Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Kampf um Sempera
Kampf um Sempera
Kampf um Sempera
eBook796 Seiten9 Stunden

Kampf um Sempera

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Wie würdest du reagieren, wenn dich deine große Liebe des Hochverrats an deinem eigenen Königreich beschuldigt?

Niemals hätte es Daisy für möglich gehalten, mit dieser Frage konfrontiert zu werden.

Doch genau dem muss sie sich im kalten und feuchten Verlies von Glacies stellen. Jeden Tag wird sie von Orion gefoltert. Jeden Tag hofft sie, dass das alles nur ein Versehen ist.

Doch um sich und ihre Freunde zu retten, muss sie eine Möglichkeit finden, sich aus dem Verlies zu befreien. Und vor allem muss sie herausfinden, ob wirklich Tajo hinter allem steckt, oder ob nicht jemand anderes die Strippen hinter diesem Verrat zieht, der ganz Sempera ins Unglück stürzen kann.

Ein Kampf um das Schicksal des Landes scheint unvermeidbar.

Das packende Finale der Sempera Trilogie!
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. März 2020
ISBN9783946843818
Kampf um Sempera

Mehr von Tatjana Zanot lesen

Ähnlich wie Kampf um Sempera

Ähnliche E-Books

Fantasy für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Kampf um Sempera

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Kampf um Sempera - Tatjana Zanot

    Jessica Strang

    Stapenhorststraße 15

    33615 Bielefeld

    www.tagtraeumer-verlag.de

    E-Mail: info@tagtraeumer-verlag.de

    Text: © Tatjana Zanot

    Buchsatz: Laura Nickel

    Lektorat/ Korrektorat: Lena Knodt

    Umschlaggestaltung: Asuka Lionera

    www.asuka-lionera.de

    Bildmaterial: © Shutterstock.com, © Dreamstime.com

    Printed in Germany

    ISBN: 978-3-946843-81-8

    Alle Rechte vorbehalten

    © Tagträumer Verlag 2020

    Tatjana Zanot

    Kampf um

    SEMPERA

    Für Mattis,

    weil dein Abenteuer viel zu früh vorbei war.

    Für Svenja,

    weil du noch viele Abenteuer vor dir hast.

    Vergiss niemals,

    dass du nicht allein bist.

    1

    Folter

    Orion schlich um mich herum wie eine diebische Katze. Seine Schritte waren bedacht, jede Bewegung abgewogen. Er achtete darauf, möglichst leise zu sein.

    Ich grunzte verächtlich. Wusste er denn nicht, wie bescheuert er sich verhielt?

    Meine Knie waren aufgerissen, meine Hände auf dem Rücken gefesselt, mein ganzer Körper schmerzte, weshalb ich leicht nach vorne gebeugt hockte. Mein Hintern schwebte dabei nur wenige Zentimeter über dem Boden. Auf meiner Unterlippe schmeckte ich Blut. Ich spuckte aus und konnte rote Tropfen in meinem Speichel erkennen.

    Das Geräusch ließ ihn herumfahren. Seine kalten Augen erfassten mich, doch ich hielt seinem Blick stand.

    Er konnte vielleicht meinen Körper kleinkriegen, aber nicht meinen Geist.

    Niemals. Ich mochte schwach gewesen sein, als ich Sempera zum ersten Mal betreten hatte, aber ich hatte mich verändert. Ich war stärker geworden.

    Manchmal, wenn seine Folter ganz besonders schlimm wurde, dachte ich an all die Lasins, die ich hoffte, eines Tages wiederzusehen. Félia und Dina. Meinen Onkel J‘Khar. Kapitän Polar und seine Crew. Was war bloß aus ihnen geworden? Der Gedanke an sie hielt mich am Leben, obgleich ich gar nicht mit Sicherheit sagen konnte, dass man sie nicht getötet hatte.

    Ich dachte ganz bewusst man. Auch Tajo wollte ich wiedersehen; ihn fragen, was das alles zu bedeuten hatte und ihn dann zur Besinnung bringen. Er musste von Winya verhext worden sein, anders konnte ich mir sein Verhalten nicht erklären.

    Orion hob seine Hand und die Peitsche schnellte hervor. Als das Leder meinen nackten Rücken traf, zuckte ich zusammen, aber ich schrie nicht. Diesen Triumph wollte ich ihm nicht gewähren.

    Nachdem Tajo mich und einige meiner Leute in Ketten gelegt und ins Verlies des Eispalastes geworfen hatte, hatte er mich beinahe jeden Tag holen lassen. Ich wurde nicht dem König vorgeführt, worauf ich beim ersten Mal gehofft hatte, sondern in einen hinteren, feuchten Raum der Kerkerzeile gebracht.

    Anfangs hatte sich Orion auf Beleidigungen und Drohungen beschränkt. Sehr bald war er zu ersten, leichteren Schlägen übergegangen. Meistens an Stellen, die man durch den Fetzen, den ich trug, nicht von außen sehen konnte.

    Aber auch das hatte sich verändert.

    Ich wusste nicht, wie lange wir – also neben mir Fou, Lord Avos, Quinn, Annie und meine Dienstmagd Tira – schon eingesperrt waren. Oder was der Grund dafür war. Ich konnte auch nicht sagen, was aus dem Rest meiner Gefolgsleute geworden war. Ob sie sich hatten retten können, oder – im schlimmsten Fall – auf der Stelle umgebracht worden waren.

    Alles, was ich wusste, war, dass ich nicht aufgeben durfte. Ich musste stark bleiben. Heute mehr als gestern und morgen mehr als heute.

    Plötzlich hörte ich eilige Schritte auf dem nasskalten Boden, die plötzlich innehielten. Ich traute mich nicht, einen Blick über meine Schulter zu werfen. »Der König hat nach dir gefragt, Orion.« Eine Männerstimme.

    Ich unterdrückte ein erleichtertes Ausatmen. Wenn der König ihn zu sich holte, war es vorbei. Zumindest für heute.

    Orion knurrte frustriert. »Schafft sie mir aus den Augen«, sagte er zu einem Wächter und als Abschiedsgeschenk spuckte er nur knapp an mir vorbei. »Morgen treffe ich dein Gesicht«, versprach er mir und ich lächelte ihn an.

    Das war meine kleine Rache für das, was er mir antat. Egal, wie schlimm es wurde – wie oft er einen glimmenden Stock in meine Haut drückte, mich mit der Peitsche schlug oder mich mit einem Messer schnitt – jedes Mal, wenn er fertig war, lächelte ich ihn an. Solange ich das tat, hatte er keine echte Macht über mich.

    Gefolgt von dem Typen, der ihn geholt hatte, verließ er die Schreckenskammer. Den Namen hatte der Raum von Quinn bekommen, nachdem uns allen brutal das Haar geschoren und unsere Kleidung gegen die farblosen Fetzen ausgetauscht worden war.

