. Das ja. Sie hatte wirklich andere Meinungen als Nadine, sah sie doch auch durch ihren Job als Journalistin die Brennpunkte der Gesellschaft, die Krisenherde, notleidende und vom Schicksal gebeutelte Menschen und Missstände in Politik und Gesellschaft. Und sie machte sich viele Gedanken über das, was sie sah, versuchte dem auf den Grund zu gehen. Das war ja sogar ihr Job! Hatte sie es aber verdient, deswegen so abgekanzelt und abserviert zu werden? Gab es deswegen wirklich keine Basis mehr?

    Was war nur los mit Nadine? Als hätte sie zu viele Entrümpel-dein-Leben-Ratgeber gelesen und die darin enthaltenen, manchmal sogar ganz hilfreichen Botschaften gehörig missverstanden. Als wäre sie irgendeiner Gehirnwäsche unterzogen worden oder in irgendeine Sekte hineingeraten. Natürlich war sie das nicht, aber was veranlasste Nadine dazu, so auf den Gefühlen eines anderen herumzutrampeln – auf Nataschas Gefühlen?

    Am selben Tag hatte sie versucht, Nadine anzurufen, und auch an den Tagen danach. Wieder und immer wieder. Ihr gesimst, gemailt, gewhatsappt. Aber Nadine hatte sie seither wie Luft behandelt. Natascha wollte sich mit ihr treffen, sich aussprechen. Keine Chance. Immer noch glaubte sie daran, dass Nadine doch eigentlich eine ihrer engsten Freundinnen war. Nach zwei Wochen hatte sie es dann auf sich beruhen lassen, erst einmal. Dann, vor ein paar Tagen und mit ein bisschen Abstand, hatte sie sich zaghaft noch einmal gemeldet. Auch darauf keine Antwort. Keine Reaktion.

    Bis heute. Hier am Tisch auf der Veranda der Tauchbasis war nun endlich ein Lebenszeichen von Nadine gekommen. Natascha öffnete die Mail und las.

    Hallo Natascha, sorry, aber ich bin nicht bereit, mich mit dir zu treffen. Nicht, weil ich etwas gegen dich hätte. Einfach weil ich in den vergangenen Jahren gemerkt habe, dass dein Interesse an unserer Freundschaft nachgelassen hat und du dich mehr und mehr von mir zurückgezogen hast und meinen Meinungen widersprichst. Irgendwann wollte ich mich damit so nicht mehr zufriedengeben. Anfangs dachte ich noch, ich hätte etwas falsch gemacht, wusste aber nicht, was. Aber nach und nach wurde mir klar, dass du einfach dein Leben leben willst. Die Zeiten, dass ich mir selbst die Schuld gebe, sind vorbei. Mir ist klargeworden, dass es einfach nicht mehr passt. Ich wünsche Dir für die Zukunft alles Gute! Nadine

    Liebevoller Rückzug!

    »Ich fass es nicht! Was hat die nur geritten?!« Energisch schob Natascha das Smartphone auf die andere Seite des Tisches außer Reichweite, als könnte sie damit diese unverständliche Situation von sich schieben und die Ereignisse unwichtig machen. Zum zweiten Mal am heutigen Tag fragte sich Natascha, was zum Geier eigentlich mit den Leuten um sie herum los war…

    Um zehn vor acht am Abend traf Natascha im Restaurant ein. Mit Lea an der Hand betrat sie den Außenbereich und steuerte geradewegs auf den großen für den Taucher-

    abend reservierten Tisch zu. Das Basis-Team war fast vollzählig, und auch erste Basis-Gäste hatten sich zum Taucherstammtisch eingefunden. Die Anwesenden unterhielten sich angeregt und nahmen zuerst gar keine Notiz von Natascha und Lea. Jennifer aber, die in Blickrichtung zum Eingang saß und sie sofort sah, strahlte vor Freude, dann erhob sie sich rasch und eilte auf sie zu. Nach kurzer Umarmung – so herzlich, als hätten sie sich seit Wochen nicht gesehen – trat Jennifer einen Schritt zurück und grinste Natascha an.

    »Wow! Natascha da Silva, du siehst einfach umwerfend aus, um nicht zu sagen scharf.« Jennifer setzte den übertrieben feurig-scharfen Blick eines Vamps auf und formte mit ihren Lippen eine leicht laszive Geste.

