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shush shalom: Rabbi Elis erster Fall
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eBook313 Seiten3 Stunden

shush shalom: Rabbi Elis erster Fall

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Über dieses E-Book

Vergeblich ringt Rabbi Elisheva (Eli) – Rabbinerin der Synagoge – um Anerkennung für das Reformjudentum. Nicht nur bei den orthodoxen und streng religiösen Gemeinden, auch in den eigenen Reihen kann Eli es den Mitgliedern der Jüdischen Progressiven Gemeinde kaum recht machen. Der Gottesdienst verkommt zum Sammelbecken für selbstgefällige Konvertiten, Klagemauerfeministen, Kabbala-Yogis und frohlockende OrgelKlezmer. Vermehrt zieht sich Eli zurück in den geheimen Umkleideraum der Synagoge, wo sie bei Gesprächen mit Gott und einer Flasche Manischewitz gegen ihr drohendes Burnout ankämpft. Dann geschieht das Unvorstellbare: ein Selbstmordanschlag direkt vor der Synagoge. Als Attentäterin identifizieren die Ermittler eine israelische Transfrau. Rabbi Eli macht sich ihre eigenen Gedanken und entscheidet, selbst nach den
Drahtziehern des Anschlags zu forschen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Feb. 2024
ISBN9783907339794
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    Buchvorschau

    shush shalom - Marianne Feder

    PROLOG

    Anfang Februar hielt ein Eurocity-Zug am Hauptbahnhof Zürich. Unter den Reisenden befand sich ein junger Mann, lange schwarze Haare, Bart, braune Augen. Er stieg aus und schritt in die Bahnhofshalle, in der linken Hand einen Koffer, in der rechten ein Smartphone.

    Januk Mai, Beauftragter für die Sicherheit der jüdischen Reformgemeinde, beobachtete aus seinem Versteck hinter einem Imbissstand, wie der Reisende das Landesmuseum mithilfe der Anweisungen auf seinem Telefon ansteuerte. Mai liess seinen Kaffee stehen und folgte ihm.

    Für die Teilnahme am Kurs hatte der Ankömmling mit besten Hebräisch Kenntnissen ein achtköpfiges Vorstandsgremium davon überzeugt, dass er am Ende des Seminars vor dem Rat in Genf seine Prüfung problemlos ablegen würde. Mai, sein Beschatter, hatte das Dossier im Darknet gelöscht und die Eckdaten verinnerlicht. Im Gegensatz zu den meisten männlichen Kursteilnehmern musste für den Kandidaten keine religiöse Beschneidung beantragt werden.

    Der Mann trug am ganzen Körper Narben, die ihm nach eigenen Aussagen an einer jihadistischen Denkschule im Kalifat von sunnitischen IS-Extremisten zugefügt worden waren, weshalb er psychisch instabil war und an Traumafolgestörungen litt. Sein Gesicht war auf Erkennungsvideos nicht mehr eindeutig identifizierbar, denn sein früher von Unterernährung gezeichneter Körper hatte nach seiner Ankunft in Deutschland deutlich an Gewicht zugelegt, vielleicht die Folge einer medikamentösen Behandlung. Die Gewichtszunahme mochte auch der Grund sein, warum der Mann vergeblich versucht hatte, einen silbernen Fingerring an der rechten Hand abzustreifen, wie Mai auf Überwachungsaufnahmen gesehen hatte. Für das Ritualbad in der Communauté Juive Libérale in Biel musste jeglicher Schmuck abgelegt werden. Mai vermutete, dass er den Ring versteckt mit ins Bad nehmen würde.