    Ein Wächter kam und zog mir meinen Fetzen Kleidung über die Schultern und band ihn fest, sodass er nicht herunterrutschen konnte. Dann hob er mich auf die Beine. Dabei erhaschte ich einen kurzen, flüchtigen Blick auf ihn. Dunkles Haar, helle Augen, ungewöhnlich gebräunte Haut, als würde er noch nicht lange in Glacies verweilen. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. An der Brust seiner schwarzen Wächterrobe hing eine silberne Brosche in Form eines Raben.

    »Oh, ein Neuer«, grunzte ich, während er mich vorwärtsschubste.

    Anfangs waren es immer drei bis vier Wachen gewesen, die uns vereinzelt durch die Gegend transportierten. Nach unzähligen Wochen – oder Monaten – ohne ausreichend Essen und Wasser war ich zu ausgehungert, um mich verteidigen zu können. Und wenn ich an meine Leidensgenossen dachte, ging es ihnen da nicht anders.

    Der König setzte alles daran, uns zwar nicht zu töten, uns aber so weit zu schwächen, dass wir keine Gefahr mehr darstellten. Vermutlich hatte er es geschafft. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Lord Avos noch viel gegen einen ausgewachsenen und wohlgenährten Dschungeltiger ausrichten könnte.

    Ich war schon früher in den Kerkern gewesen, aber nur im vorderen Teil. Er befand sich unter den Kellern, der Küche, den Vorratsräumen und den Zimmern für die Schlossangestellten. Von der Schreckenskammer hatte ich erst durch meine Gefangenschaft erfahren. Hin und wieder führte man uns auch in einen Waschraum, der mir jedes Mal einen eiskalten Schauder über den Rücken laufen ließ. Dieser Raum erinnerte mich unweigerlich an eine Dokumentation über Auschwitz, die ich vor Jahren einmal gesehen hatte. Ein gruseliges Gefühl.

    Noch gruseliger war allerdings die Gewissheit, dass ich einmal ein Leben außerhalb von diesen Kerkern gehabt hatte, weit weg von Sempera. Es hatte eine Zeit gegeben, in der mir eine Parallelwelt und Gestaltwandler wie ein surrealer Traum vorgekommen waren.

    Heute fühlte sich das Leben als einfacher Teenager wie ein Traum an.

    Tja, so schnell konnten sich Dinge ändern. Und Gott allein – oder die Götter – wussten, wie gern ich in diesem Moment mein Leben als angsterfüllter Teenager zurückgehabt hätte.

    »Hätte ich doch bloß nie den Müll nach draußen gebracht«, murmelte ich vor mich hin.

    »Habt Ihr etwas gesagt?«, fragte der Wächter und schubste mich weiter.

    Doch ich antwortete nicht.

    Er war einer von denen.

    Von denen, die dem König gehorchten.

    Und das war Grund genug, ihn zu hassen.

    Er brachte mich zurück zu den anderen. Wir wurden zwar in einzelnen Zellen festgehalten, aber die waren nur mit Gittern voneinander getrennt, weshalb keiner von uns ganz vereinsamte.

    Anders als viele vor ihm, schubste er mich nicht so heftig in meine Zelle, dass ich über meine Füße stolperte und hinfiel, sondern ließ mich einfach eintreten. Während er die Tür hinter mir verschloss, wandte ich mich ihm zu, reckte mein Kinn. »Arschgesicht.«

    Er sah mich nicht an. Ohne ein weiteres Wort ließ er die Schlüssel in seiner Hosentasche verschwinden und ging. Ich horchte dem Klang seiner Schritte hinterher.

    Mistkerl.

    Fou lachte verhalten. Er saß in der Zelle links von mir. Wie immer hockte er gegen die hinterste Wand gelehnt; meistens um die Wunden an seinem Rücken zu kühlen. Orion hatte ihn ganz besonders im Visier. Warum er uns so folterte, verstand ich zwar nicht, aber an Fou ließ er offensichtlich all den Frust aus, der sich in den letzten Jahren in ihm aufgestaut hatte.

    »Gut gemacht, Kätzchen«, sagte er und lächelte schwach. »Zeig es ihm.«

    Ich atmete geräuschvoll aus.

    »Dieses Schwein hat dich schon wieder ausgepeitscht!« Das war Quinn. Seit ein paar Wochen klang sie leicht hysterisch, wann immer sie den Mund öffnete, aber ich konnte es ihr auch nicht verdenken. In der Zelle zwischen uns saß Annie, rechts von mir. Doch die meiste Zeit kauerte sie sich in eine Ecke, wimmerte vor sich hin und zitterte unkontrolliert.

    Die Gitterstäbe, so vermutete ich, magieabweisend, weshalb sie nicht in der Zeit reisen konnte. Was für sie aber unerlässlich war, wie mir klar wurde. Sie hatte zwar immer gesagt, dass sie ihrem Gendefekt nachgeben musste, aber ich verstand erst jetzt, dass es körperliche Folgen hatte, wenn sie es tatsächlich nicht konnte. Von uns allen litt sie am meisten. Ich wollte mir ihre Schmerzen nicht vorstellen. Quinn folgte meinem Blick mit demselben Mitleid. Wenn ich einen von uns wählen könnte, der freikam, wäre es die Hexe. Ich wusste nicht, wie lange sie es noch aushielt. Und welchen Schaden sie davontrug, selbst wenn wir lebend hier herauskämen.

    Lord Avos, der schwarze Wolf, saß in der Zelle auf Fous anderer Seite. Die meiste Zeit grübelte er über Fluchtmöglichkeiten. Seine Ideen waren bisher – welche Überraschung – fruchtlos geblieben.

    Dahinter hatten sie Tira eingesperrt, meine Magd. Von ihr hörte man nicht so viel, aber soweit ich es beurteilen konnte, hielt sie sich ganz gut.

    »Du weißt, dass Orion weitermachen wird, solange er deinen Willen nicht gebrochen hat«, sagte Fou ruhig.

    Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich so nah ans Gitter, wie ich konnte. »Soll er doch kommen, von mir aus jeden Tag. Ich halte das aus.«

    »Das ist gut«, sagte Fou nachdenklich. »Aber seine Methoden werden vermutlich härter werden.«

    »Warum? Was ist sein Ziel? Er könnte mich einfach umbringen.«

    »Ach, Daisy«, seufzte er und über seine Lippen huschte sein altbekanntes Lächeln. Ich kannte es aus früheren Tagen, als er mir das Lügen über meine Herkunft beigebracht hatte. »Ich vergesse manchmal, dass du nicht aus Sempera stammst.«

    »Wie meinst du das denn schon wieder?«

    »Hast du dich nie gefragt, warum die Lasins nie aufhörten, an deine Eltern zu glauben? Wir hätten uns ja auch einfach auf Tajos Vater als neuen König einlassen und die anderen vergessen können.«

    »Die Prophezeiung«, erinnerte ich ihn.

