Lillys Album
Von Uri J. Nachimson
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Über dieses E-Book
Dieser ungewöhnliche Roman wurde von mir geschrieben, dem Sohn eines Holocaust-Überlebenden, und basiert auf den Prüfungen und den Anfechtungen, die meiner Familie im Ersten und Zweiten Weltkrieg ausgesetzt war. Es ist eine herzzerreißende Geschichte einer Reise von jugendlichen Hoffnungen und Träumen bis hin zu Verzweiflung und schließlich dem Tod. Die Geschichte handelt von tiefer Liebe, der Sinnlosigkeit des Kriegs und der Auslöschung von unschuldigen Menschen, nur weil sie einen anderen Glauben hatten.
Der Roman basiert auf einer wahren Geschichte und hat mich drei Jahre an Recherche und unzähligen Reisen nach Polen gekostet. Das Buch ist keine leichte Kost und richtet sich an erwachsene Leser.
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Buchvorschau
Lillys Album - Uri J. Nachimson
Lillys Album
basierend auf einer wahren Geschichte
von Uri Jerzy Nachimson
übersetzt von Stefanie Holzhausen
Inhaltsverzeichnis:
Treblinka
Hauptfiguren:
Vorwort
Lillys Geburt
Bolschewistische Winde aus dem Osten
Das glückliche Lächeln von Cesia
Das Leben in Wloszczowa
Ein ungebetener Gast
Der Prozess
Die Ergebnisse
Lillys Aufbegehren
Der Besuch in Warschau
Ein verständnisvoller Zuhörer
Weihnachten, Chanukka und ein Geburtstag
Höhere Bildung
Adel verpflichtet
Das Konzert
Junge Liebe
Die Probleme der Reichen
Gequälte Seele
Die Reise im Orient-Express
Türkei
Eine bittere Enttäuschung
Das Geschenk
Das Geschäft
Kursänderung
Ein wahrer Freund?
Die ungewisse Hochzeit
Irena
Am Fluss Pilica
Die Begutachtung Edeks
Izio mischt sich ein
Ein Traum wird wahr
Die Lage wird schlimmer
1936
Bist du bereit?
Lilly mit 21
Der Flüchtling aus Berlin
Liebe und Hass
Krieg am Horizont
Der jüdische Funken
Wichtige Entscheidungen
Die letzten unbeschwerten Tage in Warschau
Kriegsgeräusche
Unter der Besatzung der Nazis
Leben im Schatten des Todes
Eine Zielscheibe für Erniedrigungen
Die Lage in Wloszczowa
Die Lage für Izio
Deutschland greift Russland an
Die Lage für Moses
Glück für Izio und Stanislaw
Ist das Ende nah?
Moses
Die Endlösung
Epilog
Treblinka
Es gibt keinen Laut, der so traurig wäre, wie der Wind von Treblinka.
Augen haben wir, aber sehen nicht, Ohren haben wir, aber hören nicht.
Nur das Herz weiß es und es erbebt im Stillen.
Nur der Wind war gütig, hat ihre Asche in die Ritzen der Erde gebettet, sie sanft zugedeckt.
Als die Welt sich abwandte, hat nur der Wind eine Grabrede gehalten.
Aus Gnade blieb uns das immerwährende Wehgeschrei erspart.
Im Tode wurde dies auch betrogen, aber nicht vergessen;
Der Wind, der stöhnende Wind, der Bewacher der Toten.
Er soll hier verweilen, soll seine Flügel voll des Leides schlagen!
(Für Lilly von Edwin Vogt, 2000)
„Um richtig um meine Familie trauern zu können, musste ich sie erst einmal kennenlernen. Also habe ich sie aus ihren unbekannten Gräbern geholt, sie zum Leben erweckt und sie dann in Würde sterben lassen."
(Uri Jerzy Nachimson)
Hauptfiguren:
––––––––
Wolf and Ida Nachimzon: Eltern von David, Lilly and Izio.
David, Lilly, Izio: Kinder
Eugenia, Roza, Cesia, Emma, Berta, (geborene Friedberg)Muniek: Bruderund Schwestern von Ida
Stanislaw Szajkowski: Ehemannvon Eugenia
Paulina Nachimzon, (geborene Wolfson): Wolfs Mutter, Schwestervon Juliusz Wolfson.