    Einheimische Schleuser hatten den Mann inzwischen zum Museum für Gestaltung eskortiert und steuerten ihn weiter zum Therapiezentrum an der Ausstellungsstrasse, wo reger Betrieb herrschte. Ohne den Eintrittsknopf zu betätigen, erhielt er Einlass in das Bienenhaus von Studierenden der Erwachsenenbildung. Am Montag würde ihn ein Fachlehrer als Austauschvolontär der pädagogischen Hochschule vorstellen – in einem Teamzimmer, wo Verköstigung auf Glaskeramikplatten, Nespresso aus Kapselmaschinen, Wasserkocher für Edelteesorten, ein prall gefüllter Kühlschrank, Handtaschen voller Bargeld, Laptops, Papier, Kopiergeräte und Telefonanschlüsse zu seiner Verfügung stehen würden. Die Infrastruktur eines gesamten griechischen Flüchtlingslagers kam mit weniger Luxus aus. Tagsüber würde sich der Mann hier ernähren, waschen, in der Turnhalle auf Matten ausruhen und sich über Wasser halten, bis sein Status als vorläufig Aufgenommener aufgegleist war. Über Wasser halten; die Kernkompetenz der Überlebenden Tausender gekenterter Boote auf dem Mittelmeer. Sein Nachtlager würde der Fussboden eines Materialkastens an der Ausstellungsstrasse sein, wo er seinen vernarbten Körper zur Ruhe legen konnte. Für einen Nichtschwimmer im Vergleich zum Levantinischen Becken mit einer Tiefe bis viertausend Meter ein Aufstieg.

    Januk Mai überprüfte das Bild des Koffers auf dem Speicher seines Handys, bevor er seine Schritte zur Tramhaltestelle lenkte.

    Kapitel 1

    «Schabbat Schalom.»

    «Shutupschalom.»

    «Bitte?»

    «Schabbat Schalom.»

    «Nein, Nebbech, du sagtest shut up Schalom statt Schabbat Schalom.» Adina Schimmelzweigs Zeigefinger wackelte wie ein gefillter Fisch und zeigte auf Jossi Meir.

    «Shush, a bissel Rue! Schabbat Schalom. Shut up Schalom würde ich nicht sagen, ich spreche kein Englisch.»

    «Jetzt hast du es wieder gesagt.»

    «Was?» Fragte Jossi Meir genervt.

    «Shut up!»

    «Was soll das?!» Ein weiterer Besucher in den hinteren Reihen mischte sich empört ein.

    «Ich habe bloss darauf hingewiesen, dass er shut up gesagt hat, und das an einem Feiertag – und jetzt shut up, ich bin für den Gottesdienst hergekommen!»

    «Jetzt hat sie es gesagt!»

    «Was soll sie gesagt haben?» Der alte Hyman, der eine Reihe hinter ihnen Platz genommen hatte, schraubte mit zittrigen Händen an einem seiner zwei Hörgeräte.

    «Er sagte shut up!», gab Schimmelzweig laut zurück.

    «Are you stupid?» Das war Roberta vom Englisch Senioren Kurs.

    «If I am stupid, I’m running for President.» Hymans Gerät funktionierte wieder tadellos.

    «Shush Shalom, das nenne ich gelebtes Judentum.» Rabbi Eli, vertraut mit der Stimmung, wenn die Gemeinde in den Talmud-Modus schaltete und Fragende aktiv wurden mit Gegenfragen, sagte es stoisch und steuerte mit der Miene eines Logenbruders die Hintertür an.

    Von der Vorratskammer in der anliegenden Küche führte eine weitere, unsichtbare Schiebetüre zur Kammer. Die Luft war rein. Der strenge Minzer, zuständig für Kiddusch und Catering, war vor ein paar Minuten seine Tupperware umarmend und mit der Lieblingsrauchware seines Idols Arnold Schwarzenegger, gross genug, um ihn noch im Mundwinkel festzuklemmen, beim Parkplatz neben der Gemeinde gesehen worden.

    Das Versteck ging auf den Vorgänger eines Vorgängers zurück, der darin den Umkleideraum für das Purimfest eingerichtet hatte. Ein museales Spiegeltischchen, Schmattes und Geschmäus an rostgoldenen Kleiderstangen schmückten die fensterlose Garderobe, die seit Beginn ihrer Existenz ohne Tageslicht ausgekommen war. «It fell from a truck», hatte Elis Vater, möge er in Frieden ruhen, immer gesagt bei Geschenken, deren Preis er nicht verraten wollte.

    Hier lagerte das Manuskript des ersten Gebetsbuches der Jüdisch Progressiven Gemeinde, Zeuge einer verflossenen Zeit, in der im Laufe der Jahre im Vierjahrestakt ein neuer Gemeindepräsident und drei Rabbiner ihr Amt innehatten. In der Gründerzeit waren es die Mitglieder selbst gewesen, welche die Gottesdienste geleitet hatten, weil kein liberaler Rebbe gefunden worden war. Das waren die besten aller Zeiten gewesen, sagten die Zeitzeugen. Es war die Geburtsstunde der ersten Zeremonie für Mädchen gewesen, die nun zur Bat-Mizwa Zugang hatten. Männer und Frauen lasen dank dieser couragierten Gründergeneration heute gleichberechtigt den Wochenabschnitt aus der Thora.