    »Ja. Und nein«, entgegnete Fou langsam. Auch wenn er es sich nicht anmerken ließ, hatten ihm die letzten Wochen stark zugesetzt. »Es gibt Regeln. Und eine davon lautet, dass ein König seinen Titel nur durch seinen Tod verliert oder wenn er offiziell zurücktritt. Deine Eltern sind einfach verschwunden, Daisy. Bis zu deiner Krönung waren sie im Prinzip unsere Herrscher.«

    Ich runzelte die Stirn. »All die Jahre?«

    »All die Jahre.«

    »Dann könnte Orion mich trotzdem einfach umbringen«, gab ich zu bedenken.

    »Denk doch mal darüber nach. Wenn er dich tötet, werden die anderen Lasins glauben, Tajo hätte dich ermordet. Und ob du es glaubst oder nicht, es gibt welche, die an dich glauben. Die dich an der Spitze sehen wollen, und zwar nur dich. Die Tatsache, dass Orion dich noch nicht getötet hat, bestätigt nur meine Annahme, dass da draußen sehr viele auf deine Rückkehr warten.«

    »Ah«, machte Lord Avos von hinten. »Deshalb hat Tajo uns noch nicht hingerichtet.«

    Als er seinen Namen aussprach, zuckte ich unwillkürlich zusammen. Ich wollte nicht, dass die Wahrheit allzu bewusst wurde. Dass Tajo – mein Tajo – uns hier eingesperrt hatte.

    Allerdings konnte er sicher nichts dafür. Etwas an ihm war komisch gewesen, an jenem letzten Tag in Freiheit. Die Art und Weise, wie er mich angesehen hatte. Als hätte ihm jemand all die Liebe entzogen, die er für mich empfand.

    So etwas passierte nicht von heute auf morgen. Niemand wachte auf und stellte fest, seinen Partner nicht mehr zu lieben. Mehr noch, ihn so sehr zu verachten, dass man ihn in ein dreckiges, stinkendes Verlies steckte, wo er in seinen eigenen Fäkalien sitzen musste. Es musste mehr dahinter stecken. Und ich war nicht dumm genug, um zu glauben, dass Winya nicht ihre Finger im Spiel hatte.

    Schon bei unserer ersten Begegnung war sie mir seltsam vorgekommen. Weltfremd, wenn man es so sagen wollte. Da machte es auch keinen Unterschied, dass sie meine Cousine war. Die Tatsache, dass sie magische Fähigkeiten besaß, bestätigte nur meine Vermutung. Sie musste Tajo dazu gebracht haben. Ihretwegen hatte er uns gefangengenommen.

    »Es ergibt Sinn, ja«, überlegte Fou laut und holte mich so zurück auf den Boden der Tatsachen. »Wenn Orion uns tötet, könnte Daisy dadurch noch mehr Willensstärke erlangen. Wenn sie uns aber beim Sterben zusieht … Na ja.«

    »Daisy!«, rief Quinn wie aufs Stichwort. Natürlich hatte sie zugehört. Man hatte hier unten nichts Besseres zu tun, als zu lauschen. »Egal was passiert, du darfst niemals – hörst du - niemals auf deinen Titel verzichten!«

    »Sie klingt zwar irre«, witzelte Fou schwach, »aber sie hat recht.« Er sah mich eindringlich an. »Unser Tod ist nicht so wichtig, Daisy. Aber Semperas Tod wäre unverzeihlich. Wenn du aufgibst, war alles umsonst. Vergiss das unter keinen Umständen.«

    2

    Die schwarze Box

    Am schlimmsten war das Gefühl der Ausweglosigkeit. Die Ungewissheit, wann und ob wir diese Kerker überhaupt noch einmal verlassen würden. Mein Zeitgefühl hatte ich längst verloren. Ob Orions letzter Besuch nur Stunden oder schon Tage her war, konnte ich nur an dem Grad meiner Schmerzen messen.

    Annie war kaum noch ansprechbar. Sie hatte sich in die hinterste Ecke verkrochen, die Beine an sich gezogen und schaukelte wie eine Verrückte vor und zurück. Ihr Essen hatte sie seit Tagen nicht angerührt. Ich machte mir wirklich große Sorgen um sie.

    Konnte man an einem kalten Entzug sterben?

    Auf jeden Fall

    konnte man verhungern. Oder verdursten – aber die halbe Schale Wasser, die wir täglich bekamen, trank sie wohl.

    »Pst«, machte Fou auf einmal.

    Ich wandte meinen Blick von dem Häufchen Elend zu meiner Rechten ab und rutschte näher zu ihm heran. »Was ist?«

    Er deutete auf einen der Wächter, der gemächlich an den Kerkern entlangschritt, als wäre er auf einem Spaziergang. Er war schon älter, aber die goldene Brosche an seiner Brust verriet mir, dass er keiner von uns war. Oder besser gesagt, keiner meiner Spezies. Direkten Spezies.

    Ach, scheiß drauf. Er war ein Dschungeltiger und seit ich in dieser Zelle hockte, legte ich einen großen Wert auf die Trennung der beiden semperischen Tigerarten.

    Fou wartete, bis der Wächter weiter zu Quinn geschlendert war, ehe er flüsterte: »Weißt du noch, wie alle auf dem Schiff Briefe an ihre Familien schreiben sollten, ehe wir den gefährlichen Teil nach Carcere durchquerten?«

    Ich nickte. »Aber die Briefe wurden nie abgeschickt, weil es nicht genug Vögel gab.«

    »Einer war noch da. Sein Name war Nicholas. Er sollte meinen Brief …« Die Schritte des Wächters wurden lauter und er wechselte lässig in ein anderes Thema. »… ungenießbar, dieser Fraß, den man uns hier gibt.«

    »Seid froh, dass ihr überhaupt etwas bekommt«, brummte der Wächter und schritt an uns vorbei. Als er wieder weit genug weg war, fuhr Fou fort: »Er brachte meinen Brief zu Félia. Sie wird uns hier rausholen, ganz bestimmt.«

    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Einerseits wollte ich mich dieser neuen Hoffnung hingeben. Andererseits war ich mir nicht sicher, ob er vielleicht nur deshalb an dieser Chance festhielt, weil es die einzige Möglichkeit war, eines Tages sein Kind zu sehen.

    Der Gedanke daran brach mir das Herz. Während er hier festsaß, hatte Félia wahrscheinlich längst entbunden.

    Vorausgesetzt – und dieser Gedanke verschlug mir jedes Mal die Sprache – man hatte Félia nicht getötet.

    Am Anfang hatte ich noch gedacht, es wäre ein Missverständnis. Dass Tajo wieder schnell zu Verstand käme und uns hier herausholte. Aber aus ein paar Tagen wurden Wochen und am Ende Monate. Aber abgesehen von uns sechs kam keiner mehr dazu.

    Es fehlten so viele, von denen ich mir sicher war, dass sie auf meiner Seite standen, allen voran Félia. Oder die kleine Dina. Oh, meine süße Dina. Es wäre unverzeihlich, wenn Tajo ihr etwas angetan hatte, bloß weil Winya ihn dazu gezwungen hatte. Er würde sich selbst dafür hassen, wenn er aus seinem Liebes-Entzugs-Koma erwachte.