Izabela Grinevskaya: Idas Tante (Pseudonymvon Berta Friedberg)
Moses Samuel Wolowelski: Cesias Ehemann (Vater von Adam und Jerzy)
Adam Wolowelski Sohn von Moses und bester Freund von David
Jan Sosnowski: Graf des Dorfes Maluszyn
Zosia Szawlonska: Polnische Nachbarin (Ewas Mutter)
Fela Goslawska: Lillys Freund aus Warschau
Irena Oleinikowa: Davids polnische Freundinaus Wloszczowa
Klara Feinski: Davids jüdische Freundinaus Warschau
Edek (Edward) Zaidenbaum: Lillys jüdischer Freund
Lolek Bitoft: Lillys polnischer Freund und Sohn des Apothekers in Wloszczowa
Vorwort
––––––––
An einem kalten, verschneiten Wintertag im Jahre 1943 ist der letzte Transport aus dem Getto von Wloszczowa, einer kleinen Stadt im Süden von Polen, zur Abfahrt bereit. Er transportiert die letzten Juden in das Vernichtungslager von Treblinka. Dort, auf einer Rampe aus Beton, die von Stacheldraht umzäunt war, standen deutsche Soldaten Wache. Einige hielten wilde Kampfhunde an der Leine, die ihre bedrohlich aussehenden Zähne zeigten. Mit ihrem Gewehrkolben schoben sie die verängstigten Menschen an, die gerade erst aus dem Zug ausgestiegen waren, in dem sie in verschlossenen Waggons ohne Essen und Wasser für zwei Tage eingepfercht gewesen waren. Sie wurden in ein großes Gebilde aus Beton geführt und es wurde ihnen befohlen, sich zu entkleiden und sich auf eine Dusche vorzubereiten. Völlig nackt wurden sie angewiesen, in den „Waschsaal" zu laufen; wenn dieser voll war, wurden die Türen geschlossen. Unter den Dutzenden von Juden, die sich in der verschlossenen Kammer drängten, machte ich Lilly aus, meine junge und wunderschöne Tante. Nackt stand sie da, versuchte, ihre Nacktheit mit ihren Händen zu verdecken, zitterte aus Furcht und wegen der Kälte. Fast vollständige Dunkelheit herrscht im Innern, in dem die Menschen drängeln, beten, weinen und vor lauter Verzweiflung schreien.
Nach ein paar Minuten öffnet sich eine kleine Luke an der Decke und ein einzelner Lichtstrahl dringt ins Innere vor. Jeder schaut nach oben und beobachtet, wie ein kleiner Kanister in den Raum geworfen wird. Plötzlich steigt ein beißender Geruch vom Boden auf und hüllt den gesamten Raum ein. Die Menschen fassen sich an ihrer Kehle, würgen, husten und übergeben sich. Sie beginnen damit, gegenseitig aufeinander zu klettern, als sie versuchen, weiter nach oben zu kommen, wo es immer noch Luft zum Atmen gibt.
Nach einigen Momenten herrscht völlige Stille; kein Stöhnen oder Leiden. Tödliche Stille hat das Kommando übernommen.
Das Geräusch von knarrenden Scharnieren ist zu hören und die Türen öffnen sich. Wachleute, die Masken tragen, spähen ins Innere und sehen, dass es immer noch einige Körper gibt, die sich winden und zucken, während weißer Schaum aus ihren Mündern tritt. Die Wachleute entfernen sich schnell wieder und erlauben es dem Gas sich aufzulösen und zu verdampfen, bevor andere Gefangene kommen, um die Leichen wegzuräumen und sie ins Krematorium zu bringen, wo sie verbrannt werden. Unter diesen Leichen ist der Körper meiner Tante Lilly, die erst 27 Jahre alt war.
Ich kannte ihr Gesicht von vielen Bildern, die in makelloser Ordnung in ihrem persönlichen Album gefunden wurden, das bei einer polnischen Familie versteckt war. Ich hatte außerdem das Gefühl, dass ich sie aus den Geschichten kannte, die ich von meinem Vater gehört hatte - ihrem älteren Bruder.
Von dem Tag an, als ich ihr Gesicht gesehen habe, fing ich an, zu träumen und der Traum verfolgt mich; diese furchterregenden, wiederkehrenden Bilder. Fast immer an dem Punkt, wo ihr Körper in den Ofen des Krematoriums geworfen wird und das metallische Geräusch zu hören ist, mit dem die Eisentür verschlossen wird, wache ich schweißgebadet mit klopfendem Herzen auf.
