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Leo&Ludwig: Eine Biografie des Unvorstellbaren
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eBook431 Seiten5 Stunden

Leo&Ludwig: Eine Biografie des Unvorstellbaren

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Über dieses E-Book

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kommt eine mittellose junge Frau aus der Uckermark nach Berlin und findet eine Stelle im "Nussbaum", einer Destille, wo der Karikaturist Heinrich Zille verkehrt und das "Milljöh" beobachtet. Die junge Frau lässt sich mit dem Sohn eines Industriellen ein, wird schwanger und bringt siamesische Zwillinge zur Welt. Zwillinge, die ebenso gegensätzlich sind wie das damalige Berlin, dieses qualmende Ungeheuer zwischen Fortschritt und Rückständigkeit, zwischen Licht und Schatten.
Da die Mutter nach der Geburt stirbt und den Namen des Vaters mit ins Grab nimmt, kommen die Knaben ins städtische Waisenhaus. Dort macht der Anstaltsarzt eine verwirrende Entdeckung: Obwohl siamesische und somit eineiige Zwillinge, hat Leo dunkles Haar, Ludwig dagegen blonde Locken. Doch nach und nach wird klar, dass die äußeren Unterschiede nur das Innere der Brüder widerspiegeln. Leo ist kalt, dominant und an Technik interessiert, während sich sein Bruder Ludwig zu einem sensiblen Träumer entwickelt, der die Natur liebt. Mit Hilfe des berühmten Professor Rudolf Virchow, auch Experte für deformierte Skelette, fehlende Glieder und andere Missgeschicke der Natur, gelangen die Brüder in die Obhut
eines Psychiaters. Er nimmt sie in seine verwunschene Villa auf und erkundet die Abgründe dieser ungleichen Seelen, die in einem Körper gefangen sind. Leo und Ludwig besuchen die Universität und wachsen zu attraktiven jungen Männern heran, die ihren Platz in der Gesellschaft suchen. Doch Schönheit und Anomalie liegen zu nah beieinander, und die Wirkung dieser Antipoden irritiert oder mündet in Ablehnung. Als Cynthia, eine eigenwillige Amerikanerin aus Detroit, und mit ihr Liebe und Begehren in das Leben der Brüder treten, bricht der Graben zwischen den beiden auf. Dennoch reisen sie mit der jungen Frau in die Neue Welt. Zur gleichen Zeit beauftragt die Gattin eines Industriellen einen Berliner Privatdetektiv, Licht in die dunkle Herkunft der Zwillinge zu bringen. Dabei stößt er auf Heinrich Zille, der als Karikaturist ein ausgeprägtes Gedächtnis für Gesichter hat.
Der Roman erzählt in einer bildhaften Sprache und nicht ohne Ironie die Geschichte von Normalität und Abweichung, von der Suche nach dem eigenen Ich. Neben historischen Persönlichkeiten wie Virchow und Zille spielen mit: Fabrikanten, Irrenärzte, Schmalspurganoven, bucklige Gärtner, Geister, windige Reporter, Huren und Säufer.
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum19. Juli 2013
ISBN9783943941401
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    Buchvorschau

    Leo&Ludwig - Dominique Anne Schuetz

    T

    D I E   N A M E N L O S E N

    Kindsnöte, die Kirche, der Allmächtige und Luzifer

    Im Jahre des Herrn 1500 betrat der Schweinekastrator Jakob Nufer mit einem Messer in der Hand die niedrige Kammer, in der sich die Hitze staute und der Gestank des Todes auszubreiten begann – jener faulig-süße Geruch, der an schwülen Hochsommertagen über den Friedhöfen schwärte wie giftige Dämpfe.

    Jakobs Weib Elisabeth lag seit Tagen in ärgsten Kindsnöten, stöhnte, schrie und wand sich auf ihrem Lager. Ihr Mann legte das Messer an das Fußende der Liegestatt, krempelte die Ärmel seines schweißnassen Hemdes hoch und wies die verschreckten Hebammen und Wehfrauen, den Wundarzt und auch den Pfaffen, der sich vor schierem Entsetzen in seinem Rosenkranz verheddert hatte, vor die Tür. Lediglich eine hutzelige Bäuerin hielt er am Arm zurück, damit sie ihm in dieser dunklen Stunde beistehe.

    Noch während der Knecht im Stall den Rappen trocken rieb, mit dem der verzweifelte Jakob nach Frauenfeld gehetzt war, um die Einwilligung des Prälaten zu erbetteln, war in der einfachen Kammer alles für das Wundgeschäft bereitgestellt worden: Wasser, Tücher, Nadel, Zwirn und nun auch das Messer, dessen geschärfte Klinge im Schein der Kerzen aufblitzte.

    Endlich, nach langem Bangen, konnte Jakob den ungeheuerlichen Eingriff mit Segnung der Kirche wagen.

