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Der Geiger und der Regenwald: Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb
Der Geiger und der Regenwald: Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb
Der Geiger und der Regenwald: Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb
eBook326 Seiten3 Stunden

Der Geiger und der Regenwald: Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb

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Über dieses E-Book

Ein Leben für Musik und Natur

"Sind Sie verwandt mit Arthur Schnitzler?" Diese Frage hat Michael Schnitzler oft gehört, obwohl er seinen berühmten Großvater nie gekannt hat. Als Sohn von Heinrich Schnitzler und Lilly Strakosch wächst er in den USA auf und studiert Violine in Wien. Seine unvergleichliche Musikkarriere führt ihn mit verschiedenen Orchestern und Ensembles auf internationale Konzertbühnen rund um die Welt.
Doch sein persönliches Paradies entdeckt der begeisterte Reisende 1989 im Regenwald von Costa Rica, wo er die sanften Klänge der Violine gegen die Rufe von Brüllaffen und Papageien tauscht. Der von ihm initiierte "Regenwald der Österreicher" ist heute sein zweites Zuhause, wo er sich leidenschaftlich für den Erhalt der Natur und der Artenvielfalt einsetzt.

Mit einem Vorwort von Petra Hartlieb und zahlreichen Privatfotos in Farbe

Die außergewöhnliche Lebensgeschichte des Enkels von Arthur Schnitzler
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Okt. 2021
ISBN9783903217775
Der Geiger und der Regenwald: Erinnerungen. Mitarbeit und Vorwort von Petra Hartlieb

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    Buchvorschau

    Der Geiger und der Regenwald - Michael Schnitzler

    Haydns Kaiserquartett zum Abschied

    Am 13. März 1938, dem Tag des sogenannten »Anschlusses« und einen Tag nach dem Einmarsch von Hitlers Truppen, verließ eine junge Frau Österreich. Offiziell besuchte sie ihren Ehemann, der sich beruflich als Filmregisseur in Belgien aufhielt, deswegen besaß sie ein gültiges Ausreisevisum. Sie reiste mit wenig Gepäck – nur eine kleine Reisetasche und einen Geigenkasten trug sie bei sich. Auf der Suche nach Schmuck oder Geld schlitzten die SS-Soldaten am Grenzübergang Feldkirch das Futter des Geigenkastens auf, nicht ahnend, dass das Instrument wertvoller war als das Haus in Wien, das die Frau gerade verlassen musste. Alle anderen jüdischen Insassen des Waggons wurden abgewiesen und nach Wien zurückgeschickt, die junge Frau durfte passieren. Die Violine hatte einst mein Großvater Siegfried Strakosch in Brünn gekauft, die junge Frau war seine Tochter, meine Mutter.

    In ihren Erinnerungen schrieb sie: »An dem Abend des 11. März spielten wir Quartett bei meiner Mutter. Sie kam plötzlich hereingestürzt und erzählte uns, sie hätte gerade Schuschniggs Abschiedsrede im Radio gehört. Unser Schock war unglaublich. Wir entschlossen uns, als Abschied, Haydns Kaiserquartett zu spielen. Später wurde unsere zweite Geigerin in einem Konzentrationslager ermordet.« Meiner Mutter war rasch klar, dass sie das Land verlassen musste. Doch es gab ein großes Problem: Ihr elf Monate alter Sohn, mein Bruder Peter, war nicht in ihrem Pass eingetragen, er konnte keine Grenze passieren. So musste er in der Obhut des Dienstmädchens Poldi in Wien zurückgelassen werden. Der Familienanwalt Dr. Gustav Rinesch, der sich selbst als »Renommier-Goi unter vielen Judenfreunden« bezeichnete, konnte bewirken, dass der kleine Peter einen Pass bekam, bewilligt für die »einmalige Ausreise nach Schweiz und Rückreise Deutsche Reich (sic!)«. Unter dem Foto von Peter befanden sich gleich zwei Hakenkreuzstempel.