Ich liege wach in meinem Bett und denke nach. Ich stelle mir vor, was diese armen Seelen, die wie Lämmer zur Schlachtbank geführt worden sind, erlebt haben müssen. Dies waren Menschen aus Fleisch und Blut, viele von ihnen waren von meiner großen und weit verstreuten Familie. Diese Gedanken rufen Wut in mir hervor und ein starkes Verlangen danach, Vergeltung zu üben. Mein Körper schmerzt und weigert sich, zu glauben, dass dies alles wirklich geschehen ist.
Aber ich bin viele Male in Majdanek, Treblinka, Auschwitz, Birkenau und Dachau gewesen. Ich habe alles gesehen, die Baracken, die Krematorien, die Todeswand, die Rampe und die Gleise. Obwohl 70 Jahre vergangen sind, kommt es mir vor, als ob es gestern gewesen wäre.
Lilly wurde vier Jahre vor meiner Geburt ermordet und zwei Jahre, bevor der Zweite Weltkrieg endete.
Polen, diekleine Stadt Wloszczowa 25. Dezember, 1915
Lillys Geburt
––––––––
Lilly wurde eine Minute nach Mitternacht am 25. Dezember 1915 geboren, just in dem Moment, als die Glocken der nahe gelegenen Kirche die Geburt von Jesus verkündete. Sie kam wie er in diese Welt, als Jude.
Lillys Familie lebte in der polnischen Stadt Wloszczowa, südöstlich der Hauptstadt Warschau. Sie lebten in der Kilinskiego-Straße Nr. 13. Ein kleines, weißes, zweistöckiges Reihenhaus, wo von der Eingangspforte des Hauses ein kleiner, gepflasterter Weg bis zur Haustür führte. Auf der Rückseite gab es einen verwilderten Garten mit einem Holzzaun auf beiden Seiten, der das Grundstück von den Nachbargrundstücken abtrennte.
Als Idas Wehen begannen und schlimmer wurden, wurde Jadwiga, die polnische Hebamme gerufen, um bei der bevorstehenden Geburt zu helfen. Einige Tage zuvor war Dr. Herman Mirabel gerufen worden, ein nahestehender Verwandter aus Lodz, welcher das Baby holen sollte. Wolf, Idas Ehemann, hatte darauf bestanden, dass er bei bei der Geburt anwesend ist. Obwohl Dr. Hermann Zahnarzt war, respektierte Wohl das breit gefächerte Wissen, das er von Medizin hatte, da er einige Jahre lang Medizin studiert hatte, bevor er sich auf Zahnmedizin spezialisierte und seine Anwesenheit hatte eine beruhigende Wirkung auf Wolf.
Ida war nicht mehr die Jüngste; sie war fast 30 Jahre alt und hatte vor fast drei Jahren ihren erstgeborenen Sohn Davidek auf die Welt gebracht. Der kleine Davidek versteckte sich nun neben dem Kamin im Erdgeschoss, während sein Onkel Stanislaw versuchte, ihn vom Geschehen im ersten Stock abzulenken, in dem er mit ihm Verstecken spielte. Dr. Herman hatte auch die erste Geburt überwacht, obwohl diese im Krankenhaus von Warschau stattgefunden hatte.
Trotz seines beachtlichen Gewichts legte Wolf eine unglaubliche Wendigkeit an den Tag, in dem er alle paar Minuten die enge Treppe rauf- und runterrannte. Als er den ersten Stock erreichte. blieb er vor der geschlossenen Tür stehen und hörte, was darinnen geschah. Dann rannte er nach unten, um seinen Schwager Stanislaw einen Bericht über den Fortschritt der Geburt zu geben. Gerade in dem Moment, als die Kirchenglocken anfingen zu läuten und die christliche Welt über die Geburt von Jesus informiert wurden, war die Stimme eines schreienden Neugeborenen zu hören.
Wolf eilte die Treppe hoch. Als er die Schlafzimmertür erreichte, hielt er einen Moment inne und als wohlerzogener, polnischer Gentleman klopfte er zuerst vorsichtig an und fragte, ob er eintreten dürfte.
Der kleine Davidek musste unten noch eine weitere Stunde warten, bevor ihm erlaubt wurde, seine neue, kleine Schwester zu sehen. Als die Tür zu Idas Zimmer endlich geöffnet wurde, eilten Stanislaw und Davidek nach oben, um das Baby Lilly zu sehen. Sie war gesäubert und in ein Handtuch gewickelt worden und lag, mit einer ruhigen Miene auf ihrem schönen kleinen Gesicht, in den Armen ihrer Mutter.