    Wortlos hoben der wackere Mann und die Bäuerin die Gebärende auf einen bereitgestellten Tisch, der mehr wackelte, als für eine solche Operation wünschenswert, banden sie fest, flößten ihr Alkohol ein, steckten ihr ein Schnupftuch zwischen die Zähne und baten Gottvater, seinen Sohn und den Heiligen Geist um Hülff. Die Heilige Jungfrau Maria dürfe nicht vergessen werden, sagte die Bäuerin bestimmt. In solch elender Bedrängnis könne es nicht schaden, wenn auch eine Frau ihre schützende Hand über sie halte. Nufer nickte und stieß dann das Messer – als Säulischnyder wusste er um die Anatomie von Schweinen und anderem Vieh – in Elisabeths prall gewölbten Bauch, während ihr Wehklagen dumpf unter dem Stoffknebel hervorquoll. Er zog einen mehr oder weniger sauberen Schnitt durch Haut, Muskulatur, Bauchfell und Gebärmutter, holte das Kind samt Nachgeburt aus dem Leib, durchtrennte die Nabelschnur, übergab den quäkenden Säugling der alten Frau und vernähte die Wunde. Mit behäbigem Schritt trat er hinaus auf den Hof und wusch sich am Brunnen die blutigen Spuren von den Händen, als hätte er nichts anderes getan als seine tägliche Arbeit.

    Jakob Nufer war der Erste, der einen Kaiserschnitt an einer Lebenden durchgeführt hat, und er sollte für Jahrhunderte der Einzige bleiben, dem dieses Kunststück auch gelungen war. Da Weib und Kind überlebt hatten und Elisabeth ihrem Jakob noch weitere Söhne und Töchter gebar, wurde der tapfere Schweizer aus dem thurgauischen Siegershausen ein bekannter Mann, und die wundersame Geschichte ging durch zahlreiche Münder. Auch ein Barde hörte davon und verfasste alsbald die schaurige Ballade Vom Schweinekastrator und seinem gebärenden Weibe.

    Zur Zeit des Heumondes 1516 gelangte der dichtende Sänger in die freie Reichsstadt Cölln, wo er sich mit Laute und leerem Hut in der Nähe der Hohen Domkirche postierte. Wie immer, wenn nicht gerade Seuchen, Hungersnöte und Kriege den Menschen ins Handwerk pfuschten, wurde am Dom herumgewerkelt. Gott allein wusste, wann sein Haus endlich fertig sein würde, arbeiteten die Cöllner doch schon seit über zweihundertsechzig Jahren an ihrem Werk.

    Im Schatten der sakralen Baustelle herrschte reger Betrieb. Kaufleute, Handwerker, Gaukler und Scharlatane, Mägde, Diebe, Pilger und Geistliche tummelten sich dort, es wurde geschnorrt und gekauft, gehandelt und gestohlen. Am Rande dieser brodelnden Geschäftigkeit unterhielt der Barde das staunende Publikum mit Gesang und dramatischen Versen, die von der ganz und gar unglaublichen und doch überaus wahren und überaus blutigen Messergeburt erzählten. Ein beinahe poetischer Vortrag, der ganz nebenbei mit unzähligen falschen medizinischen Details angereichert war, was allerdings keinem der Zuhörer je aufgefallen ist.

    Der Sommer ging, und der Barde war längst weitergezogen, da lag ein junges Weib, fast noch ein Kind, in einer schäbigen Kammer im ebenso schäbigen Altengrabengässchen in den Wehen. Ein hoher Würdenträger der Kirche hatte sich an ihr vergangen und sie geschwängert. Verstoßen von den Eltern, geächtet von der Gesellschaft, stand dem unglücklichen Geschöpf in dieser schweren Stunde nur eine alte Hebamme bei. Doch die Geburt schritt nicht voran, und das arme Mädchen wurde mit jeder Minute schwächer.

    Auch die Geburtshelferin hatte im Sommer die Ballade des fahrenden Sängers vor der Domkirche gehört, und so entschloss sie sich, dem Beispiel des Jakob Nufer zu folgen und dem Leiden ein Ende zu setzen, bevor Weib und Frucht elend zu Grunde gingen.

    In der dritten Stunde nach Mitternacht stießen Blitze zu Boden und Fluten stürzten aus dem Firmament, Rinnsale durchzogen, Flüssen gleich, die stolze Reichsstadt und verwandelten sie in eine einzige morastige Kloake. Im Gebärkämmerchen wurde das heftige Unwetter kaum wahrgenommen. Zu groß war die Not. Aufgeregt flehte die Hebamme: »Pater noster qui es in caelis, sanctificetur nomen tuum …« Und während sie betete, schnitt sie mit zittrigen Fingern den Leib der bedauernswerten Frau auf, deren Schreie durch die Wände drangen, als wären sie aus Papier.

    Während der Donner krachte, wurden die Laute des jungen Weibes immer schwächer, und schon bald erlosch der letzte Lebensfunke in dem gequälten Leib. Doch nur Atemzüge später – das Unwetter rollte über die Dächer wie eine Lawine – begann in diesem armseligen und von Gott vergessenen Winkel neues Leben zu krähen, heftig und entschlossen, den Kampf mit einer ungewissen Zukunft aufzunehmen. Doch dieses Krähen kam von einem zappelnden Etwas, das sich gar unheimlich in den Händen der alten Frau anfühlte, so dass sie entsetzt aufschrie. Sie hatte eine Monstrosität aus dem Bauch der Schwangeren geholt, eine Art Zwillinge, die an Kopf und Rumpf ganz schrecklich verwachsen waren. Mit einem Schaudern legte sie die Säuglinge neben die tote Mutter, bekreuzigte sich und stolperte dann in höchster Aufregung aus der Kammer.