    Peters Reisepass mit Hakenkreuzstempeln

    Und so brachte das nichtjüdische Dienstmädchen Poldi gemeinsam mit Felix Saltens Tochter Anna den kleinen Peter in die Schweiz. Annerl – so nannten sie ihre Freunde – war seit ihrer Hochzeit mit Beat Wyler Schweizer Staatsbürgerin und konnte damals trotz ihrer Herkunft unbehindert zwischen Zürich und Wien pendeln. Am 1. Juni durften meine Eltern Lilly und Heinrich Schnitzler ihren kleinen Sohn wieder in die Arme nehmen. Wohlhabende Schweizer Freunde haben sie in ihrem Haus am Thunersee untergebracht, wo sie auf ein Einreisevisum in die USA warteten. Doch diese Monate des Zurückgelassenseins beschäftigten meinen Bruder sein ganzes Leben lang, und auch meine Mutter machte sich bis ins hohe Alter Vorwürfe, ihr Baby im Stich gelassen zu haben.

    Heinrich, Arthur und Olga Schnitzler, 1906

    Meine Familie hatte Riesenglück. Mein Vater hätte ohnehin seinen Job als Regisseur am Deutschen Volkstheater in Wien, den er seit 1931 innehatte, verloren. Einen Monat nach dem »Anschluss« verfügte das Reichspropagandaamt der NSDAP in Österreich: »Die Fortsetzung eines Dienstverhältnisses mit einem Juden kann heute keinem Deutschen mehr zugemutet werden. Personen, die nach den Nürnberger Gesetzen Volljuden sind, sind nunmehr fristlos zu kündigen, etwaige Gehaltszahlungen können unterbleiben.« Im April 1941 wurde »das gesamte stehende und liegende Vermögen sowie alle Rechte und Ansprüche des Heinrich Israel Schnitzler, dessen Ehefrau Lily Sara und dessen Kind Peter Israel aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung mit dem Ziele der späteren Einziehung zu Gunsten des Dritten Reiches beschlagnahmt« (Verfügung Nr. 2123/41 der Gestapo Wien).

    Meine Großeltern lebten im großbürgerlichen jüdischen Wien der Jahrhundertwende. Arthur Schnitzler promovierte zum Dr. med. und arbeitete als Arzt in der eigenen Praxis, bevor er sich verstärkt der Schriftstellerei zuwandte und zu einem der berühmtesten Dramatiker Österreichs wurde. Nur wenige wissen, dass er auch ein erstklassiger Pianist war und jahrzehntelang fast täglich mit seiner Mutter, später mit meinem Vater, anspruchsvolle Werke vierhändig vom Blatt spielte.

    Georg, Hans, Lilly, Christl und Wally Strakosch, 1915

    Der Vater meiner Mutter, Siegfried Strakosch, spielte immerhin so gut Geige, dass er sich eine wertvolle Violine von Joseph Guarnerius del Gesù kaufte und öffentliche Konzerte gab. In der Kritik eines Konzertes 1890 in Brünn kann man nachlesen: »Herr Strakosch spielte mit sehr schönem warmen Ton und brillanter Technik. Wir haben es hier zweifellos mit einem sehr begabten Violonisten zu thun, von dem noch sehr viel Schönes zu erwarten ist.« Er entschied sich dennoch gegen eine Karriere als Geiger und wurde Industrieller, Landwirt, Autor von Fachbüchern und Wirtschaftspolitiker. Im Jahr 1913 wurde er zum Ehrendoktor der Hochschule für Bodenkultur ernannt. Kaiser Franz Joseph erhob ihn im gleichen Jahr in den erblichen Adelsstand »von Feldringen«.

    Zwar wurde mein Großvater Arthur Schnitzler berühmt, doch auch der andere Großvater war begabt und erfolgreich, so konnten sich beide den Kauf einer Villa im vornehmen Cottage-Viertel von Wien leisten. Und obwohl meine Großeltern nur einige Häuser voneinander entfernt in der Sternwartestraße wohnten, kannten sie einander nur flüchtig. Den Dichter und den Agrarökonomen verband nicht viel, doch es gab zwei gemeinsame Nenner: die Musik und die Natur. Beide Großeltern liebten die Berge, unternahmen Spaziergänge im Wienerwald und Wanderurlaube in den Schweizer Alpen. Dieser Funken sprang auf meine Eltern über, und so war es wohl auch ein wenig vorbestimmt, dass ich Musiker und Naturschützer geworden bin.