    Natascha musste lachen, sie konnte nicht anders. Jennifer stimmte mit ein. Unbefangenes Rumblödeln, lange war es her…

    »Du, lass mal…« Natascha lächelte unsicher und stupste Jennifer am Oberarm. Ihr war die Situation irgendwie auch unangenehm. Erst vorhin ihre Tochter, die sie, als sie sich im Hotelzimmerspiegel einem abschließenden Kontrollblick unterworfen hatte, mit ihren kaffeebraunen Kulleraugen angestarrt und dann, nach Sekunden der Stille, mit ihren gerade mal fünf Jahren gesagt hatte: »Mami, du siehst aber toll aus!« Das war so goldig gewesen und Natascha gerührt, aber es war ihr auch etwas peinlich, und wenn nicht peinlich, dann zumindest fremd. Dazu verstärkte sich das schlechte Gewissen, das schon bei der Entscheidung, am Abend auszugehen, von ihr Besitz ergriffen hatte. Normalerweise brachte sie Lea abends um acht ins Bett. Jetzt ging sie mit ihr gerade erst aus. Aber blieben die Kinder im Süden nicht alle länger auf?! Und im Urlaub, da war das doch normal! Und es gefiel den Kindern und gefiel den Eltern! Außerdem hatten Jennifer und Frank auch kein Problem, ihren dreijährigen Sohn Eric abends hin und wieder mal länger aufbleiben zu lassen. Wahrscheinlich dachte sie einfach nicht südländisch genug, trotz ihrer portugiesischen Wurzeln. Also verwies sie den imaginär erhobenen Zeigefinger in seine Schranken. Aber dass Lea ihr Outfit kommentiert hatte, hatte schon ein komisches Gefühl hinterlassen. Es war schön, aber zugleich irritierend. Und nun Jennifer.

    Warum musste ich mich auch unbedingt so in Schale werfen?!

    »Da kriecht wohl langsam jemand aus seinem Schneckenhaus, was?« Nur Jennifers Blick neckte noch ein wenig weiter, aber es war ein liebevolles Necken.

    »Darf ich nicht mal was anderes als meinen Neoprenanzug tragen?« Jetzt war es Natascha, die verschmitzt grinste. »Hat nicht das Geringste mit Mike zu tun.« Sie schüttelte gespielt entrüstet den Kopf. Stilvoll und nicht billig, sexy aber nicht verrucht, das war schon früher ihr Garderobenmotto beim Ausgehen gewesen, Mike hin oder her. Sicher war er nicht ganz unschuldig daran, dass sie sich nach langer Zeit der Abstinenz vom Sich-in-Schale-werfen endlich mal wieder so richtig schick gemacht hatte. Und sie nahm sich nun heraus, einen Moment lang selbst zufrieden mit dem Ergebnis zu sein. Warum auch nicht? Es tat ihr gut. Ihr halblanges Sommerkleid wartete mit schlichter Eleganz und einem Schnitt auf, der ihre schlanken, aber dennoch femininen Kurven zur Geltung brachte und nicht zu viel und nicht zu wenig preisgab. Die hochhackigen Sandaletten verschafften ihren langen, braungebrannten Beinen zusätzlich Kontur und passten farblich perfekt zu dem azurblauen Kleid. So zumindest hatte sie im Hotel ihr Spiegelbild wahrgenommen, in einem vor Selbstvertrauen strotzenden Moment, und war überrascht gewesen, wie gut es sich anfühlte. Sie war dezent, nicht aufgedonnert, aber doch einen Hauch stärker als gewöhnlich geschminkt. Und um die Sache abzurunden, hatte sie sich heute entschieden, ihre vollen braunen Locken nicht wie sonst mit einem Haargummi zum Pferdeschwanz zu binden. Die dunkle Haarpracht fiel locker über ihre Schultern, nur ein paar widerspenstige lockige Strähnen hatte sie mit Festiger gezügelt – was, wie sie schon auf dem Weg zum Restaurant festgestellt hatte, nicht gut klappte. Sich nicht für ihren Pferdeschwanz-Look entschieden zu haben, den sie fast immer trug, war vielleicht doch falsch gewesen. Sie mochte es nicht, sich ständig Haarsträhnen aus dem Gesicht schieben zu müssen, außerdem konnte es von einem männlichen Gegenüber falsch gedeutet werden – zumindest, wenn man dem Artikel zum Thema Flirten glaubte, den ihre Kollegin Vivian kürzlich veröffentlicht hatte. Gut, dass sie selbst bei der ehrgeizigen und niemals schlafenden online Nachrichten-Plattform Blueball News über wichtigere Themen als so etwas schrieb! Ob es tatsächlich einladend wirken würde? Bestimmt totaler Schwachsinn! Wobei… Wenn da etwas dran war, käme ihr das heute vielleicht ganz gelegen… Sie musste unwillkürlich schmunzeln. Fünf Jahre allein – eine extrem lange Zeit, sie war aus der Übung in diesen Dingen. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, oder vielleicht einfach nicht den Mut für eine neue Partnerschaft. Viel einfacher war es gewesen, sich einzuigeln…

    Wusste sie eigentlich selbst, was sie wollte? Ob sie überhaupt wieder irgendeinen Mann in ihr Leben lassen wollte? Sie hatte schon genug Probleme… Und wenn ja, dann einen wie Mike? Ein Mann, der ein ganz anderes Leben führte als sie selbst? Wahrscheinlich machte gerade das ihn so unwiderstehlich. Aussteigerleben hin oder her, er schien ein warmherziger, ehrlicher und gutmütiger Mensch zu sein. Der Ansicht war auch Jennifer, und die kannte sich aus mit Menschen.