    Für Rabbi Eli zählte allerdings vor allem, dass sich keiner mehr an die Besenkammer zurückbesinnen konnte. Die Attrappe gab beim leichtesten Druck nach. Kannte man die richtige Stelle hinter dem Kühlschrank, liess sie sich zur Seite schieben. Ein Spalt und man konnte ungesehen ein- und ausgehen. Die Gründer waren zwar noch lange nicht ausgestorben, aber zunehmend demenzielle Erkrankungen hatte vielen von ihnen die Erinnerungen an solche Schatzkammern weggewischt.

    Jetzt folgte der Moment der wohlverdienten Prophylaxe, ein Zehn-Minuten-Nickerchen, denn die Anfangsgebete, der erste Teil des Schacharit, waren Gesänge, Gebete und Psalmen, die Elis späteren Auftritt einstimmten. Eli verglich sie mit dem Support Act am Rockkonzert – nicht so laut, aber sie dankten laut genug. Dankten dem Ewigen mit Musik und Singen für seine Liebe und Treue. Sagten ihm, wie glücklich er sie macht und wie beeindruckt sie sind von allem, was er geschaffen hat. Gerade stimmte die Gemeinde in den gemeinsamen Gesang ein. Das ging ohne Anwesenheit der geistlichen Obrigkeit. Im zweiten Teil des Gottesdienstes, im Aufruf zum Gebet, standen die Vorbeter und die Anwesenden auf und priesen den Allmächtigen abwechselnd für immer und ewig! Rabbi Eli wünschte, der heutige Power-Nap würde für immer und ewig dauern! Aber leider rief die Pflicht, die Schicht begann ja gerade erst.

    Gemeindemitglied Jossi Meir hatte an der letzten Generalversammlung bissig bemerkt, dass bei Rabbi Eli nur am Schluss des Gottesdienstes auf die Zeit geschaut werde, dafür umso pünktlicher. Der Mann hatte recht, Abgrenzung war das Zauberwort. Deshalb wurde der Junge mit der Schalmei engagiert, um den Gottesdienst auszuweiten, ohne Zeit zu überziehen und ohne spirituelle Energie zu vergeuden. Zu den Lückenfüllern für das Intro und für die Pausen kamen sporadisch die Organistin Klothilde Salathé zum Zug und beim Schma war Eli wieder zuständig. Das mochte einigen nicht in den Kram passen, in einer Gemeinde, bei der die Mitgliederzahl kontinuierlich schrumpfte, sodass sie bald mehr Leute bei der Sicherheit auf der Strasse draussen zählten als in der Synagoge selbst. Ja, die Zukunft ist nicht mehr, was sie mal war. Aron, Vorsitzender der Friedhofkommission hatte schon lange darauf hingewiesen: «Der Friedhof wird eines Tages unsere einzige Startup-Firma und garantiert rentiert er noch morgen, a zissene Zeijt wird unser Friedhof noch rentieren.»

    Eine Mechaje, noch ein Weilchen allein mit Gott im geschützten Raum pausieren und verhandeln zu dürfen. Ist es ein Burn-out?

    Es hatte damit begonnen, dass der Auftritt vor der Gemeinde am Schabbes keine Freude mehr bereitete. Auch andere Anlässe, die hohen Feiertage, die Lerntage, die Ehrensymposien wirkten fad, verschwanden in einer Nebelsuppe. So, wie das Kaddisch das Schma von der Amida trennte, schien sich leise und unbemerkt eine Wand zwischen Eli und die Gemeindemitglieder geschoben zu haben – hauchdünn, subtil und verstörend.

    Auch das Rauchen mit Gott brachte keine Entspannung mehr. Als aus dem Büstenhalter eines Purimkostüms zwei Kippas entstanden waren, selbst gebastelte Judenchäppli würden es die Goyim nennen, zwei für eins, für Zwillinge geeignet, hatte sich Rabbi Eli eingestanden, ganug is’ ganug.