    1931 lernten sich meine Eltern kennen. Meine Mutter schrieb in ihren Erinnerungen: »Neujahr 1931 war mein Schicksalsjahr, da traf ich Heini zum ersten Mal bei einer großen Neujahrsfeier bei Salten. Heini versuchte den ganzen Abend mit mir zu sprechen, was ihm aber nicht gelang. Außerdem hatte ich ein grünes Kleid an, was Heini mir noch viele Jahre später vorwarf. Er hasste grün. Einige Abende später kam Heini gerade mit seinem Auto von der Probe. Er blieb stehen, um mit mir über meine unbegabte Freundin Susi zu sprechen. Es schneite wie wild. Wir kamen ins Gespräch, es dauerte eine Stunde und am Schluss lud er mich ein, in den nächsten Tagen zu ihm zu kommen, um zu musizieren. Er war ein sehr guter Pianist. Und so fing es an.«

    Der Dichtersohn, Schauspieler und Theaterregisseur Heinrich Schnitzler und die neun Jahre jüngere, wohlbehütete Industriellentochter Lilly von Strakosch verliebten sich ineinander. Ihre Väter waren beide Anfang der 30er-Jahre gestorben. Mein Vater war nach einigen Jahren in Berlin und einer kurzen, unglücklichen Ehe nach Wien zurückgekehrt, meine Mutter war sehr musikalisch, bildhübsch, aber schüchtern. Bei langen Spaziergängen im Türkenschanzpark, Konzert- und Theaterbesuchen kamen sie einander näher. Als sie 1934 schließlich heirateten, war meine Mutter knapp 24 Jahre alt und ihr Leben veränderte sich schlagartig.

    Lilly und Heinrich Schnitzler, 1934

    In ihrem bisherigen Alltag hatte es eine englische Gouvernante gegeben, einen Chauffeur namens Richard Wagner, einen Butler, eine Köchin und ein Dienstmädchen. Noch nie hatte sie eine Mahlzeit selbst zubereiten müssen. Bei ihrem ersten Kochversuch warf sie gleich ein Kilo Nudeln in den Topf und wunderte sich, dass dieser überquoll.

    Nach der Hochzeit zogen meine Eltern in die Villa, die mein Großvater Arthur 1910 gekauft hatte: Sternwartestraße 71, Wien-Währing. In diesem Haus lebte mein Großvater bis zu seinem Tod 1931, und in seinem Arbeitszimmer befand sich auch sein gesamter Nachlass – Manuskripte, Briefe, Skizzen, Tagebücher. Als meine Eltern quasi über Nacht fliehen mussten, ließen sie ihren gesamten Besitz zurück. Dass der wertvolle Nachlass meines Großvaters nicht den Nazis zum Opfer fiel, ist einem Studenten aus Cambridge zu verdanken. Eric Blackall, der sich 1938 in Wien aufhielt, um an seiner Dissertation über Adalbert Stifter zu arbeiten, erkannte die Gefahr und erreichte, dass das Arbeitszimmer meines Großvaters mit dem britischen Hoheitszeichen versiegelt und der Nachlass zum Eigentum der Universität Cambridge erklärt wurde. Kurz danach wurde alles in acht Kisten verpackt und abtransportiert. Meine Großmutter Olga, Arthur Schnitzlers Witwe, wurde offiziell nach Cambridge eingeladen und konnte so den Nazis entkommen. Aus Dankbarkeit schenkte sie der Universität den gesamten Nachlass, verschwieg jedoch dabei, dass sie gar nicht die rechtmäßige Erbin war und demnach auch nicht darüber verfügen konnte. Auch nachdem die Universität nach Kriegsende über die Umstände dieser Schenkung erfahren hatte, verweigerte sie die Herausgabe an meinen Vater, den rechtmäßigen Erben. Dieses Zerwürfnis zwischen meinem Vater und meiner Großmutter dauerte bis zu ihrem Tod an. Meine Großmutter wollte Dankbarkeit und Anerkennung für die Rettung des Nachlasses, mein Vater wiederum fühlte sich übergangen und betrogen. Erst 70 Jahre später wurde die Geschichte restlos geklärt. Der Germanist Wilhelm Hemecker stieß auf die Korrespondenz zwischen meiner Großmutter, meinem Vater und dem damaligen Archivar der Universitätsbibliothek und bekam rasch den Eindruck, dass es bei der »Schenkung« nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Schließlich fand er im Österreichischen Theatermuseum weitere Briefwechsel zwischen meinem Vater und der Universität Cambridge, aus denen eindeutig hervorging, dass die Schnitzlers noch immer die rechtmäßigen Eigentümer des Nachlasses waren. Auch wenn mein Bruder Peter und ich die Herausgabe der Manuskripte erzwingen hätten können, entschieden wir uns für eine einvernehmliche Lösung. Ich konnte mich bei einem Besuch in Cambridge überzeugen, dass der Nachlass dort bestens aufgehoben ist. Die lang andauernde und nicht besonders ruhmreiche Geschichte fand mit einer nachträglichen Entschuldigung der Universität, einer symbolischen Entschädigung und einer offiziellen Schenkung von unserer Familie an die Universität doch noch ein würdiges Ende.