    »Schalt einfach mal deinen Kopf für eine Weile aus und komm!« Jennifer schien just in diesem Moment genau dort hineingespickt zu haben: in ihren Kopf. Und sie hatte recht – wie so oft. Total verkopft! Sie musste lockerer werden und die Dinge laufen lassen. Und sie brauchte unbedingt ihr einstiges Selbstvertrauen zurück, und zwar dringend!

    Nichtsdestotrotz – hätte Natascha gewusst, dass nur gut die Hälfte der Taucherstammtischler schick erscheinen und die anderen lässig-leger in ihren Taucher-Shirts und Shorts dasitzen würden, sie hätte sich nicht so aufgedonnert. Aber die Mischung der Gäste war immer bunt, und jeder war willkommen, wie er eben kam, schick oder leger gekleidet – ganz egal. Das jedenfalls hatte Jennifer ihr gesagt, und Natascha hatte sich darauf verlassen. Und heute hatte sie Lust auf schick, und vielleicht auch Lust auf mehr, sie würde sehen. Nur nichts überstürzen. Oder doch?

    Jennifer bot ihr einen freien Platz an. Und der schien nicht zufällig gewählt – lag er doch in verdächtiger Nähe zu Mike …

    Der Abend verlief erwartungsgemäß gesellig, fröhlich, unbeschwert. Während und nach dem opulenten Essen wurde geplaudert, was das Zeug hielt, und je später es wurde, desto wohler fühlte sich Natascha. Die Zahl der Gäste nahm stetig ab, doch je weniger Leute am Tisch saßen, desto persönlicher und tiefgründiger wurden die Gespräche. Ganz nach Nataschas Gusto, oberflächliches Geplänkel war nicht ihr Ding. Smalltalk ja, aber früher oder später sollte man sich auch angeregt austauschen können. So war es jetzt und hier, perfekt! Die kleine illustre Runde war am großen Tisch enger zusammengerückt und bestand mittlerweile nur noch aus ihr, Jennifer, Frank und Ralf – Franks rechter Hand in der Tauchbasis –, Mike sowie Marina, einer jungen Tauchbasismitarbeiterin. Nun rutschte man von einem Thema zum nächsten, während die Kinder unbeschwert um sie her spielten. Doch die Zeit drängte – allzu spät wollte Natascha Lea nicht ins Bett bringen, und Jennifer und Frank sahen das für ihren Eric genauso. Jennifer schlug vor, die gesellige Runde bei ihnen zu Hause noch fortzuführen, die beiden Kinder in Erics Zimmer schlafenzulegen und Nataschas letzten Abend vor dem Heimflug noch auszukosten, so lange es ging.

    Gesagt, getan. Eine Stunde später saßen die sechs Erwachsenen bei Kerzenlicht und leiser Chill-out-Musik im Hintergrund auf Stebes Terrasse. Pinienduft schwebte in der sommerlichen Luft, eine leichte Brise wehte. Offensichtlich rieben unzählige Grillen ihre Beinchen aneinander, um mit dem Balzgeräusch die Weibchen zu beeindrucken, und sorgten gleichzeitig dafür, dass sich Menschen, die um diese Zeit draußen verweilten, der Natur noch verbundener fühlten und noch besser zur Ruhe kamen, als es in dieser Idylle ohnehin geschah. Zumindest ging es Natascha so. Ab und zu huschte ein Gecko im Lichtkegel der Lampen die terrakottafarbenen Wände des Hauses entlang. Die Welt war in diesem Moment in Ordnung – sogar für Natascha. So friedlich wie der tiefe Schlaf, in den die beiden Kinder inzwischen gefallen waren.

    »Warum bist du eigentlich weg aus Deutschland?« Das wollte Natascha Mike schon die ganze Zeit fragen, und nun traute sie sich endlich. »So mitten im Leben, meine ich. Seit fünf Jahren bist du als Tauchlehrer unterwegs, hast du mal gesagt. Aber es muss ja ein Leben davor gegeben haben, oder nicht? Jemand in Marinas Alter, so direkt vor oder kurz nach dem Studium, der mal ein paar Monate aussteigt – okay. Aber du? Gab es eine Initialzündung, irgendetwas Einschneidendes? Man gibt nicht einfach so alles auf, was man sich aufgebaut hat, oder nicht? Du warst da – wie alt? Knapp vierzig?«

    Alle Blicke richteten sich auf Mike. Der schmunzelte auf eine Art, die zu sagen schien: Die Frage musste ja kommen. Aber sie schien ihm keinesfalls zu persönlich oder lästig, im Gegenteil, offensichtlich bezog er gerne Stellung dazu.

    Obwohl er schmunzelte, blickte er sie

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