    Ein erstes Schlückchen Manischewitz, das dickflüssige kleine Helferchen, bekannt als the slowest pouring wine in the world, half dagegen am Samstagmorgen alleweil, um moralisch über die Runden zu kommen. Auch die Flasche stand seit der Gründerzeit hier. Lechajim, to live! To Eli! Jüdisch, liberal und ausgebrannt.

    Ein ohrenbetäubender Knall zerriss die Luft in dem Augenblick, als Eli die Flasche jüdischen Weins entkorkte. Das absurde Zusammentreffen zwischen dem Knall und dem gezogenen Korken, erinnerte an den New Yorker Blackout in Rego Parks, als Schlemihl, das jüngste Mitglied der Familie, auf den toten Fernsehkasten geschlagen hatte und die Lichter in der City ausgegangen waren. Sie hatten gedacht, sie, die auserwählten Belzman-Geschwister hätten gerade die Jahrhundertfinsternis in der Millionenstadt verursacht.

    Der Gesang des Gottesdienstes drang fröhlich weiter in die Küche, begleitet vom Röcheln der Schalmei. Taten die Besucher den durchdringenden Knall als Bubenstreich ab? Oder hatten die Schalmei und die Kinderrätschen den Knall im schallgedämpften Raum übertönt?

    Eli schlug den Gebetsschal um den Hals, schob die Attrappe hinter sich zu und hastete durch die Halle, um ins Freie zu gelangen. Durch die Eingangsfenster konnte man sehen, wo die Wucht der Erschütterung Schaden hinterlassen hatte. Januk vom Sicherheitsdienst war heute allein und beugte sich über ein Bündel aus Körperteilen und Lumpen auf der Einfahrt im Aussenbereich, nicht weit vom Gemeindegebäude entfernt. Durch den akustischen Schock des Knalls ausgelöst, folgten noch kleine Erschütterungen nach.

    Der Geruch von verbranntem Fleisch schien an Januk abzuprallen. Er richtete seinen durchtrainierten Körper auf und entfernte sich rückwärts, beide Hände schützend auf die Ohren gelegt, wie um einer Trommelfellverletzung durch weitere Detonationen vorzubeugen.

    «Message an Notrufzentrale, ein oder mehrere Notruftaster von Geräten funktionieren nicht. Bitte überprüfen Rufzyklen an Sicherheitsbeauftragte. Alarmmitteilung. Wiederhole. Zusammenschalten Konferenz, Alarmmitteilung.»

    Zu Eli gewandt befahl er mit der Stimme eines Oberbefehlshabers: «Geh in den Saal und mach auf Gottesdienst, Notfall-Lift einleiten, Gefahr wegen Gruppenpanik vermeiden. Keine Gaffer bitte, nach einem Arzt Ausschau halten und keinen ausser diesen zu mir rausschicken. Die Kinder haben mit den Rätschen gespielt im Saal, so haben sie nichts von dem Vorfall mitbekommen. Sondereinsatz unterwegs.»

    «Hirlemann, Kaufmann sind die heute anwesend?»

    «Nein, nur die Tierärztin, sie muss noch drinnen sein.»

    Eli verschwand hinter der Tür und tauchte in den Singsang ein.

    «Frau Doktor, ein Anruf für sie», raunte sie Maya Bollag ins Ohr.

    «Braucht es wieder einen von der Ersatzbank», spottete Adina Schimmelzweig, als die Tierärztin an ihr vorbeihuschte.

    «Ist meinem Januk etwas zugestossen?» Die weinerliche Stimme von Margie Miller ertönte hinter einer Säule. Eli musste sie nicht sehen, um die Sensoren für ungute Vorahnungen der typischen Überlebenden zu erkennen. Januk hätte ihr normalerweise bereits ein Taxi bestellt und der Fahrer sie bis vor die Haustür begleitet. Aber heute war nicht normalerweise.

    «Bar’chu et Adonai ham’vorach.» Das war Jackie, langjähriges Mitglied, die für die erste Alia aufgerufen worden war.

    «Baruch Adonai ham’vorach l’oam va-ed.» Gab die Gemeinde zurück.