    Außerdem war da noch mein Onkel J‘Khar. Wenn er noch lebte, hätte er doch alles daran gesetzt, mich zu befreien, oder nicht?

    Ganz sicher. Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, auf Tajo zu hören. Ihm zu vertrauen.

    Plötzlich waren mehr Schritte zu hören. Der Wächter eilte zurück und blieb vor meinem Verlies stehen, als ein halbes Dutzend weiterer Wächter erschien, geführt von dem Fremden, der mich nach Orions letzter Folterstunde zurückgebracht hatte. »Holt sie«, befahl er und aus einem Reflex heraus stand ich schon auf.

    In der Vergangenheit hatte ich festgestellt, dass mir mehr Kraft für das Verhör blieb, wenn ich mich zu Beginn nicht wehrte.

    Aber die Wächter liefen an meiner Zelle vorbei in den hinteren Bereich. Durch die Gitterstäbe konnte ich sehen, wie sie zu Tira eindrangen, die einen leisen Schrei von sich gab, als sie sie unsanft auf die Füße zerrten.

    »Nein!«, rief ich, als sie sie an meiner Zelle vorbeiführten. Stille, aber dicke Tränen rollten über ihre Wangen.

    Der Fremde mit den schwarzen Haaren sah mich an.

    Ich schlug mit voller Wucht gegen die Stäbe. »Sie kann euch nichts sagen!«, schrie ich und der Mangelernährung zum Dank kratzte schon davon mein Hals.

    Ohne auf mich einzugehen, lief der Fremde an mir vorbei und ließ mich zeternd zurück.

    »Lasst sie hier! Es geht euch doch um mich! Kommt zurück!«

    Plötzlich schlug der zurückgebliebene Wächter von vorhin mit einer Peitsche gegen meine Gitterstäbe. Instinktiv zuckte ich zurück und stolperte; ließ es mir aber nicht nehmen, ein tiefes Knurren hervorzubringen.

    Der Wächter lachte bloß höhnisch.

    Ganz am Anfang hatten wir versucht, in unseren Tiergestalten die Gitterstäbe zu verbiegen, sodass Fou und Quinn vielleicht durchgepasst hätten. Aber

    es war unmöglich gewesen.

    Frustriert tigerte ich – auf zwei Beinen, wohlgemerkt – durch meine Zelle.

    »Sie wird es schaffen«, versuchte Lord Avos mich zu beruhigen. »Sie ist stark.«

    Ich grunzte verächtlich. Sie hatten sie noch nie geholt.

    Tira war keine Kämpfernatur. Sie war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Oder besser gesagt: Zur falschen Zeit die Magd der falschen Königin. Was man ihr antun würde, hatte sie nicht verdient.

    Stunden später tauchte Orion mit einem Trupp Wächter auf. Dieses Mal holte er mich und ich ließ mir anstandslos die Ketten anlegen und mich abführen, in der Hoffnung, Tira retten zu können.

    Ich wurde in einen Raum sehr weit hinten geführt. Es war eine der Schreckenskammern, aber dieses Mal stand in der Mitte eine eckige, etwa hüfthohe Box.

    Nun übernahm Orion höchstpersönlich die Führung meiner Ketten. »Mit den besten Grüßen deines Königs«, säuselte er an mein Ohr.

    Meine Nackenhaare stellten sich auf.

    Er nickte einem Wächter zu, der daraufhin vortrat und die Box öffnete. Sie bot gerade einmal genug Raum, um sich zu setzen. Und ich musste kein Einstein sein, um zu begreifen, was er vorhatte.

    Während der Wächter mich vorwärts schubste, fing ich an, mich zu wehren. Ich stampfte mit den Füßen, versuchte meine Arme aus den Ketten zu reißen, bäumte mich auf.

    Zwecklos.

    Wir kamen der schwarzen Box immer näher.

    Ich hatte mal einen Film gesehen, in dem ein Mann in so eine Box gesperrt worden war. Zu klein, um sich anständig zu bewegen und ohne Licht. Es war irgendein militärisches Manöver, glaubte ich. Schon damals war mir bei der Vorstellung einer solchen Box speiübel geworden.

    Im Film war die Box moderner gewesen, ausgestattet mit einem Guckloch, das Exemplar hier sah aus wie aus einem anderen Jahrhundert, aber nicht minder angsteinflößend.

    »Das wird dich kleinkriegen«, hörte ich Orion sagen.

    Nur den Bruchteil einer Sekunde später trat mir der Wächter in die Kniekehlen und ich fiel nach vorn.

    Ich startete einen letzten Versuch, mich zu wehren und wollte mich verwandeln, aber ich war zu schwach.

    Ein sehr großer Schwall Hass loderte in mir auf.

    Leider war er im Angesicht meiner Mangelzustände nicht groß genug, um ausreichend Adrenalin auszuschütten, um etwas gegen den Wächter auszurichten, der mich wie einen Fußball in die Box schubste. Ich stieß mit dem Kopf gegen die hinterste Kante, wollte mich aufrichten, aber es war schon jetzt viel zu eng.

    Orion tauchte in der Öffnung auf. »Gute Nacht, Königin.« Er lachte, riss mir brutal meine Fesseln ab und schloss dann die Tür.

    Plötzlich war alles dunkel. Nicht einmal durch einen winzig kleinen Spalt drang ein Lichtstrahl hinein.

    Augenblicklich ging mein Atem schneller. Mein Herz beschleunigte sich, als wäre es ein Motor und mein Körper der Ferrari.

    »Okay, scheiße«, murmelte ich und hörte das Zittern in meiner Stimme.

    Ich streckte Arme und Beine aus, bis ich die Wände der Box berührte. Meine Gliedmaßen konnte ich nicht einmal ausstrecken. Bequem sitzen auch nicht.

    Ich war gefangen in einer Box ohne Licht.

    Mein persönlicher Albtraum war wahr geworden.

    In meinen Fingerspitzen begann es zu kribbeln.

    »Nein«, murmelte ich und versuchte, meine Hände zu bewegen, als wollte ich sie nach einer Schneeballschlacht wieder wärmen. Doch das Kribbeln breitete sich aus, wanderte über meine Haut und ließ einen Schauer zurück.

    Mein Mund öffnete sich reflexartig, als wollte er schreien, aber kein Laut kam über meine Lippen.

    Orion hatte es geschafft. Aber nein, Tajo konnte ihm nie meine größte Schwachstelle verraten haben. So etwas würde er nicht tun. Oder doch?

    Nein!

    Ob sie Tira deshalb geholt hatten?

    Hatten sie sie gefoltert, bis sie ihnen etwas verriet, womit sie mich kleinkriegen konnten?

    Kleinkriegen … Nein, das konnte ich nicht zulassen. In meine Tiergestalt konnte ich mich nicht verwandeln, aber vielleicht konnte ich etwas mit meinen neu entdeckten, magischen Fähigkeiten ausrichten?