    In der Schnitzler-Villa befand sich nicht nur der Nachlass meines berühmten Großvaters, sondern auch die umfangreiche Bibliothek meines Vaters, seine Autografen, Noten und Fotoalben. Bei seiner überstürzten Abreise hatte mein Vater alles seinem Freund Joseph Gregor zur Aufbewahrung überlassen mit der Bitte, es in Kisten nach New York zu schicken, sobald meine Familie dort Fuß gefasst habe. Doch Gregor hatte andere Pläne: Nachdem er unter den Nazis zum Leiter der Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek avanciert war, ließ er die gesamte Bibliothek von der Gestapo beschlagnahmen. Er begründete den Diebstahl in einem mit »Heil Hitler« unterschriebenen Brief an den Direktor der Nationalbibliothek: »Obwohl jüdischen Ursprungs ist die Sammlung durch die Vielfältigkeit der Zusammenhänge von großem Interesse. Ich bitte, die nötigen Schritte einzuleiten, damit Bibliothek und Autographen nun an die Theatersammlung gelangen können.« Joseph Gregors Rolle ist umstritten. Die einen sehen darin den Versuch, diese bedeutsamen Bestände durchaus im Sinne ihrer Vorbesitzer vor ihrem Untergang zu retten, die anderen sehen Gregor hingegen als Kollaborateur und Nutznießer des nationalsozialistischen Regimes.

    Die Bibliothek wurde »aus Gründen der öffentlichen Sicherheit« der Nationalbibliothek einverleibt und 1947 unserer Familie rückerstattet. Manche Bücher und Noten waren neu gebunden worden, alle enthielten einen Stempel mit dem Text »Aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek als rechtmäßiges Eigentum des Heinrich Schnitzler ausgeschieden«. Unter den Noten befanden sich viele Partituren für Klavier zu vier Händen mit Bleistifteintragungen meines Großvaters: »10/12/1905 mit Mama, 31/1/1920 mit Heini« oder – in den Noten der fünften Symphonie von Mahler: »20/5/1911 (Mahler gestorben)«. Am Tag davor hatte Arthur Schnitzler in sein Tagebuch geschrieben: »Heute Nacht starb Gustav Mahler … Gesehn zuletzt voriges Jahr in der Kärntnerstraße, und ging ihm ein paar Schritte nach, weil mich sein Gang interessierte.«

    Meine nichtjüdische Großmutter Wally Strakosch (Granny), Tochter eines Wiener Börsenmaklers, blieb mit Tante Christl, der Schwester meiner Mutter, bis Anfang 1939 in Wien, wo sie um die Freilassung von Christls Mann, Otto Patzau, aus dem KZ kämpften. Er war Direktor der Süßwarenfabrik A. Eggers Sohn und wurde bei der Konfiszierung der Fabrik inhaftiert. Sie war nach dem »Anschluss« einem treuen Parteimitglied als Belohnung versprochen worden, und der Direktor sollte dieser »feindlichen Übernahme« wohl nicht im Weg stehen. Onkel Otto verbrachte neun Monate in Dachau und Buchenwald, und auch hier konnte Anwalt Rinesch ein Wunder bewirken. Rinesch schrieb später über diese Zeit: »Die äußeren Umstände und meine alten Freundschaften mit jüdischen Familien taten das übrige dazu, dass ich Goi immer mehr und mehr Juden, ihre Firmen und Vermögen in ihren oft schrecklichen Schicksalen zu vertreten bekam. Ich wurde der ›Juden-Rinesch‹, was ein Markenzeichen war.« Während Granny und Christl in ihrer Wohnung in der Sternwartestraße auf Ottos Freilassung warteten, fuhr die Gestapo in schwarzen Autos vor und stürmte das Haus. Alles von Wert wurde beschlagnahmt: Auto, Gemälde, Silberbesteck, Antiquitäten, Porzellan, Bücher. Eine ausführliche Inventarliste wurde angefertigt und Granny musste unterschreiben, dass sie alles »freiwillig« hergab. Lediglich den Schmuck entdeckten die Offiziere nicht, so gut hatte ihn meine Großmutter versteckt. Seltsamerweise erzählte meine Granny wenig über den »Besuch« der Gestapo in ihrem Haus, aber dass sie vor dem Ersten Weltkrieg einen jungen Maler und Anstreicher beschäftigt hatte, ging in den Anekdotenschatz der Familiengeschichte ein. Dieser interessierte sich sehr für ihre umfangreiche Bibliothek, lieh sich sogar ein paar Bücher von Friedrich Nietzsche aus. Er brachte die Bücher ordnungsgemäß zurück und bedankte sich mit einer Visitenkarte, auf der stand: »Vielen Dank! Adolf Hitler«.