    Es folgten Lob und Danksagungen, bevor Eli nach vorne trat, wartend in den Gebetssaal blickte und das Ruder übernahm. Ein Mobiltelefon klingelte. Konnte so eine weitere Bombe gezündet werden?

    «Falls der Anruf für mich ist, ich bin noch am Beten.»

    Lachen, begleitet von Kurbeln und Knarren der Holzratschen und Kreischen der Kinder.

    «Mosche sagt den Kindern Israel am Berg Sinai, dass der ewige Gott einzig ist, ein Wunder! Wir sollen ihn aus ganzem Herzen lieben», und falls heute die Thora ausgehoben wird, dann grenzt das an ein noch sehr viel grösseres Wunder. Lieber jetzt die Gemeinde um Entschuldigung bitten mit, ‘es habe draussen einen medizinischen Vorfall gegeben, man möchte heute ein Auge zudrücken und als eine Art Probealarm den Schabbes Lift und den Notausgang ausprobieren’.

    «Schabbat Schalom.»

    Raunen. Wer hatte alles den Aufruf zur Thora erhalten? Frau Minzer, Aron von der Friedhof Kommission, die Müller, der Schalmeien-Simon? Eli registrierte eine Handvoll Teilnehmende der Schulkommission und begann die Kinder zu zählen. Wie sollte man diesen erklären, was da draussen vorgefallen war? Ein Glück, dass der Saal nur zur Hälfte besetzt gewesen war, zwei unbekannte Durchreisende aus London; hatte Januk diese erfasst? Die Zusammenfassung des Textes für auswärtige Besucher in englischer Sprache lag noch unter der Bima. Einem bärtigen Besucher befahl Eli die Thora nicht auszuheben und sich an der Tür zu positionieren. Neben ihm stand Karl, noch ein Auswärtiger, welcher der Jews for Bethlehem Bewegung angehörte.

    «Du bleibst hier, bis ich es dir anders sage! Lass niemanden raus, der Gottesdienst wird länger dauern.»

    «Klar.»

    «Wo ist der Präsident?»

    «Im Urlaub, wir haben ihn und den Vorstand benachrichtigt, sie haben bereits durch die Presse vom Anschlag erfahren.»

    Januk hetzte an ihr vorbei Richtung Ausgang. Presse? Wer könnte die Presse eingeweiht haben? Der Unfall war doch gerade erst geschehen. Ein vorbeifahrender Gaffer? Einer, der sich an einem freien Tag in einem der umliegenden Büros aufhielt?

    Elis Erinnerungen an die Evakuierungspläne für den Aussenbereich waren verblasst, obwohl die Gemeinde vor dem Chanukka-Fest im Dezember noch geübt hatte. Mitglieder, die damals instruiert worden waren, während des Gottesdienstes ihre Handys auszuschalten, schauten bestimmt nicht immer ins Gebetsbuch, sondern checkten rege ihre E-Mails. Wenn nur ein einziger Gast Wind bekommen hatte, könnte die Nachricht an die Presse von der Gemeinde aus viral gegangen sein. Dabei müssten im Worst-Case-Szenario längst die Stadtpolizei und die Spezialeinheiten der Terrorbekämpfung auf der Matte stehen.

    Januk rapportierte, es fahre ein Krankenwagen, gefolgt von weiteren Polizeiwagen ein. Bereits stand ein schützendes Zelt über dem toten Körper, an der Stelle, wo beim Laubhüttenfest im Herbst die Sukkot aufgebaut wurde, die provisorische Behausung mit denen die Juden an den Auszug aus Ägypten erinnern. Kameras klickten, Beamte wiesen eine Gruppe Schaulustiger weg.