Jadwiga schwirrte umher und stopfte die schmutzigen Laken und Handtücher in einen großen Sack. Ida lag im Bett, mit einem weißen Laken bis zu ihrer Taille bedeckt, erschöpft, aber mit einem glücklichen Lächeln auf ihrem Gesicht, da sie immer eine Tochter hatte haben wollen, die sie Lilly nennen würde.
Sobald Ida sich stark genug fühlte, um herumzulaufen, erlaubte sie wieder Besuch in ihrem Haus. Damit alle Platz fanden, musste Wolf den Esstisch der Familie ausziehen und ihn vor die Wand des Wohnzimmers stellen. Er stellte einige Flaschen Wisniak und Wodka hin und Platten mit ordentlich geschnittenen Stückchen Kielbasa, polnischer Brühwurst. In Keramikschüsseln mit Blumenmuster legte er köstlich duftende Strudelteilchen zusammen mit Hefekuchen aus Mohn, den seine polnische Nachbarin Zosia Szawlonska im Vorfeld zubereitet hatte.
Die Ersten, die ankamen, war ein Bataillonskommandant der Ungarisch-Österreichischen Armee, die am Rynek-Platz im Herzen der Stadt ihr Lager aufgeschlagen hatte. Er war der Kommandant der Besetzungseinheit, welche vor einigen Monaten in die Stadt eingedrungen war, ohne auf Widerstand zu stoßen und ohne, dass ein einziger Schuss gefallen wäre.
Die Bewohner der Stadt schauten sie gleichgültig und desinteressiert an, während die Soldaten in sich hineinlachten, als sie neugierig die orthodoxen Juden betrachteten, die schwarze, lange Mäntel und Fellmützen trugen, lange Bärte und Locken an den Seiten hatten, auf beiden Seiten ihrer Gesichter, die im Winterwind wehten. Die Sprache, in der sie sich miteinander unterhielten, klang wie Deutsch, aber sie konnten sie überhaupt nicht verstehen. Wolf ging auf den Offizier zu, schüttelte seine Hand, als er sich verbeugte und sagte, „Willkommen in meinem Heim, Herr Kommandant Schoenfeld. Was für eine Ehre."
Der Offizier stampfte mit seinen schwarzen, glänzenden Lederstiefeln auf, trat an Wolf heran, klopfte ihm auf die Schulter und antwortete, „Ich möchte Ihnen meine Segenswünsche zu diesem freudigen Ereignis überbringen. Ich danke, dass Sie mich eingeladen haben."
Wolf geleitete den Offizier zu dem Tisch, stellte ihm Ida und das Baby vor und goss zwei Gläser Wodka ein.
„Auf Lilly, bellte Offizier Schoenfeld. „Möge sie ein langes, glückliches Leben haben.
Sie erhoben ihre Gläser und schütteten den Inhalt ihre Kehle herunter.
Wolf kannte Offizier Schoenfeld, der ein leidenschaftlicher Bridgespieler war, seitdem er die Stadt Wlosczowa besetzt und sich dort niedergelassen hatte. Als er unter den Einheimischen fragte, wer Bridge spielte, meldete sich Wolf, ein passionierter Spieler. Jeden Mittwoch pünktlich um sechs Uhr, kam Wolf, auf seinem Motorrad, auf dem Anwesen von Graf Jan Sosnowski an. Wolf war der Buchhalter und der Vermögensberater des Grafen. Auf seinem Weg kam er an der Kirche vorbei und sammelte den Priester der Stadt ein, Vater Dabrowski, der ein gerissener und schlauer Bridgespieler war, den Wolf sehr bewunderte.
Obwohl Wolf Jude war, hatte er nicht viel für den Glauben übrig, egal welche Art von Glauben. Er war niemals in einer Synagoge gewesen, verstand nicht die jüdische Sprache und hatte selten Kontakt zu orthodoxen Juden. Er interessierte sich nicht für Politik und nahm die bekannten polnischen Gebräuche an. Er stellte sich selber als Pole mit jüdischen Wurzeln vor. Dennoch verleugnete er nie seine Herkunft oder versuchte sie in irgendeiner Weise zu verstecken.