    Ich streckte meine Arme links und rechts von mir aus, bis ich mit meinen Handflächen die Wände berührte. Ich versuchte, sie zu sprengen, oder weit genug zu dehnen, damit die Box zerplatzte, aber meine Fähigkeiten halfen nicht weiter. Wie auch? Ich hatte seit Monaten nicht mehr üben können. Und selbst wenn, ich wusste nicht einmal, ob ich etwas sprengen konnte.

    Die Panikattacke wurde immer schlimmer.

    »Scheiße!«, sagte ich – oder schrie ich, da war ich mir nicht ganz sicher. Meine Augen waren so weit aufgerissen, dass sie anfingen, zu brennen.

    Das letzte Mal, als ich in so einer Situation gewesen war, hatte Tajo mich gerettet. Darauf konnte ich jetzt wohl nicht hoffen.

    Dass Kasimir mich an die Wölfe verraten hatte, kam mir in diesem Moment unerreichbar vor. So viel war seitdem geschehen …

    Damals hatte ich noch nicht gewusst, wer oder was ich tatsächlich war. Ich war bloß ein Mensch gewesen, ein einfaches Mädchen, das durch ein Weltentor in eine andere Welt geplumpst war.

    Inzwischen hatte ich meine wahre Gestalt gefunden, war Königin dieses wundersamen Landes und trotzdem hatte ich noch immer irrationale Ängste vor denselben Dingen.

    Es war merkwürdig, doch mich an das Verlies von den Wölfen zu erinnern, beruhigte mich etwas.

    Ich hatte es schon einmal überlebt. Die Dunkelheit konnte mir nichts anhaben.

    Ich dachte an Fou und stellte mir vor, wie er mir beruhigend zusprach.

    Sieh es doch mal so. Solange du in dieser Box gefangen bist, kann Orion dir kein physisches Leid zufügen.

    Okay, er würde wahrscheinlich nicht das Wort physisch verwenden, aber das änderte an der Sache nichts. Im Prinzip war diese Höllenbox auch eine Art Bunker. Sie würde mich zwar wahrscheinlich nicht vor einem Nuklear-Angriff beschützen, aber hey, wir waren immer noch in Sempera und hier gab es immerhin keinen Kim Jong Irgendwas. Man musste es positiv sehen.

    »Ach, verflucht«, grunzte ich verächtlich und hasste mich selbst für meine Gedanken. Es gab nichts Positives an meiner Situation.

    Stunden vergingen. Zumindest glaubte ich das. Meine Gliedmaßen schmerzten und ich war mir sicher, mich nie wieder vernünftig bewegen zu können. Wie lange brauchten eigentlich Muskeln, um zu verkümmern?

    Immer wieder, wenn ich mich nicht mehr konzentrierte, kehrte das Kribbeln zurück. Die Panikattacke schwebte drohend über mir wie ein Damoklesschwert. Nur ohne die vorherige Glückssträhne.

    Mehrere Ewigkeiten verstrichen, da war ich mir sicher. Ich konnte nicht schlafen, zu groß war meine Angst vor der Dunkelheit. Aber das ständige Auf-mich-selbst-achten, damit ich nicht in Panik verfiel, machte mich unsagbar müde.

    Das Schlimme war nicht die Dunkelheit an sich, sondern dass, was sich in ihr versteckte. Deswegen tastete ich immer wieder die Wände der Box ab, um sicherzugehen, dass ich noch immer allein hier drin gefangen war.

    Irgendwann fing ich an, mich an den Beinen zu kratzen. Ich spürte vage den Schmerz, als ich mit meinen Nägeln die Haut aufriss, aber er erinnerte mich auf bittersüße Art daran, noch am Leben zu sein. Solange ich noch blutete, war ich noch am Leben.

    3

    Die Hinrichtung

    Verzweiflung und Wahnsinn hatten viele Gesichter.

    Früher hatte ich geglaubt, in meinem Fall wäre das meine Krankheit. Meine Panikattacken spiegelten meinen persönlichen Wahnsinn wider. Ich verpasste mir selbst das unliebsame Etikett der Irren und das Schlimmste daran war, dass ich mich damit sogar wohlgefühlt hatte. Als wäre es eine Art Wintermantel gewesen, in den ich mich an bitterkalten Tagen hatte einkuscheln können.

    Inzwischen war mir klar, wie naiv ich gewesen war.

    Meine Krankheit war niemals das Schlimmste gewesen, das mir in meinem Leben passiert war. Selbst die Wanderung von einer Pflegefamilie zur nächsten war nichts im Vergleich zu dem hier gewesen.

    Und dieses unbestimmte hier war nicht einmal die düstere Box, in der ich mich befand.

    Es war eine Tatsache.

    Was auch immer sie mit Tira gemacht hatten, sie hätte Orion niemals diese winzig kleine, aber bedeutsame Tatsache verraten können. Sie wusste nicht, welche Angst ich vor der Dunkelheit hatte.

    Tajo schon. Und – wie ich mich nun erinnern konnte – Orion auch. Er war dabei gewesen, als Tajo mich gerettet hatte.

    Dieses Scheusal. Er musste ohne Erlaubnis handeln, sonst wäre Tajo längst dazwischengegangen. Er hätte einer solchen Folter niemals zugestimmt. Der Mistkerl Orion hatte mich angelogen, um mich zu verunsichern. Tajo würde mir das nicht antun.

    Ich wusste noch, wie es damals gewesen war. Wie ich im Fieberschlaf von Tajo geträumt hatte und wie wohlig seine Berührungen gewesen waren, als er mich endlich befreit hatte.

    Ich war es gewesen, für die er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, indem er in die Festung der Wölfe eingedrungen war. Ich, ein einfacher Mensch, war ihm wichtig genug gewesen, um sich in Gefahr zu bringen.

    Das bedeutete etwas.

    Das würde immer etwas bedeuten.

    Er war doch mein Held. Meine Liebe des Lebens oder so etwas Dämliches.

    Ich konnte sein Abbild direkt vor meinem inneren Auge sehen. Seine goldbraunen Augen, in denen immer dieser finstere Blick schimmerte. Sein dunkles Haar, welches ihm stets in die Stirn fiel. Seinen dunklen Teint.

    Tajo war perfekt. Und wenn er von Winyas Zauber befreit war, das wusste ich ganz sicher, konnten wir wieder neu anfangen.

    Mit der Erinnerung an Tajo und der Vorstellung von unserer gemeinsamen Zukunft gewann schließlich die lähmende Müdigkeit und ich dämmerte weg.

    Allerdings nur so lange, bis ich ein leises, kaum merkliches Quietschen hörte.

    Sofort war ich hellwach. Ich erschrak sogar so sehr, dass ich mir wieder den Kopf an der Decke stieß.

    Obwohl die Haut an dieser Stelle pochte, hielt ich inne und lauschte.

    Doch, ganz sicher: jemand machte sich an dem Verschluss der Box zu schaffen.