    Kapitel 2

    Für den heutigen Tatort hatte Kommissar Künzli keine Zeit gefunden, sich vor einem Spiegel herzurichten. Es war das erste Mal, dass sich ihm eine Gelegenheit bot, seine Plan-B-Garderobe bei Tageslicht zu begutachten. Der Anblick war niederschmetternd. Er straffte sich. «Was machst du für eine Gattung Künzli! In diesem Tenue kannst du dich für einen Pflanzblätz im Schrebergarten bewerben.» Die innere Stimme gehörte der Frau, die ihm Ende Januar genommen worden war. Vom Knopf, den es weggejagt hatte, als er sich vor einer Stunde zu einem leblosen Körper hinuntergebückt hatte, waren noch ein paar zerrissene Fäden zurückgeblieben. Es war der allererste Knopf gewesen, den er für sich selbst angenäht hatte. Schade, dass er so spät entdeckt hatte, wie gut Handarbeit mit Selbstfürsorge zusammengeht. Fast meditativ hatte er den Vorgang dreimal wiederholt, da ihm zuerst entgangen war, dass Hosenknöpfe unterschiedliche Breiten und Höhen haben. Ausserdem nähte er die Hose beim ersten Versuch aus Versehen ans Tischtuch, beim zweiten Durchgang nähte er sie zu. Ein diplomierter Sondertrottel! Hätte er den Ersatzknopf geprüft und ihn vor der Operation zuerst durch das vorhandene Knopfloch geführt, hätte er eine Menge Zeit sparen können.

    Sein Blick fiel jetzt auf den schneeweissen Bart! Sollte er ablenken vom Gesamteindruck? Auf Empfehlung des Kasernenfriseurs hatte er sich mit einem Bart vor Weihnachten eine optische Aufwertung erhofft. Sein Glück war, dass er für sein Alter einen starken Haarwuchs hatte – ebenfalls schneeweiss. Da ist vielleicht Schnee auf dem Dach, aber der Ofen ist noch heiss, ermutigte er sich. Im Gegensatz zu den geschniegelten Sicherheitsleuten und Türstehern im Untergeschoss legte ein Rabbiner bestimmt nicht viel Wert auf das Äussere, die Juden trugen auch Haar im Gesicht. Künzli kannte sie vom Sehen her. Zürich Wiedikon. Dresscode Polen Jahrhundertwende. Er zog ein Tablet hervor, in dem er Stichworte zu laufenden Fällen festhielt, die dann zu Verlaufsnotizen wurden, um in neuen Arbeitsaufträgen erfasst zu werden. Er tippte mit zwei Zeigefingern, da er das Zehnfingersystem nie erlernt hatte, obwohl die Lehrer einer Berufswahlschule versuchten, es ihm einzutrichtern – damals auf einer Schreibmaschine. Seine beiden Zeigefinger hüpften flink und lautlos über die Tastatur.

    Viel lieber als mit den Zeigefingern hätte er mit Mittelfingern gearbeitet und beide tüchtig bei seinen Vorgesetzten, dem Stv. Felix Röschti und dem anderen Halunken Kommandant Bill in die Luft gestreckt. Die Arbeit stresste ihn. Im Stau stehen, ethnischen Minderheiten hinterherrennen, um nicht kompensierbare Überzeit anzuhäufen und obendrauf das verdammte Mitarbeitergespräch gestern. Bills scharfer Hund Röschti hatte von ihm verlangt, dass er sich einmal wöchentlich bei ihm mit einem Arbeitsprotokoll meldet, seit er die neuen Räumlichkeiten im Keller, in denen sie ohne Tageslicht auskommen mussten, beanstandet hatte. Sein letztes Mitarbeitergespräch vor der Pensionierung, hoffte Künzli. Wegen interner Evaluationen waren sämtliche Abteilungen von der Beurteilung sehr gut auf gut, oder von gut auf genügend herabgestuft worden, lohnwirksam, versteht sich. Im Glanzprospekt durften sie dann den Kopf herhalten. ‘Routiniert, professionell, kompetent’, hiess es auf der Website, auf der in Videoclips die Stadtpolizei in einzelnen Porträts vorgestellt wurde, für die sich keiner freiwillig meldete. Künzli riskierte noch einen Blick in den Spiegel. Routiniert, professionell, korpulent.

    Seine Augen wanderten über ein Bücherregal. Israeli and Palestinian Identities in Dialogue, the School for Peace Approach. Neben einem Gebetsbuch stand ein Ordner von Hand beschriftet mit Kinder Haggadah. Kinder gingen hier offensichtlich auch ein und aus, nicht nur Tierärzte oder Sicherheitsdienste. Künzli schaute auf seine Armbanduhr. Der Rabbiner das Phantom. Ein Beauftragter für Sicherheitsvorkehrungen namens Mai hatte angeboten, eine Mitarbeiterin raufzuschicken mit Kaffee und Wasser, aber er hatte abgelehnt. Er stellte sich an das einzige Fenster im Raum und blickte an die Fassade des gegenüberliegenden Hauses. Im Hof packte der Notfallarzt seinen Koffer. Wegen der Absperrungen war es glücklicherweise sehr ruhig im Viertel, was auch dem schlechten Wetter zu danken war.