    Siegfried Strakosch

    Meine Tante Christl jedoch hatte wohl eine Vorahnung und lagerte ihre wertvollen Möbel schon vor dem Besuch der Gestapo in einem Depot ein, von wo sie schließlich über Italien nach Amerika gelangten. So blieb auch ein Hammerklavier, auf dem angeblich Beethoven gespielt hatte, im Besitz der Familie Patzau.

    Die Hohenauer Zuckerfabrik der Gebrüder Strakosch, 1867 von meinem Großvater Siegfried und seinen Brüdern gegründet, war gleich nach dem Einmarsch der Nazis beschlagnahmt worden. Direktor war Georg Strakosch, Siegfrieds Sohn aus erster Ehe. Kurz nachdem Georg noch einen Großteil des Familienvermögens nach England retten konnte, verließ ihn seine amerikanische Frau, da er nicht mehr jener wohlhabende Fabrikant war, den sie geheiratet hatte. Frustriert, einsam und verbittert nahm er sich 1939 das Leben. Granny musste nun auch noch die Villa in der Sternwartestraße und zwei Drittel ihres verbliebenen Vermögens den Nazis als »Steuern« überlassen und eine steuerliche Unbedenklichkeitsbescheinigung von Adolf Eichmann, dem Chef der jüdischen Auswanderungsbehörde, besorgen. Familienanwalt Dr. Rinesch bat um eine Audienz, die ihm auch gewährt wurde: »So stand ich eines Tages vor dem berüchtigten Endlöser der Judenfrage in der Bibliothek des Palais Rothschild. Vom Empfang des Eichmann war ich schon tief beeindruckt. Der Obersturmbannführer stand mit spärlich behaartem Schädel in einer schwarzen SS-Uniform, eine Reitpeitsche im Stiefel, hinter einem Ministerschreibtisch, davor lag ein hochrassiger Wolfshund. Eichmann hatte mein Memorandum gelesen und versicherte mir mit knappen, nicht unhöflichen Worten, dass er, wie alle Juden, auch die meinigen so rasch als möglich aus den deutschen Gauen vertreiben wolle.« Mit dem Nachweis, dass die Hohenauer Zuckerfabrik nun dem Großdeutschen Reich gehörte, bekamen Granny, ihre Tochter Christl, deren Mann Otto und die drei Kinder ihre »Judenpässe« und konnten Österreich Ende 1939 verlassen. Nach Aufenthalten in England und einer Internierung auf Kuba erreichten sie schließlich Ende 1940 Amerika.

    Dass meine gesamte engere Familie den Holocaust überlebt hat, grenzt an ein Wunder. Eltern, Bruder, Großmütter, Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen: Sie alle konnten vor den Nazis fliehen. Onkel Hans Strakosch, der jüngere Bruder meiner Mutter, ließ sich in Kalifornien, Tante Christl samt Familie in Philadelphia nieder. Die Kinder meines Großonkels Julius Schnitzler – Hans, Karl und Anni – schafften es nach Chicago, Sydney und Cincinnati. Die beiden traditionsreichen Wiener Familien Schnitzler und Strakosch waren auseinandergerissen und entwurzelt worden. Sie waren gezwungen, fern der Heimat neue Existenzen aufzubauen, das luxuriöse Leben in Wien gehörte der Vergangenheit an. Lebensart, Sprache und Kultur der Gastländer waren ihnen fremd.

    Amerika

    Bertolt Brecht 1937 schrieb aus dem Exil in Dänemark:

    Aber wir wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluß

    Wählend ein andres Land. Wanderten wir doch auch nicht

    Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer

    Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.

    Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm …

    Aber keiner von uns

    Wird hier bleiben.

    Meine Eltern erzählten von der anstrengenden Überfahrt von Le Havre nach New York im Jänner 1939. Der zweijährige Peter war durch die Ereignisse seit seiner Geburt derart traumatisiert, dass er während der Überfahrt pausenlos weinte. Im Stadtteil Castle Village fand sich eine kleine Wohnung, wo die Familie gemeinsam mit einem langjährigen Freund der Familie einzog. Paul Marx war Theaterregisseur, ein enger Freund von Arthur und Olga Schnitzler und Trauzeuge meiner Eltern. Er hatte sie sogar auf ihrer Hochzeitsreise begleitet, nicht unbedingt zur Freude meiner Mutter, die mir später einmal erzählte, dass mein Vater panische Angst vor der Ehe hatte. Während Paul versuchte, Geld zu verdienen, indem er in der Küche Badener Kaffeebonbons produzierte, nutzte mein Vater jede freie Minute, um Englisch zu lernen. Auf dem Lehrplan im Wiener Gymnasium waren Latein und Griechisch gestanden, nun war er gezwungen, in Windeseile eine völlig neue Sprache zu lernen. Im Juni 1939 schrieb er an seinen Freund Felix Bressart: »So gab es im vergangenen Winter zwanzig Hoffnungen und zwanzig Enttäuschungen, hundert Pläne und tausend Möglichkeiten – der konkrete Effekt ist gleich Null gewesen. Aber auch nicht ganz: ich habe sehr viel gelesen, ich habe versucht, mich auf allen Wegen an das eigentliche ›Amerika‹ heranzuschleichen, ich habe sehr fleißig mein Englisch verbessert … es war also keineswegs ein verlorener Winter. Natürlich packt mich oft, sehr oft, die Ungeduld – aber man überwindet diese Stimmungen auch wieder. Im Übrigen hören wir noch von einigen Menschen aus Wien. Die meisten aber benehmen sich schändlich.«

    Und so fasste meine Familie langsam Fuß in Amerika, in ständiger Sorge um die Kriegswirren in Europa und in intensivem Kontakt mit anderen Emigranten und Freunden aus Wien. Mein Vater schrieb 1940: »Was dort vorgeht, übersteigt wohl die grausigste Phantasie und man kann den Gedanken an das Alles oft wirklich kaum mehr ertragen.« Viele emigrierte Freunde meiner Eltern warteten in New York nur darauf, dass der Krieg zu Ende ging und fuhren mit dem erstmöglichen Schiff wieder zurück nach Europa. Meine Eltern dachten damals nicht an eine Rückkehr nach Österreich, sie hatten viele amerikanische Freunde, sprachen mit Peter nur Englisch, und mein Vater nannte sich Henry statt Heinrich. Er inszenierte am Broadway und bei Sommerfestivals, unterrichtete an kleinen Colleges und schrieb Artikel für Fachzeitschriften. Er hatte sich in kurzer Zeit einen erstaunlichen Wortschatz angeeignet. Das machte sich bezahlt, denn 1943 bekam er eine Berufung für Schauspiel und Regie an die Universität von Kalifornien in Berkeley. Er schrieb: »Universitätsleute in diesem Lande sind so ziemlich die erfreulichste Menschensorte, die man sich nur denken kann. Mit europäischen ›Professoren‹ sind sie überhaupt nicht zu vergleichen. Es ist wirklich eine andere Welt. Nichts Professorales, nichts Engstirniges – eine wirkliche Freude!«

    1943 übersiedelte die Familie nach Berkeley, 163 Stonewall Road, mit Blick auf die Bay Bridge und die Bucht von San Francisco. Ich kam am 7. August 1944 im Alta-Bates-Spital in Oakland auf die Welt. Am selben Tag lautete die Überschrift auf der Titelseite der Wiener Zeitung: »Adolf Hitler: Zuversichtlich wie noch nie«.

    Meine Mutter mit mir, 1944

    Am Vortag meines ersten Geburtstags fiel die Atombombe auf Hiroshima. Und dann war der Krieg vorbei. Meine Eltern und Peter waren bereits amerikanische Staatsbürger. Meine Mutter, eine ambitionierte, sehr gute Amateurgeigerin, spielte im Orchester 1945 bei der Gründungsfeier der Vereinten Nationen in Berkeley.

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