    Tajo!, schoss es mir durch den Kopf. Instinktiv machte ich mich bereit, ihm in die Arme zu springen. Endlich hatte er es geschafft und war Winya entkommen. Ich hatte von Anfang an gewusst, dass er mich retten würde.

    Das hatte er immer getan. Weil er mich liebte. Und Liebe war stärker als alles, sagte man das nicht so?

    Doch als die Tür endlich aufschwang und sich meine Augen an das gleißende Licht gewöhnt hatten, war es nicht Tajo, der vor der Öffnung hockte.

    »Alles gut?«, fragte der Wächter von gestern – oder vorgestern – oder noch länger. Der mit den schwarzen Haaren. Im Licht konnte ich seine blauen Augen erkennen.

    Unwillkürlich grunzte ich verächtlich.

    Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Gut. Das ist ein Zeichen dafür, dass du lebst.« Er trat zur Seite und streckte dabei seinen Arm nach mir aus. »Kommt raus, Eure Hoheit.«

    Eure Hoheit. Dass ich nicht lache! Auf den Trick fiel ich bestimmt nicht herein.

    Vermutlich warteten draußen schon andere Wächter auf mich. Orion würde mich ganz sicher gleich verhören und dazu zwingen, meinen Titel aufzugeben. Weil er glaubte, dass mich seine dämliche, schwarze Box gebrochen hatte.

    Da täuschte er sich! Ich war stärker als das. Derzeit in einem jämmerlichen Zustand, aber trotzdem stärker.

    Was hatte mein erdachter Fou gesagt? Die Box bot mir auch Schutz!

    Statt also dem Befehl des Wächters zu folgen, rutschte ich so weit es ging nach hinten und zog meine Beine an mich.

    Der Wächter runzelte die Stirn. »Ihr blutet, Majestät. Überall.«

    Er meinte meine Kratzwunden. Egal. Und seinen mitfühlenden Unterton konnte er sich auch schenken.

    Er seufzte. »Was ich jetzt tun muss, tut mir inständig leid, aber Ihr werdet es mir nachsehen«, sagte er und ehe ich verstand, umfasste er meine Knöchel und zog mich aus der Box heraus.

    Ich war zu geschwächt, um mich zu wehren, aber ich schrie.

    Schrie um mein Leben.

    »Ihr lasst mir keine andere Wahl«, murmelte der Wächter mit seinen betörend blauen Augen, dann knebelte er mich, damit ich nicht mehr schreien konnte, fesselte mir meine Arme und zog mir einen Sack über den Kopf.

    »Je mehr Ihr euch wehrt, desto mehr zieht sich der Sack zu und Ihr erwürgt euch selbst.«

    Erneute Panik stieg in mir auf. Eben war ich aus der Dunkelheit herausgekommen, jetzt war ich schon wieder darin. Wie ein Aal versuchte ich, mich aus seinem festen Griff zu winden, aber er hatte recht: Dabei schnürte sich der Sack nur immer enger um meinen Hals.

    Es half nichts. Wenn ich überleben wollte, musste ich mich beruhigen. Zumindest solange, bis ich wusste, was er vorhatte.

    Anfangs dachte ich noch, er würde mich zurück in mein Verlies bringen, aber die Strecke wurde länger und länger und als er plötzlich in mein Ohr »Vorsicht, Stufe!«, flüsterte, verstand ich nichts mehr. Er hielt mich an meinen Handfesseln fest, achtete aber darauf, mir keine allzu großen Schmerzen zuzufügen. Auch das war neu. Bisher hatte kein Wächter Rücksicht genommen. Noch dazu kündigte er jede Stufe, jede überraschende Kurve an. Jeder andere Wächter hätte mich vermutlich blind überall gegen laufen lassen.

    Irgendwann hörte ich Schritte, die uns entgegenkamen.

    »Ist sie bereit?«, fragte eine mir vage bekannte Stimme. Es musste ein Wächter sein, der schon mal bei uns patrouilliert hatte.

    »Kann man dazu bereit sein?«, entgegnete der Wächter, der mich führte.

    Der andere gluckste widerwärtig. »Vermutlich nicht! Aber ich warte schon seit Monaten auf ihre Hinrichtung! Bis gleich!«

    Dann ging er weiter und ich verharrte in Schockstarre.

    Ich versuchte wieder zu schreien, aber der Knebel in meinem Mund war zu fest und zu groß. Als der Wächter mich weiterführen wollte, stellte ich mich mit ganzem Gewicht gegen ihn.

    »Bei allen Göttern«, hörte ich ihn murmeln. »Ihre Freunde waren nicht so widerspenstig.«

    Doch ehe ich richtig ausrasten konnte, tat er etwas, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Er hob mich unsanft hoch, legte mich über seine Schulter und trug mich einfach weiter. Als ich mich bemühte hinunterzufallen oder ihm sonst wie das Leben zur Hölle zu machen, zog sich der Sack weiter zusammen.

    Als ich kaum noch Luft bekam, gab ich auf. Mein Überlebensinstinkt hinderte mich daran, mich selbst zu erwürgen, was in Anbetracht dessen, was auf mich wartete, wohl Ironie des Schicksals war.

    Doch das Schlimmste daran war nicht mein bevorstehender Tod, sondern dass sie meine Freunde ebenfalls hinrichten wollten.

    In Gedanken versuchte ich mir den Weg vorzustellen, den wir zurücklegten, um zu wissen, wo wir uns ungefähr befinden mussten, aber ich kannte den Eispalast nicht gut genug. Ich merkte nur, dass wir irgendwann wieder Treppen hinunterstiegen, dass er mehrere Türen passierte und dass es mit jedem Meter, den wir vorankamen, kälter wurde.

    Und damit meinte ich nicht ein paar Grad.

    Irgendwann war es so eisig, dass ich zitterte.

    »Na schön, das soll es gewesen sein«, sagte der Wächter plötzlich, stellte mich vorsichtig auf meine Füße und nahm mir die Fesseln ab. Als meine Haut den eisigen, verschneiten Boden berührte, gab ich ein Ächzen von mir. Anschließend zog er mir den Sack vom Kopf und warf ihn achtlos auf den Boden. Instinktiv atmete ich tief ein, genoss die frische Luft in meinen Lungen. Endlich war ich frei!

    Das war die dümmste Idee, die der Wächter jemals gehabt hatte.

    Er wollte mich gerade von meinem Knebel befreien, als mich meine blanke Wut übermannte, das Adrenalin durch meine Venen schoss und ich mich blind auf ihn stürzte. Es kam mir nicht einmal in den Sinn, mich verwandeln; viel zu gern wollte ich spüren, wie meine Faust sein Gesicht traf.

    4

    Raven

    Doch der Wächter hatte natürlich einen ziemlich entscheidenden Vorteil: Er war bei Kräften. Und geübter, was schnelle Reaktionen anging.