    Künzli fragte sich, wie die Juden ein Gebäude mitten in einem Wohnquartier effizient schützen wollten. Die Stadtpolizei hatte lange gewarnt, dass die Frage nicht sei, ob ein Terroranschlag geschieht, sondern wann. Er hatte vor seiner Beförderung beim Ermittlungsdienst haufenweise Notfallpläne gelesen für den Umgang mit einem Amoklauf, hatte Fachleute besucht, die für Care-Teams geschult wurden. Lehrpersonen waren instruiert worden, in Kürze Erste-Hilfe-Poster an die Fenster der Obergeschosse zu kleben, Kinder durch Notausgänge zu schleusen, sich in Schränken einzuschliessen und sich mit hochgezogenen Beinen auf Toiletten zu setzen. Im Vorfeld der Übungen des nationalen Sicherheitsverbundes hatten die Verantwortlichen des Bundes gewarnt, in der Schweiz würden in einer Ausnahmesituation tausende Polizisten fehlen. Kommandanten hatten Künzli um Unterstützung gebeten, für das Schreiben an zuständige Politiker, die den Unterbestand aufzeigen sollten. Schon unter normalen Umständen sei die Polizei belastet, stand im Papier – gerade bei Ermittlungen und für die präventive Gefahrenabwehr im Kampf gegen den Terrorismus. In einer ausserordentlichen Lage wirke sich dieser Engpass erheblich aus. Und dies war eine ausserordentliche Lage, soviel konnte Künzli beurteilen.

    Bis vor Kurzem hätte er hinter einem Aufruf wie heute Morgen eine simulierte Übung vermutet, deren Ziel es jeweils war, Strukturen, Organisation und Abläufe zu überprüfen. Die Öffentlichkeit hätte kaum etwas mitbekommen, hätte nicht ein anonymer Spinner ein Bild an die Presse geschickt. Künzli! Der zerstörte Körper da unten ist nicht simuliert, mahnte er sich.

    Er war von den kriminaltechnischen und rechtsmedizinischen Spezialisten bereits untersucht worden. Mit modernsten Hilfsmitteln hatten sie kleinste Spuren sichtbar gemacht, um sie so schnell wie möglich auszuwerten.

    Er kannte den Ablauf: Fingerabdrücke wurden, wenn möglich genommen und nach Beweisstücken gesucht, um diese im Tatortbericht festzuhalten. Haare, Kleidung, Position, Blut eines anderen Menschen, Spuren eines Kampfes, was hier unwahrscheinlich war. Die Überreste wurden bereitgemacht und vorsichtig in die Gerichtsmedizin abtransportiert, wo man die Suche nach der Identität einleitete. Künzli benötigte Anweisungen, wie viel an Erkenntnis an Radio und Fernsehen weitergegeben werden durfte.

    Eine Truppe in schwarzer Kampfmontur stand Spalier an der Hauswand neben dem Eingang. Er entdeckte Kevin, einen aufstrebenden Distrikt Kommandanten aus Zürich, der vor kurzem ins Departement gewechselt hatte und dem der Ruf vorauseilte, stets an der Grenze zur Legalität zu ermitteln. Eine Kolonne – Roboter hinter Sturmhauben – tauchte unvermittelt beim gegenüberliegenden Hauseingang auf. Ihrer Körpersprache nach zu urteilen, waren sie bereit, Entwarnung zu geben. Krankenwagen erhielten grünes Licht, sich zurückzuziehen, fuhren schleichend an ihnen vorbei, gefolgt von der Feuerwehr. Polizisten und Rettungssanitäter in gelben Westen bildeten nun die Abschrankung am Eingang der Metzggasse, wo die Wagen quergestellt gewesen waren.

    Nach Künzlis Einschätzung waren nur die unteren Fensterbereiche mit Panzerglas ausgestattet. Von den gegenüberliegenden Haustreppenfenstern könnte jeder Milchbubi eine Handgranate in die Synagoge

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