Als der private Fahrer des Grafen Sosnowski am Haus ankam und die Stufen alleine hoch schritt, fühlte Wolf, dass der Graf nicht an der Feier teilnehmen würde. Tatsächlich, der Graf kam nicht, sondern sandte nur ein geschnitztes, bemaltes Kästchen aus Holz, das eine dünne Silberkette mit einem Verschluss in der Form eines Herzens enthielt. Es passte perfekt um den kleinen Arm von Baby Lilly.
Wolf dankte dem Fahrer überschwänglich und gab ihm ein Glas feinen Wodkas mit einen Stücken Kielbasa. Es herrschte ein großer, gegenseitiger Respekt zwischen Wolf und dem Grafen, eine Form von verklemmter Freundschaft, nicht die innige Freundschaft, die zwischen ihm und Vater Dabrowski bestand.
Dann kam Tante Eugenia, Idas Schwester, mit ihrem Ehemann Stanislaw an. Idas 15 Jahre alte Schwester, Emma, traf mit ihrer unverheirateten Schwester Roza ein, mit der sie zusammenlebte. Emma war eine unersättliche Leserin, ein Bücherwurm, und eine ausgezeichnete Schülerin, aber stur und rebellisch. Als die weltliche jüdische Jugendbewegung ins Leben gerufen wurde, schloss sie sich ihr an, ohne sich vorher Rat von jemandem aus der Familie zu holen. Nach einigen Wochen schloss sie sich einer moderneren Jugendbewegung an, auch Hachalutz genannt, welche modernen Ackerbau mit Sport verband.
Dann kam Dr. Hermans Frau, Tante Berta, mit ihren zwei Kindern Mietek und Irka an, die den ganzen Weg von Lodsch gekommen waren.
Vater Dabrowski stattete ihnen einen Besuch ab, um seine guten Wünsche zu überbringen, blieb aber nur für einige Minuten. Obwohl jeder von ihm und von seiner Freundschaft zu Wolf wusste, blieb er nicht lange, um die Gäste nicht mit seiner Anwesenheit in Verlegenheit zu bringen.
Als die Gäste sich aufmachten zu gehen, kamen schließlich noch Idas Schwester Cesia und ihr Bruder Muniek an. Zur gleichen Zeit traf auch ihre liebe Nachbarin Zosia, die hochschwanger war, ein. Sie war eine große Hilfe im Haus gewesen und hatte dafür gesorgt, dass Ida alles hatte, was sie brauchte.
Jeder wollte Lilly halten, die in den Armen ihrer Mutter schlief und nichts von all dem mitbekam, was um sie herum vorging.
Dr. Herman machte sich als Diener nützlich. Er versorgte jeden mit dampfend heißem Tee aus dem sehr beeindruckenden Samowar, den Wolf von seinem älteren Bruder bekommen hatte, als er ihn einige Jahre zuvor in Moskau besucht hatte.
„Ist das Wasser heiß genug, fragte Ida. Herman blickte zu ihr, lächelte und sagte, „Vertraust du mir nicht, meine Liebe?
Ida war besorgt, weil eine Choleraepidemie in der Stadt wütete und viele Opfer gekostet hatte.
Tante Eugenia war alles andere als glücklich über die Anwesenheit des österreichischen Offiziers und brachte ihr Missfallen offenkundig zum Ausdruck, als er sich ihr näherte und ihre Hand küsste. Er schaute sie an und sprach in Deutsch mit ihr, aber sie gab vor, dass sie nicht verstand, was er sagte.
Eugenia ging zu Ida, nahm ihr Lilly aus den Armen, und sagte, „Nun musst du etwas für uns spielen." Ida errötete und versuchte, sich zu drücken, aber alle Gäste fingen an zu klatschen. Also blieb ihr keine andere Wahl. Sie nahm ihre zwölfsaitige Doppelhalsgitarre, setzte sich auf einen etwas höheren Stuhl und begann, die Saiten anzuschlagen. Ihre schlanken Finger begannen, sich langsam zu bewegen und die schönen Klänge eines Flamenco, den sie von einem Zigeuner, der sich als Straßenmusikant verdingt hatte, gelernt hatte, waren zu hören. Sie hatte den Zigeuner mit nach Hause gebracht und ihn mit heißen Mahlzeiten bezahlt, damit er ihr die Flamenco-Melodien beibrachte, die sie am meisten liebte.