    Ehe ich ihn auch nur berühren konnte, hatte er meine Handgelenke gepackt, nach unten gezogen und mich so gedreht, dass er mich mit dem Rücken an seine Brust drückte. Ich war so geschwächt, dass ich mich nach dem verpatzten Angriff fühlte wie nach einem Marathonlauf und so unterernährt, dass er meine Handgelenke mit nur einer Hand festhalten konnte. Mit der anderen fing er an, meinen Knebel zu lösen.

    »Bevor du gleich losschreist, solltest du wissen, dass ich gerade dabei bin, dir zu helfen.«

    Mir entging nicht, dass er von der majestätischen Höflichkeitsform in ein vertrautes Du wechselte. Der Knebel fiel, er ließ meine Handgelenke los und trat blitzschnell einen Schritt von mir weg, um möglichen Fäusten zu entkommen.

    Statt meinen Fehler von eben zu wiederholen, bewegte ich meinen Kiefer, um das taube Gefühl loszuwerden, welches der Knebel hinterlassen hatte. Mit einer Hand im Nacken, um ihn zu massieren, wandte ich mich halb dem Wächter zu. Dabei fielen mir die Wände des Tunnels auf.

    Sie waren aus Eis und Schnee, hier und dort gab es eine Steinmauer oder Holzlatten. Etwa alle fünf Meter waren die Steine mit einem Leuchtmittel bestrichen, wodurch wir nicht in totaler Finsternis standen.

    »Wo sind meine Freunde?«, fragte ich als Erstes. »Und wo sind wir?«

    Ich wollte aggressiv und ablehnend klingen, damit er nicht glaubte, ich würde ihm vertrauen. Das tat ich nicht. Auf der anderen Seite war das hier aber auch definitiv kein Ort für eine Hinrichtung.

    »Ich heiße Raven«, stellte sich der Wächter vor.

    »Danach habe ich nicht gefragt.«

    »Ich weiß, aber ich halte es für wichtig, dass Ihr mir vertraut.«

    Da war sie wieder, die Höflichkeitsform.

    »Klar«, grunzte ich verächtlich. »Deswegen hast du auch so ein Problem mit der königlichen Höflichkeitsform.«

    Ein amüsiertes Grinsen huschte über seine Lippen. »Erwischt. Ich halte nicht viel von Monarchie.«

    »Was ein guter Grund ist, dir nicht zu vertrauen.« Ich schlang die Arme um meinen Oberkörper. Allmählich wurde mir die Kälte der eisigen Wände deutlich bewusst.

    »Ihr friert«, stellte der Wächter – Raven – fest. Dann deutete er den Gang entlang. »Beim Treffpunkt haben wir warme Kleidung für euch deponiert. Auf dem Weg dorthin erkläre ich dir alles.«

    Obwohl ich ihm nicht trauen wollte, nickte ich und setzte mich in Bewegung. Er schien sich in den Tunneln auszukennen, was bedeutete, dass ich mich zumindest solange von ihm führen lassen musste, bis ich einen Ausgang witterte. Und die Aussicht auf warme Kleidung gefiel mir.

    »Ich würde ja sagen, verwandelt Euch, aber das ist zu gefährlich.«

    »Dieses hin und her verwirrt mich. Entweder Königin oder Daisy.«

    Er warf mir einen funkelnden Blick zu. Schalk. Es war wirklich Schalk, der in seinen Augen glitzerte.

    »Daisy klingt gut. Hat Ähnlichkeit mit meinem Namen.«

    »Ist ja auch beides englischen Ursprungs«, murmelte ich mehr zu mir selbst.

    »Bitte?«, hakte er nach. »Was ist Englisch?«

    »Ach, nicht so wichtig. Warum ist es zu gefährlich, sich zu verwandeln?«

    »Das ist deine erste Frage?«

    »Warum nicht?« Ich war zu müde für einen schlagfertigen Austausch.

    »Ich hatte eher mit der Frage gerechnet, warum ich dich hierhergebracht habe.« Ehe ich darauf eingehen konnte, fuhr er fort und beantwortete meine tatsächlich gestellte Frage: »Wir sind immer noch in Glacies. Das hier sind Relikte beziehungsweise Ruinen aus der ersten Stadt, wie sie vor Jahrhunderten erbaut worden war. Die Jahrzehnte ohne jemanden, der sich um die Straßen und Häuser gekümmert hat, haben dafür gesorgt, dass Glacies, so wie es einst existierte, vollständig mit Schnee und Eis bedeckt wurde. Wusstest du, dass der Eispalast mal eine Treppe hatte, die zum Eingang führte? Von ihr ist nichts mehr übrig geblieben.«

    Er erzählte es mit einer gewissen Ehrfurcht, die ich sonst nur von Nadja kannte, wenn sie über steinalte Kirchen sprach.

    Plötzlich betrachtete ich die Wände; die Steinmauern und Holzplatten, mit anderen Augen. Hier hatten Lasins gelebt. Die weißen Tiger. Hier waren meine Eltern aufgewachsen.

    »Viele Häuser sind unter den Schneemassen zusammengestürzt, aber einige haben die Jahre und den Neubau oben unbeschadet überstanden. Es ist, als hätte die Natur sie konserviert, um uns an das zu erinnern, was mal war. Irgendwie gruselig und wunderschön zugleich, oder?«

    In seinen Augen konnte ich wahre Begeisterung erkennen.

    »Wer hat die Tunnel gebaut?«, fragte ich.

    »Die Rebellen«, antwortete er, als läge das auf der Hand. »Wobei ich das Wort unpassend finde, wenn du mich fragst. Wir sind keine Rebellen, sondern Unterstützer der wahren Königin.«

    Als er das sagte, blieb ich wie vom Donner gerührt stehen.

    Er hielt inne, drehte sich zu mir um und blickte mich fragend und amüsiert zugleich an.

    »Es gibt … Rebellen? Meinetwegen?«

    »Natürlich. Ihr wurdet gefangen genommen und zu Unrecht zur Höchststrafe verurteilt. Wir haben schon vor Eurer Rückkehr von Eurer Mission angefangen, einen Plan zu schmieden, Euch zu beschützen.«

    »Du tust es schon wieder. Du wechselst in den … Personalpronomen, oder wie man das nennt.«

    Er grinste. Ich lächelte vorsichtig. Es war ungewohnt und fühlte sich falsch an.

    »Was heißt, ihr habt einen Plan geschmiedet? Woher … wusstet ihr – wer auch immer ihr seid – von der Verhaftung?«

    »Wir wussten es nicht«, entgegnete er und bedeutete mir, mich wieder in Bewegung zu setzen. »Wir hatten nur diesen Brief, in dem geschrieben war, dass die Gefahr bestand. Euer – dein – Berater Fou hat mitgeteilt, dass man Tajo nicht trauen darf und dass wir uns auf einen Verrat seinerseits vorbereiten sollen.«

    »Den Brief hat er an seine Frau geschickt ...«

    »Und Félia hat ihn Aestor gegeben.«

    Vor meinem inneren Auge tauchte die Erinnerung an den schmierigen Schatzmeister in seinen kunstvoll bestickten Mänteln auf. »Moment mal«, ging ich dazwischen. »Aestor? Ausgerechnet ihm?«

    »Ich kenne kaum jemanden, der mehr hinter dir steht als er. Er hat alles in die Wege geleitet – hat die Gruppe zusammengeführt und nach und nach alle aus dem Eispalast bugsiert, die in Gefahr geraten könnten.«

    Die Gefühle übermannten mich. Wieder blieb ich stehen, dieses Mal unweigerlich mit Tränen in den Augen. »Dann ist Félia in Sicherheit? Dina? Mein Onkel J‘Khar?«

    Raven nickte bei jedem einzelnen Namen, den ich nannte.