    So schnell es ihre alten Knochen zuließen, eilte sie durch die Gassen, rutschte auf dem vom Regen glitschig gewordenen Untergrund aus, fiel, rappelte sich wieder auf und schleppte sich bis zum Pfarrhaus von Maria Ablass. Mit rasendem Herzen und nass bis auf die Haut klopfte sie mit letzter Kraft an die Pforte, wieder und wieder, bis ihr endlich geöffnet wurde. Außer Atem berichtete sie dem Geistlichen in Bruchstücken von der Missgeburt und führte ihn zu der elenden Behausung, wo sich das Drama zugetragen hatte. Als der Diener Gottes und die Hebamme den engen Raum betraten, schlug ihnen ein Gestank von Blut und Feuchtigkeit entgegen, und ein jämmerliches Wimmern drang an ihre Ohren. Kaum hatte der Mann die Zwillinge erblickt, verengten sich seine Augen zu Schlitzen und sein Körper begann zu beben. Gleich einem Scharfrichter hielt er sein Kruzifix über die Namenlosen, die sich hilflos auf dem besudelten Strohlager krümmten, und zischte: »Der Allmächtige steh uns bei! Luzifers Brut! Ins Feuer mit ihnen!«

    B É A T R I C E   U N D   CO N S T A N Z E

    Adel und Médecins

    Hundertsechsundfünfzig Jahre später unterhielt sich der Bourbonenkönig Louis XIV. mit seinem Lieblingsbildhauer François Girardon über den Stand der Arbeiten für den Schlossgarten von Versailles. Es handelte sich um die neuste Skulpturengruppe Apollon servi par les nymphes, ein Meisterwerk aus feinstem Carrara-Marmor, das den Gott inmitten von sechs spärlich bekleideten Meerjungfrauen zeigte, die ihm die göttlichen Hände und Füße wuschen. Während Girardon versuchte, ein ernsthaftes Gespräch über Bildhauerei zu führen, tänzelte ein aufgeregter Minister um den Sonnenkönig und seinen Künstler herum. Ihm war die heikle Aufgabe zuteil geworden, Majestät ausgerechnet jetzt über den Verlauf der Feldzüge gegen die Niederlande zu informieren.

    Just zu dem Zeitpunkt, als sich der Herrscher über Europa mit Kunst und Krieg beschäftigte, der höchst mimosenhafte Hofbildhauer eine säuerliche Miene zog und der kleinmütige Minister mit seinen faulenden Zähnen an einem Fingernagel raspelte, schrie die Frau eines einflussreichen Herzogs vor Qual auf. Sie lag in den Wehen.

    Ein staubigtrockener Sturm fegte über das Land, schlug gegen die Fensterscheiben des Châteaus, rüttelte an ihnen, als wollte er sich gewaltsam Zutritt verschaffen. Es wurde Abend, noch immer zog es durch jede Ritze, und die Kerzen flackerten und warfen verzerrte Schatten an die Wände des prunkvollen Schlafgemachs. Der Gebärstuhl stand längst bereit, aber das Kind wollte nicht kommen. Die Duchesse litt nun schon seit über zwei Tagen und fieberte sogar, und der anwesende Geistliche witterte bereits die Anwesenheit des Höllenfürsten und drängte zur letzten Ölung. Die Gefahr, dass Madame samt der ungeborenen Frucht vom Tode dahingerafft würde, stieg von Stunde zu Stunde. Da Aderlasse, Arzneien, gutes Zureden und selbst die Gebete nichts genützt hatten und die Leibärzte mit ihrem dürftigen Latein längst am Ende waren, entschieden sie sich zu einem chirurgischen Eingriff. Allerdings waren ihre Kenntnisse in diesem Bereich dermaßen dürftig, dass sie den Kaiserschnitt mehr als kläglich durchführten. Nach einem blutigen Gemetzel – auf einem Schlachtfeld hätte es nicht wüster aussehen können – verblutete die Duchesse unter den Händen der Médecins. Was blieb, war ein schleimiges und blutiges Knäuel, ein Stück abartiges Fleisch mit gurgelnden Lauten, Zwillingsmädchen, aufs Schrecklichste aneinandergewachsen. Fassungslos glotzten die Ärzte auf dieses Ding, von dem sie noch weniger Ahnung hatten als von einer Entbindung mit dem Messer. Zwar hatten die studierten Herren schon einmal einen Kupferstich des berühmten Colloredo gesehen – dem Genueser Grafen Lazarro Colloredo wuchs ein halber Zwilling aus der Brust –, doch zwischen einem Kupferstich und der Realität lagen Welten.