Der österreichische Offizier, der ziemlich betrunken war, versuchte, zu tanzen, während die Gäste ihn mit rhythmischen Applaus anfeuerten. Wolf stand mit ausgestreckten Armen hinter ihm, bereit, ihn aufzufangen, falls er stolpern sollte. Plötzlich fand sich Wolf auf dem Rücken liegend wieder, während der Offizier immer noch tanzte und mit den Sohlen seiner Stiefel auf den dicken Teppich stampfte, der den Holzboden bedeckte.
Ida hörte auf, zu spielen. Stanislaw und Dr. Hermann schleppten Wolf in das Schlafzimmer und legten ihn hin, machten seine Fliege und seinen Gürtel auf. Wolf, der an Bluthochdruck litt, musste sich regelmäßig einer Behandlung mit Blutegeln unterziehen, die ihm das Blut aussaugten, um seinen Blutdruck zu senken.
Aus den Glasgefäßen, die in einer Ecke des Schreibtischs standen, nahmen sie die hungrigen Egel heraus und setzten sie auf seinen Hals und Arm.
Die bestürzten Gäste begannen, sich zu zerstreuen und zu gehen. So, mit einer disharmonischen Note behaftet, endeten die Feierlichkeiten von Lillys Geburt abrupt.
––––––––
Einige Tage später hatte Wolf sich wieder erholt.
Wie gewöhnlich in seinen eleganten schwarzen Anzug gekleidet, mit schwarzer Fliege, einem Gehstock in der einen und einer braunen Aktentasche in der anderen Hand, ging er zu seinen geschäftlichen Treffen. Wolf, der Jura studiert hatte, hatte nie wirklich als Anwalt gearbeitet. Während er in Warschau lebte, hatte er sich beim Finanzministerium beworben, und die Stelle auch bekommen. Er hatte sich auf die Überwachung der Steuerzahlungen spezialisiert und wurde zum Kontrolleur der Region Radom-Kielce ernannt. Da Wloszczowa nur 50 Kilometer von Kielce entfernt lag, und dort Idas Schwester Eugenia und ihr Ehemann Stanislaw Szajkowski und ihre unverheiratete Schwester Roza lebten, hatte er sich dazu entschieden, sich in Wloszczowa niederzulassen. Er mietete ein kleines Haus und holte alle seine Sachen, die noch in Warschau gewesen waren.
Wolfs Schwager, Stanislaw, war bei den örtlichen Behörden als Förster angestellt, wo er viele Jahre arbeitete. Er war verantwortlich für die Abholzung und die kontrollierte Ausdünnung der umliegenden Wälder.
Dann bekam er eine Arbeit als Geschäftsführer eines Sägewerks, welches einem der vermögendsten Männer von Wloszczowa gehörte, Rabbi Moses Eisenkott, einem streng gläubigen Juden. Da die örtlichen Bauern seine Arbeiter schikanieren würden, hatte Rabbi Eisenkott Stanislaw mit der Aufgabe betraut, sich um die Bauern zu kümmern. Stanislaw gut gebaut, gut aussehend, groß, hatte strahlenden Augen und stacheliges Haar wie ein Igel. Er war auf polnischen Schulen gewesen und konnte fließend Polnisch sprechen. Jedoch, wenn es darum ging, mit polnischen Bauern zu sprechen, sprach er in ihrem Dialekt und bediente sich allen erdenklichen vulgären Ausdrücken. Das war die einzige Sprache, die sie verstanden.
Mehrmals am Tag, auch an sehr kalten Tagen, zog er sein Hemd aus, schnappte sich eine Axt und fällte ohne Hilfe einen Baum, nur um Eindruck zu schinden und die einzuschüchtern, welche die Angestellten von Rabbi Eisenkott schikanieren wollten.
Der Mord von Franz Ferdinand, Erbe des österreichischen Throns, verübt durch einen serbischen Studenten, schockierte die polnische Presse nicht. Der Vorfall wurde in einem kleinen Artikel erwähnt und wurde kaum beachtet. Niemand dachte, dass ein Vorfall wie dieser, der in Sarajevo stattgefunden hatte, sich auf den Rest von Europa auswirken und der Auslöser für den Ersten Weltkrieg sein würde.