    Die Leibärzte befanden sich in einer heiklen Lage. Durch ihren Pfusch hatten sie die schöne Duchesse ins Reich der Toten befördert und dafür dieser Doppelmissgeburt zum Leben verholfen. Das würde ihnen der Duc sehr übel nehmen. Zudem waren die Zeiten unsicher. Womöglich würden sie, als Geburtshelfer dieser Teufelsbrut, noch der Ketzerei bezichtigt. Oh Gott, oh Gott, in was für eine Bredouille waren sie da geraten! Keine Frage, sie mussten einen Weg finden, um die Säuglinge loszuwerden. Wie die Wäscherinnen an den Ufern der Seine tuschelten und berieten sich nun die Médecins, bis ihre Allongeperücken stoben und schief über ihre geröteten Ohren rutschten. Nach längerem Hin und Her rangen sie sich zu einer etwas überspannten, aber doch einigermaßen plausiblen Erklärung durch, die sie gemeinsam dem Edelmann vortrugen. Mit bekümmerten Mienen machten sie ihm klar, dass er Vater von Zwillingen geworden sei, doch diese eine fürchterliche, leider unheilbare und überdies hoch ansteckende Krankheit hätten, weshalb die Kinder unmöglich in seinem Umfeld belassen werden könnten.

    Noch in jener stürmischen Nacht wurden die verwachsenen Mädchen – ohne dass sie der Vater je zu Gesicht bekommen hätte – ins Hinterland verbracht, wo sie zuerst einer Amme und später einem kinderlosen Bauernpaar übergeben wurden. Die armen Leute erhielten zwar einen Beutel, mehr schlecht als recht mit Münzen gefüllt, aber vor allem wurde mit Folter in den Kerkern der Bastille gedroht, falls die Herkunft der Kinder nicht geheim bliebe.

    Jahr um Jahr ging ins Land. Der König führte ausnahmsweise keinen Krieg, sondern unterschrieb Friedensverträge, die Königin bekam einen weiteren Zwerg geschenkt, der sie in ihrer Langeweile etwas aufheitern sollte, und der verwitwete Duc hatte seine Frau und die Kinder längst vergessen, vermochten ihn doch die liebestollen Kurtisanen am Hofe bestens von seinem Verlust abzulenken.

    Die Zwillingsmädchen indes, die auf die Namen Béatrice und Constance hörten, wuchsen, versteckt vor der Außenwelt, auf dem entlegenen Bauernhof heran. Das Unglück geschah kurz nach ihrem sechsten Geburtstag – da verließen sie trotz Verbot ihre eingezäunte Welt, um zu sehen, was draußen so vor sich ging. In Anbetracht ihrer körperlichen Behinderung ziemlich tapsig und nur unter großer Anstrengung gelangten sie auf eine Landstraße. Zwei Stunden später lagen sie in ihrem Blut, waren, weil man sie für Ausgeburten der Hölle hielt, zu Tode geknüppelt worden. Natürlich im Namen Gottes, dem man wie immer die Verantwortung für derlei Schandtaten zuschob.

    »… ein Theil der Sammlung ist nicht aufgestellt, auf den ich einen gewissen Werth lege. Das ist nämlich das, was man im wissenschaftlichen Sinne die Teratologie nennt, d. h. die Lehre von den ›Wundern‹. Terata sind im alten Sinne das, was die Lateiner Monstra nennen: jene ganz unerhörten und unbegreiflichen Sachen, welche gelegentlich am Menschen entstehen.«

    Professor Rudolf Virchow anlässlich der Eröffnung des Pathologischen Museums der Charité am 27. Juni 1899. Das Museum enthielt zum Zeitpunkt der Einweihung 20 833 Präparate. Darunter eine Reihe siamesischer Zwillinge.

    ~ T e i l   1 ~

    B E R L I N

    L U I S E

    Der Traum von der großen Stadt

    Die Entbindungsanstalt, eingerichtet im ehemaligen Pockenhaus, befand sich in der Dorotheenstraße 31 und war bereits für den Abbruch vorgesehen. Doch vorerst hielt sich das zweiflügelige Gebäude noch auf seinem porös gewordenen Fundament, mit bröckelnder Außenhaut, knarrend und ächzend. Der Bau stand gegenüber der Artillerie-Kaserne und in unmittelbarer Nähe von Finanzministerium, Friedrich-Wilhelms-Universität und Singakademie, war also umrahmt von all dem, was dem preußischen Bürgertum wichtig war: Militär, Geld, Wissenschaft und Kultur.

    Die Nacht hatte den Lärm, der diese Stadt tagsüber beherrschte, in den Hintergrund gedrängt, und abgesehen vom Rauschen des Regens gab es in den Straßen, Hinterhöfen und Gassen fast so etwas wie Stille. In der Entbindungsanstalt war es ausnahmsweise mehr als nur still, man konnte die Mäuse husten hören und das Gurgeln des Wassers in den Leitungen zwischen den Wänden. Die leeren Gänge des Altbaus verliefen sich in einem Dunst aus Düsternis, nur hinter einem Schreibtisch saß im Lichtkegel einer Petroleumlampe eine Nachtschwester und machte eifrig Notizen. An der Wand hinter ihr hing ein zerzauster Kalender. Er zeigte das Jahr 1886. Doch es war nicht der neunte Juni, wie das Kalenderblatt behauptete, sondern bereits der zehnte, denn Mitternacht war schon seit über einer Stunde vorbei.

    Eine junge Frau, ärmlich gekleidet und mit verzweifeltem Blick, schleppte sich durch den Flur. Als sie endlich vor der Nachtschwester stand, reagierte die Pflegerin gelassen. Sie kannte diesen Ausdruck von Hoffnungslosigkeit. Normalerweise wurden Kinder unter der Mithilfe von Hebammen, Verwandten und Nachbarinnen zu Hause zur Welt gebracht. Eine Geburt war etwas Intimes und gehörte in die eigenen vier Wände. So war es immer schon gewesen. In einer Klinik wie dieser zu gebären, galt als anrüchig, unanständig, entehrend. Hierher kam der Pöbel, Ledige aus den Kellerschichten, Prostituierte und Obdachlose, Frauen von den Rändern der Gesellschaft. Doch die Nachtschwester erachtete es als ihre christliche Pflicht, dort zu helfen, wo die Not am größten war.

    »Bitte … ick, ick brauche«, hauchte die junge Frau und fasste sich an den Bauch, »ick brauche ’ne Hebamme. Ick habe det Jefühl, es zerreißt mir.« Ihr Atem ging unregelmäßig, und regennasse Haarsträhnen klebten auf ihrer Stirn.

    Die Schwester schaute sie mit einem warmen Lächeln an. »Ihr Name?«

    »Luise. Luise Emilie Hartwich.«

    Luise hatte einen Traum. Sie sah eine karge Landschaft. Ein Knabe, nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet, schwebte über den dunklen Erdschollen. Langsam kam er näher, doch seine Silhouette verschwamm beinahe im Nebel, der jetzt aus dem feuchten Erdreich aufstieg. Dann teilte er sich entzwei, und aus jeder Hälfte bildete sich ein neuer Knabe. Während der eine sanft lächelte, setzte der andere ein kaltes Grinsen auf.

    Luise schreckte hoch und fröstelte, obwohl es in dieser Augustnacht warm war in der Schlafkammer unter dem Dach. Leise stieg sie aus dem Bett, in dem ihre drei Schwestern immer noch fest schliefen. Sie kleidete sich an, lautlos wie ein Gespenst, und flocht ihr Haar hastig zu einem Zopf. Vorsichtig zog sie ein großes Tuch unter dem Strohsack hervor. Eine ihrer Schwestern seufzte kurz auf, während ihre Brüder, die sich auf dem Schlaflager an der Wand gegenüber drängten, schnarchten. Selbst der Jüngste. Wenn er nicht wisse, wie man richtig schnarche, würde aus ihm nie ein richtiger Mann, hatten ihm die älteren Brüder prophezeit.

    Auf Zehenspitzen suchte Luise ihre wenigen Kleidungsstücke zusammen, auch die Jacke, den Umhang und die Strümpfe für kalte Tage, nahm den Kamm, der kaum noch Zähne hatte, und das kleine Stück Seife, legte alles in das Tuch, band es zusammen und schlich aus dem Dachzimmer. In der Vorratskammer wickelte sie einen Laib Brot, etwas vom geräucherten Speck sowie ein paar Handvoll Dörrobst in einen Jutebeutel, erbärmlich wenig Proviant, um ihr Überleben für mehr als zwei oder drei Tage zu sichern.

    Ohne Wissen ihrer Eltern hatte sie ein paar Mark zusammengespart. Wann immer sie sich vom Hof wegstehlen konnte, war sie hinübergegangen zu der wohlhabenden Witwe, die zurückgezogen auf ihrem Gut lebte. Luise las ihr oft aus Büchern vor, denn das Augenlicht der Witwe war nahe dem Erlöschen. Manchmal hatte ihr die gute Frau ein paar Pfennige in die Hand gedrückt, die das Mädchen unter einer losen Diele versteckte. Nun nahm sie die Barschaft hervor, schob sie in die Tasche ihres Kleides und verließ den Bauernhof ihrer Eltern, ohne sich ein einziges Mal umzudrehen. Hinter dem Horizont wartete Berlin, die Stadt der Hoffnung.

    Der Bauernhof der Hartwichs lag in der Provinz Brandenburg, in der Uckermark, ein Landkeil in Form eines spitzen Hexenhutes, der zwischen Mecklenburg und Pommern steckte und dessen Spitze das Stettiner Haff berührte. Eine dünn besiedelte Gegend mit Wäldern und Seen, mit Steppenrasen, Trockenheiden und Mooren. Schreiadler kreisten über der Ebene oder pirschten auf der Suche nach Fröschen durch die Feuchtgebiete, und Biber zersägten mit ihren Vorderzähnen so manchen Baum, um ihre Holzburgen in einen der zahlreichen Flüsse zu setzen. Luise kannte die Sibirische Glockenblume und das Federgras, die dunkelbraunen, zuweilen blauen Flusskrebse. Und sie hatte auch schon einmal den Blocksberg gesehen, diesen nicht einmal hundertfünfzig Meter hohen Hügel, der sich aus dem weiten Flachland erhob wie ein riesiges Muttermal. Als Kind glaubte sie, dass dort, wo Himmel und Ebene zusammenwuchsen, die Welt zu Ende sei.