Als das Ungarisch-Österreichische Heer Anfang August 1914 in Warschau einmarschierte und Russland schlug, den Todfeind der Polen, wurde es in den Augen von vielen zu einem Verbündeten und Retter. Als sie in Wloszczowa eindrangen, gab es keine wirkliche Ablehnung gegen die erobernde Armee. Im Gegenteil, die Juden, die kürzlich unter den wiederholten Attacken der Bauern gelitten hatten, hofften, dass sie von nun an vor dem Bataillon der Besetzer, das in der Stadt stationiert war, in Sicherheit sein würden.
Im März 1917 machten sich Gerüchte von Protesten jenseits der polnisch-russischen Grenze breit, als der russische Zar Nicholas II. abgedankt hatte und eine schwache Regierung ernannt hatte. Die bolschewistische Partei um Vladimir Lenin wurde immer lautstarker, bis in der Nacht zum 24. Oktober im gleichen Jahr die Kommunisten die Regierung stürzten und an die Macht gelangten.
In der Nacht des 16. Juli 1918 wurde die gesamte Zarenfamilie, inklusive Nicholas II., in Moskau hingerichtet. Die russische Bourgeoisie und der Adel flohen, aus Angst vor dem Zorn der Massen. Unter denen, die es schafften mit heiler Haut nach Polen zu fliehen, war ein jüdischer Geschäftsmann mit Namen Moses Moses Wolowelski. Er floh nach Polen und erreichte Warschau zusammen mit seinem 5-jährigen Sohn Adam.
Bolschewistische Winde aus dem Osten
Am 2. November 1917 schrieb Baron Balfour den folgenden offiziellen Brief an Baron Rothschild, der später als die Balfour-Deklaration bekannt werden sollte.
––––––––
Außenministerium
2. November, 1917
Verehrter Baron Rothschild:
Es freut mich sehr Ihnen, im Auftrage der Regierung seiner Majestät, die folgende Sympathieerklärung für die jüdisch-zionistischen Bestrebungen zu übermitteln, die dem Kabinett vorgelegt und von ihm genehmigt worden sind:
Die Regierung seiner Majestät sieht mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimat für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr bestes tun, die Erreichung dieses Ziels zu unterstützen, unter dem Vorbehalt, dass nichts getan wird, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden, nicht-jüdischen Gemeinden in Palästina verletzen würde, oder die Rechte und die politische Stellung, welche Juden in anderen Ländern genießen.
Ich wäre Ihnen sehr zu Dank verpflichtet, wenn Sie diese Deklaration der Zionistischen Föderation vorlegen würden.
Ihr ergebener
Arthur James Balfour
Als der Inhalt dieses Briefs in der Zeitung veröffentlicht wurde, organisierten die jüdischen Mitglieder der Stadtverwaltung von Wloszczowa eine solidarische Massenkundgebung. Alle jüdischen Kindergarten- und Schulkinder, auch die aus den chassidischen Schulen und Jeschiwa-Schüler aus den umliegenden Dörfern nahmen daran teil. Der Marktplatz war voller feiernder Menschen. Wolf und sein Sohn David waren unter den Teilnehmern der Kundgebung. Reden wurden geschwungen und die Atmosphäre war feierlich. Die Anführer der Bonds-Organisation waren nicht anwesend, aber der Rest der zionistischen Bewegung, religiös und weltlich, nahm daran teil.
Dies war eine der wenigen Gelegenheiten, an denen man beobachten konnte, wie sich bärtige Chassidim und weltliche Juden umarmten und sich gegenseitig segneten aus Dank für die Gelegenheit, die ihnen durch die Regierung ihrer Majestät gegeben wurde, sodass Juden in ihre Heimat zurückkehren konnten. Es gab auch welche, die kamen, obwohl sie nicht die Bedeutung dieser Veröffentlichung verstanden. Es herrschte das Gefühl, dass etwas Großes geschah und das vielleicht der Messias gekommen wäre, um sie in das Land zu führen, in dem Milch und Honig flossen.
Viele wussten, dass es das Ziel war, ihr geliebtes Land zu verlassen, das über Generationen ihr Heimatland gewesen war; das Land, dem sie treu gewesen waren, seiner Kultur, seiner Sprache und seiner Bräuche. Sie wären dazu gezwungen, ihren Reichtum, den sie angehäuft hatten, zurückzulassen und irgendwo anders ein neues Leben zu beginnen, in einem fremden Land, mit einem rauen Klima und einer muslimischen Bevölkerung, die sie dort nicht haben wollte.