    Luises Vater war Bauer, ein Mann mit breiten Händen und schwerem Schritt. Johann Hartwich wusste mit dem Pflug umzugehen, mit den sandigen Böden und mit den Jahreszeiten, auf dem Feld war er zu Hause, in der Stube fühlte er sich eingeengt, sprach kaum ein Wort. Die Mutter, einst ein fröhliches, junges Mädchen, war durch die Härte des Lebens zu einer hageren, verbitterten Frau geworden. Ihre eigentliche Familie waren nunmehr die Heiligen, die Märtyrer und die Erzengel, die Cherubim, die etwas tiefer klassierten Seraphim und was sonst noch so alles im Himmel verkehrte. An den Abenden wurde stets aus der Bibel vorgelesen (was vor allem Luises Brüder ganz spannend fanden, denn da ging es nicht selten um Mord und Totschlag), und an den Sonntagen wurde in der kleinen, katholischen Kirche ausgiebig gebetet, bis sich die Knie taub anfühlten. Die Hartwichs waren eine der wenigen katholischen Familien im beinahe gänzlich protestantischen Norden, was sie zu eigentlichen Außenseitern machte.

    Luise war die Zweitälteste, geboren an einem trüben Tag im Februar 1867, in jenem Jahr, als die Amerikaner dem russischen Zaren Alexander II. Alaska für lächerliche sieben Millionen Dollar abkauften, als Alfred Nobel das Dynamit patentieren ließ und Johann Strauß’ Walzer An der schönen blauen Donau uraufgeführt wurde. Doch von all dem konnte und wollte man in Luises Familie nichts wissen. Walzer war des Teufels, Dynamit unnützes Teufelszeug, und in Alaska wohnten nur ungläubige Teufel. Und so drehte man sich bei den Hartwichs nicht im Dreivierteltakt, sondern lediglich um die eigene Achse. Alltägliches wie Saatkartoffeln und Kartoffelkäfer, Pflug und Hacke, Winterfrost und Sommerglut bestimmten den Lauf der Dinge.

    Luise musste früh zum Lebensunterhalt beitragen, in der Küche, manchmal auch auf dem Feld helfen und die jüngeren Geschwister versorgen. Daneben ging sie zur Schule, ging gern, war wissbegierig und fleißig. Um die sechzig Schüler zählte die Klasse. Wie viel genau es waren, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen, denn immer wieder fehlten Kinder, weil sie bei der Ernte gebraucht wurden oder beim Vieh, und immer wieder starben Kinder an grässlichen Krankheiten, die das Land heimsuchten. Der Lehrer, ein knochendürrer Mann, seine Nase ein kleines Gebirge im Gesicht, sah auf einen aschgrauen Haufen von Schülern, die mehrheitlich holperig buchstabierten und mehrheitlich falsch rechneten. Rotznäsige Knaben mit Dreck in den Ohren, mit schiefen Zähnen und mit löchrigen Sohlen unter ihren Schuhen. Mädchen mit fleckigen Schleifen im Haar oder um ihre Zöpfe, in geflickten Schürzenkleidern und mit ausgeleierten Wollstrümpfen. Luise war gescheit, das fiel sogar dem Lehrer auf, was in diesem Dickicht von Kinderköpfen nicht selbstverständlich war. Nur dass sie Linkshänderin war, gefiel ihm ganz und gar nicht.

    Mit dem vierzehnten Lebensjahr war alles vorbei. Die überaus wichtigen Herren Politiker mit ihren bauschigen Schnurrbärten und in ihren schwarzen Totengräber-Anzügen schlugen den Mädchen die Türen zur weiteren Bildung zu.

    Luises Mutter fand, es reiche, wenn ihre Tochter die Bibel lesen könne. Wenn die Zeit reif sei, würde sie einen Bauernburschen heiraten, einen katholischen natürlich, und im Haus den Rücken krumm machen und in der Kammer die Beine breit, um sich zu mehren, wie es in der Bibel heißt, und sie würde Gott loben und preisen und in seinem Namen sterben. Amen.

    An Luise Hartwich gingen die Jahre vorbei, sie kam in die Pubertät, ohne dass sie darauf vorbereitet gewesen wäre, und wurde zur jungen Frau, ohne dass jemand Notiz davon genommen hätte. Nicht einmal sie selbst. Als sie sechzehn war, nahm sie ihr Vater mit auf die Wochenmärkte. Früh am Morgen, der Hahn schlief noch im Hühnergehege, wurde der altersschwache Ackergaul – ausgemergelt wie ein hungriger Wolf im sibirischen Winter und auf einem Auge blind – vor den Karren gespannt, dessen eisenbeschlagene Räder einen wüsten Lärm veranstalteten und seit langem nicht mehr rund liefen. Nur langsam, holpernd und scheppernd, ging es vorwärts, und es war ein Wunder, dass sie jedes Mal heil mit ihrer Ware am Ziel ankamen. Zum Glück war die Uckermark flach wie eine aufgefaltete Landkarte, sonst hätten Wagen und Gaul bald schlappgemacht.

    Die Wochenmärkte waren unorganisierte Knäuel aus abgetakelten Fuhrwerken und improvisierten Verkaufsständen, Flechtware, Bottiche und Kisten türmten sich, das Federvieh gackerte und die Schindmähren schnaubten. Ein umtriebiges Völkchen versammelte sich dort, und als Krönung pries der Herr Kurpfuscher in seinem schmutzigen Kittel, mit dem fettigen Haar und dem schmierigen Gehabe, das weltbeste aller Wunderelixiere an, euphorisch, als wär’s die letzte Jungfrau auf Gottes Erden. Ein Allheilmittel, das allerdings nicht einmal gegen Wanzenbisse half.

    Bei jedem Wetter stand Luise mit ihrem unwiderstehlichen Lächeln am Marktstand ihres Vaters. Sie war zu einer Schönheit herangewachsen, was ihr selbst zunächst gar nicht bewusst war. Bei den Hartwichs hingen keine Spiegel. Erst als die jungen Burschen begannen, um sie herumzuscharwenzeln, und sie zum Tanz baten oder mit ihr spazierengehen wollten, wurde ihr klar, dass etwas an ihrem Äußeren war, das dem anderen Geschlecht gefiel. Nur, für Luise gab es keine munteren Tänze, keine Volksfeste und keine Spaziergänge unter lauschigen Linden. Mutter sagte, Tanzen und ähnliche Vergnügen seien nichts für anständige Mädchen.

    Trotz allem hatten die tristen Jahre im freudlosen und bigotten Elternhaus Luise nicht stauchen können. Sie war froh über die Marktfahrerei, die sie aus der Gleichförmigkeit ihres Lebens riss, wurde offener und entwickelte eine ansteckende Lebenslust. Ihr Selbstvertrauen und ihre Zuversicht wuchsen, ihrem vermeintlich vorgezeichneten Lebensweg womöglich doch noch eine andere Richtung geben zu können.

    In jener Nacht, als die Siebzehnjährige den elterlichen Hof verließ, hatte sie nichts im Kopf außer einem Namen, einer Vision, einem Traum: Berlin. Zwar kannte sie dort keine Menschenseele – bei den engstirnigen Hartwichs pflegte man keinerlei Beziehungen. Und auch die reiche Witwe konnte ihr keine Unterstützung bieten. Schon zu lange lebte sie zurückgezogen in ihrer Oase abseits der großen Veränderungen, und was sie zu erzählen hatte, waren nichts weiter als Anekdoten aus einer weit zurückliegenden Zeit. Doch das alles schreckte Luise nicht. In Berlin, das wusste sie, pulsierte das Leben. Und sie verlangte nicht viel. Nur ein winzig kleines Stückchen Glück.

    F A B R I K E N

    Schornsteine, Kamine, Schlote und Firmenschilder

    Im Jahr eins des 19. Jahrhunderts gab es in Berlin eine einzige Maschinenfabrik, die ganze vier Arbeiter beschäftigte. Während in England und Frankreich bereits die Schornsteine qualmten, döste die Stadt an der Spree noch vor sich hin. Doch das Knattern und Kesseln des europäischen Fortschritts wurde immer lauter, und schon bald wucherten auch in Berlin die Fabrikschlote in den Himmel und spuckten Dampf und Rauch aus. Immer mehr puffte es aus allen Rohren, und die schwarzgrauen Zeichen der Zivilisation nieselten als rußiger und klebriger Nebel über die Stadt. Feuerland und Birmingham der Mark wurden die Industriegebiete am nördlichen Stadtrand hinter dem Oranienburger Tor genannt. In der Mörderhitze der Hochöfen und in den stumpfen Werkhallen schufteten ganze Armeen von Arbeitern und legten Hand an, damit das Deutsche Reich nie wieder zum Stillstand kommen solle. Lokomotiven und Eisenbahnwaggons, Ventilatoren, Kreiselpumpen, Dampfkräne und Dampframmen, Bergwerks- und Fördermaschinen, Schwingpflüge, Minen, Torpedos und Gewehre verließen die Fabriken mit einer Geschwindigkeit, wie andernorts Rüben aus dem Boden gezogen wurden. Der Hunger auf billige Arbeitskräfte war groß, und die ländlichen Gebiete versorgten die Großstadt zuverlässig mit Kartoffeln, Obst, Gemüse, Eiern und jeder Menge jungen Fleisches.

    Fabrik hieß das Zauberwort der Zeit, es versprach Wohlstand und Fortschritt. Die Namen der Fabrikanten hatten mehr Klang als jene des alten Adels, rochen nicht mehr nach dem Staub der Geschichte, sondern nach Dynamik und Veränderung. Eine Welle von beherztem Unternehmertum hatte die Hauptstadt ergriffen. Immer mehr Firmenschilder klebten an den Fassaden, um in fröhlichen Lettern den Anbeginn einer neuen, glorreichen Epoche zu verkünden, und kein Geschäft war zu klein, um sich nicht stolz Fabrik zu nennen.