Einige Tage nach der großen Euphorie hatte sich alles etwas beruhigt. Das Leben in der Stadt kehrte zur Normalität zurück und verlief relativ ruhig. Die Besetzungsarmee hatte ihre eigenen Verwalter angebracht, wenn auch deutschsprachig, und alle Regierungsinstitutionen, Gerichte und Stadtverwaltungen öffneten wieder. Viele Straßennamen waren geändert wurden und der Name Rynek (Marktplatz) wurde in Franz Josef Platz umbenannt.
An den Markttagen kamen viele Soldaten und kauften Waren, auch von jüdischen Verkäufern. Der Konkurrenzkampf unter den polnischen Verkäufern führte oft zu Ausschreitungen und der Rynek-Platz verwandelte sich in ein Schlachtfeld.
Roza und Emma kamen ganz gut miteinander aus. Roza war die älteste von sechs Töchtern und einem Sohn, deren Vater Isaac Friedberg war, ein Geschäftsmann, dessen Geschäft Bankrott gegangen war. Er starb sehr jung an gebrochenem Herzen. Isaac war der Sohn eines bekannten jüdischen Schriftstellers mit Namen Abraham Shalom Friedberg, der 1902 starb und in Warschau beerdigt wurde.
Nachdem Roza Isaac und Leah geschenkt wurden, bekamen sie noch Ida und Berta. Als seine erste Frau starb, heiratete Isaac erneut und bekam die Töchter Eugenia und Cesia, seinen Sohn Muniek und seine jüngste Tochter Emma. Da Roza alleinstehend war, „adoptierte" sie ihre jüngere Schwester Emma und zusammen lebten sie in einer kleinen Wohnung.
Einmal, als Emma aus der Mädchenschule nach Hause kam, in der sie die Kunst des Stickens und Webens lernte, brachte sie ein dünnes Büchlein mit, das sie unter ihrem Hemd versteckt hatte.
Roza fiel auf, dass Emma sich jeden Tag in ihrem Zimmer einschloss und kaum noch raus kam. Und sie begann, etwas zu vermuten.
Eines Tages überraschte Roza Emma und kam in ihr Zimmer, als sie das Büchlein las.
„Dürfte ich wissen, was du da liest", fragte sie neugierig.
„Welchen Unterschied macht es? Es ist besser, dass du es nicht weißt", antwortete Emma.
„Ich verlange, dass du es mir sagst," beharrte Roza.
„Es ist das Manifest der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels," antwortete Emma.
„Du weißt, dass du Schund in unser Haus bringst? Willst du, dass wir beide im Gefängnis enden," schrie Roza.
„Es gibts nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Die Revolution ist bereits hier," entgegnete Emma in einem gebieterischen Ton.
„Was redest du da? Ich möchte diesen Unsinn nicht von dir hören," erwiderte Roza.
„Habe ich dir nicht gesagt, dass es besser für dich ist, wenn du nicht weißt, was ich lese, begann Emma. „Polen ist ein nationalistisches Land und wir müssen den Nationalismus loswerden, weil sich das Proletariat in einer nationalen Trance befindet. Das Proletariat muss sich zu einer Nation vereinen, aber unter der Voraussetzung, dass wir die Bourgeoisie abschaffen.
Roza verlor die Nerven und schrie aus Leibeskräften. „Sei still, ich will nicht hören, was du da sagst. Wir werden alle wegen dir ins Gefängnis kommen," und sie begann, Emma anzugreifen, um ihr die Broschüre aus den Händen zu reißen.
„Eine neue Gesellschaft wird sich erheben. Kommunismus wird die Welt regieren, in der jeder gleich sein wird. Es wird keine sozialen Klassen und keinen Glauben mehr geben. Siehst du nicht die Entwicklung," beharrte Emma.
Roza riss das Buch aus Emmas Hand und fing an, die Seiten auszureißen und sie zu kauen.
„Das darf noch nicht einmal im Abfalleimer gefunden werden," schrie Roza.
Emma regte sich nicht auf. Sie ließ zu, dass Roza sich wie eine Wilde aufführte und sah zu, wie das Buch in ihrem Mund verschwand.
Sie stand auf, nahm eine große Tasche aus dem oberen Fach ihres Kleiderschranks und begann, ihre Sachen zu packen.
„Was machst du da," fragte Roza.
„Ich packe meine Sachen, weil ich gehe," antwortete Emma in einem kühlen Ton, der einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.
„Wohin willst du," fragte