    Da gab es die großen Fabriken, deren Namen so roh klangen wie der Lärm, der durch ihre Mauern drang: Maschinen- und Waggonbau-Fabrik, Eisengießerei und Maschinenfabrik, Artillerie-Werkstätten und Gewehrfabrik. Und da gab es die kleinen Fabriken, die ihren Firmensitz oft in einem stickigen Schuppen oder einem verwinkelten Hinterhof hatten. So etwa die Blusen und Rock Fabrik, in der sich sechs Frauen für ein Butterbrot die Finger wund nähten. Oder die Wurst-Fabrik, bestehend aus vier kräftigen Oberarmen (Meister und Metzgergeselle) und einer halben Portion (Lehrling). Über dem Ladenlokal der Strumpfwaren & Trikotagen Fabrik hing ein besonders schönes Schild. Der Familienbetrieb gehörte einer geschäftstüchtigen Matrone, die drei Mitarbeiterinnen beschäftigte, alle drei ihre Töchter und alle drei minderjährig. Man musste zusehen, wie man über die Runden kam, nachdem sich der Vater dünnegemacht hatte, dieser Schuft.

    Jene, die weder in den großen noch in den kleinen Fabriken unterkamen, nähten in der Enge ihrer Stuben für ein paar Pfennige Mäntel, immer unter Druck, damit sie die Raten für die teuren Nähmaschinen bezahlen konnten. Oder sie fertigten Ballonmützen, Damenhüte, Uhrketten, billigen Schmuck, Stoffblumen und anderen Tand. Eine Ära der Eitelkeiten war angebrochen, und man konnte beinahe alles verkaufen, was den Menschen ein wenig ansehnlicher machte.

    Während die Mädchen Socken im Akkord strickten oder in den Textilfabriken an den rumpelnden Maschinen standen, krochen die Knaben durch die Maulwurfgänge in den Kohlengruben und Minen, verdingten sich als Laufburschen oder Stalljungen, versuchten den Passanten irgendwelchen Kram aufzuschwatzen oder stahlen, was das Zeug hielt.

    In Berlin drehten sich die Räder immer schneller, die Stadt wurde fetter und fetter, ein unersättliches Weib, das aus dem Korsett zu platzen drohte. Obwohl längst der Kollaps drohte, drängten immer mehr Zuwanderer vom Land in dieses dampfende und schnaubende Ungetier. Im Eilzugstempo wurden Mietskasernen aus dem Boden gestampft, Geschoss um Geschoss wurde aufeinandergeschichtet, Wohnkomplex an Wohnkomplex gereiht, massig und grau wie Berge. Wohnfabriken ohne Luft und Licht, ein einziger Irrgarten aus Hinterhöfen – erster Hof, zweiter Hof, dritter Hof, vierter Hof, durchnummeriert wie Soldaten beim morgendlichen Abzählen. Die Armut zog in die Mietskasernen, und ihr Geruch klammerte sich an die Wände und ließ sie nicht mehr los.

    Trockenwohner zogen mit ihrer armseligen Habe in feuchte Neubauwohnungen, bis diese für reichere Leute bewohnbar waren. Sie blieben nie lange, jene, die eigentlich Feuchtwohner heißen sollten, schauten sich bald nach dem Einzug wieder nach was Neuem um, das noch nass und billig war. Zehntausende hatten gar kein Obdach, verkrochen sich in elenden Kellerwohnungen oder teilten sich die Flohkiste mit einem anderen armen Schlucker. Arbeiten im Sechzehnstundentakt. Schlafen in Schichten.

    Das Bürgertum schlief gut in jenen Zeiten.

    D I E   E I S E N B A H N

    Billetts, Gepäck und der Komfort

    der Preußischen Staatsbahn

    Es war heiß, als Luise Richtung Südwesten unterwegs war. Am wolkenlosen Himmel loderte die Sonne mit einer solchen Intensität, als wollte sie ganz Brandenburg in Flammen setzen. Stunden über Stunden folgte die junge Frau den Landstraßen, die sich an Feldern vorbeischlängelten, auf denen sich Bauern und Tagelöhner unter der sengenden Sonne abplagten, sie durchquerte verschlafene Dörfer, in denen die Zeit rückwärts ging, und kam an Kirchen vorbei, deren Turmspitzen in Richtung Paradies zeigten, einen Ort, der unendlich weit weg lag von jeglicher irdischen Realität und von dem man, wie Luise vermutete, nicht mit letzter Sicherheit sagen konnte, ob er auch wirklich existierte.

    Als sich die Sonne gegen den Nachmittag schob, kam sie kaum noch vorwärts. Die bleierne Glut setzte ihr zu. Der mehlige Staub von den Schotterstraßen hing in ihrer Kleidung und in ihrem Haar, sie glich einer Siedlerin, die seit Wochen auf einem Planwagen unterwegs war, nichts vor sich als die unendliche knochentrockene Weite des Westens und der abgemagerte Hintern ihres Pferdes. Sie fühlte sich ausgelaugt und entschloss sich, den Rest der Strecke mit der Eisenbahn zu fahren.

    Sie wusste nicht genau, wo sie sich befand, wahrscheinlich hatte sie auch ein paar Umwege gemacht, und deshalb erkundigte sie sich bei einem verfilzten Etwas von schätzungsweise neun Jahren, ob es hier in der Nähe einen Bahnhof gebe. Der Bengel zeigte mit seinem hageren Ärmchen nach Süden und kratzte sich mit dem anderen eine Laus aus dem wirren Haar. »Da runter musste jehn. Da is der Mündesee,

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