    Und dann war plötzlich alles zu viel.

    Ich versuchte noch, nach Halt zu suchen, aber meine Beine brachen unter meinem Gewicht zusammen, als wären sie Streichhölzer.

    Raven wankte etwas unschlüssig hin und her. Die Situation überforderte ihn; mit meiner Reaktion hatte er nicht gerechnet.

    »Ich habe nicht gewusst …«, setzte ich an, unterbrach mich aber selbst und schüttelte ungläubig den Kopf. »In all den Monaten hatte ich befürchtet, sie wären tot.«

    »Sie sind sehr lebendig«, sagte Raven, kam näher und ging vor mir in die Hocke. Er begutachtete mich mit seinen klaren Augen eingehend.

    Ich gab ein Grunzen von mir. »Ich wollte nicht zuversichtlich sein. Hoffnung kann einen umbringen.«

    »Aber nur, wenn sie unerfüllt bleibt«, entgegnete er.

    Überrascht blickte ich zu ihm auf und sein schiefes Grinsen ließ mich unweigerlich lächeln. Es war, als könnte man vor ihm nicht eine Minute lang traurig sein.

    »Ihr habt mich gerettet«, stellte ich fest. Meine Stimme klang heiser.

    Er nickte. »Aber wir waren doch schon beim Du angelangt, vergiss das nicht. Du weißt doch, ich hab es nicht so mit Höflichkeit.« Mit diesen Worten stand er auf und streckte mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.

    Kopfschüttelnd rappelte ich mich selbstständig auf. Wenn mich dieses verfluchte Verlies eines gelehrt hatte, dann das: Man musste sich selbst helfen.

    5

    Alle für einen, einer für alle

    Raven führte mich durch die eisigen Tunnel. Es gab nicht viele Kurven oder Kreuzungen; es erschien mir unmöglich, sich hier zu verlaufen. Nur die Kälte machte mir in dem dünnen Hemdchen zu schaffen.

    »Wir sind gleich da«, sagte er, doch da hörte ich schon entferntes Stimmengewirr. Einige erkannte ich, andere nicht, aber das war nicht wichtig. Sie zu hören ließ mich meinen Schritt beschleunigen.

    Jetzt war ich es, die Raven führte.

    Und dann, endlich, sah ich sie. Hinter einer der wenigen Abzweigungen tauchte plötzlich Fous breiter Rücken auf.

    Ich quietschte wie eine Irre, dann sprang ich auf ihn zu; in derselben Sekunde drehte er sich zu mir um und fing mich auf.

    »Sachte, Kätzchen«, lachte er und meinen alten Spitznamen zu hören machte es plötzlich real.

    Wir waren frei.

    »Kätzchen?«, fragte Quinn verwirrt.

    »So hat er mich früher genannt«, erklärte ich, während Fou mich wieder abstellte.

    »Sie konnte sich früher in eine Katze verwandeln«, fügte Fou hinzu.

    Quinn gab ein Geräusch von sich, welches mich an jenes erinnerte, das Julian im Matheunterricht immer gemacht hatte, wenn er endlich eine Aufgabe verstand. »Ich kenne die Legenden«, sagte sie wissend.

    »Manche Legenden beruhen auf wahren Begebenheiten«, entgegnete Fou schlicht.

    »Es freut mich, dass es Euch gut geht«, sagte Lord Avos zu mir und zur Antwort drückte ich ihn eng an mich.

    Scheiß auf höfische Konventionen. Das, was wir erlebt hatten, würde uns für immer zusammenschweißen.

    Jemand räusperte sich. Es war eine junge Frau, ungefähr in meinem Alter. Ihr dunkelbraunes Haar hatte sie zu einem Zopf gebunden und auf ihren Lippen lag ein zaghaftes Lächeln, als sie mir einen dunklen Mantel reichte.

    »Danke«, sagte ich, nahm den Mantel und schlüpfte hastig hinein.

    »Und Schuhe gibt es auch«, sagte ein Mann in den Zwanzigern, der mir daraufhin ein Paar Stiefel reichte.

    Halleluja. »Das ist ja wie im Sommerschlussverkauf«, witzelte ich, während ich in die Schuhe schlüpfte.

    Wie erwartet folgten darauf verwirrte Blicke der anderen.

    »Mein Name ist übrigens Crow«, stellte sich der Lasin vor, der mir die Stiefel gereicht hatte. »Und das ist mein Bruder Kraii.« Er deutete auf einen Mann neben ihm, der ihm wie aus dem Gesicht geschnitten war. Zwillinge.

    Kraii hob zum Gruß die Hand und winkte.

    »Er kann nicht mehr sprechen, seit Auroras Krieger ihm die Zunge herausgeschnitten haben«, erzählte Crow, als wäre es normal. Als gehörte es eben einfach dazu.

    »Und das ist unsere jüngere Schwester Runa«, stelle Crow das Mädchen mit dem Zopf vor. »Sie ist zwar nicht stumm, aber redet auch mit Zunge nicht viel mit Fremden.« Während er über seinen Witz lachte, warf sie ihm einen bitterbösen Blick zu.

    »Apropos«, schaltete sich nun Raven ein. »Wo ist Cerva?«

    »Das ist eine gute -«, begann Crow, als plötzlich eine kleine, kreischende Gestalt um die Ecke geflitzt kam.

    »Das hättet ihr sehen müssen! Das war ja so überdimensional!«, rief sie und wäre beinahe gegen mich gerannt, wenn Crow sie nicht am Arm zurückgezogen hätte.

    »Nun beruhige dich erst«, sagte er und klopfte dem Mädchen auf den Rücken. Sie konnte nur ein paar Jahre älter als Dina sein und hatte ebenfalls dunkelbraunes Haar.

    Ihre braunen Augen waren weit aufgerissen, ihre Mundwinkel hochgezogen. Die Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Wir waren im Eispalast!«, hechelte sie.

    »Was?«, riefen Raven und Runa zeitgleich aus. Die beiden warfen sich einen merkwürdigen Blick zu, dann fügte Letztere hinzu: »Wir haben dir doch ausdrücklich gesagt, dass du dich vom Palast fernhalten sollst.«

    »Hab ich ja auch«, entgegnete Cerva augenrollend. »Aber dann waren wir plötzlich im Palast von vor zehn Jahren oder so. Alles war leer und eingestaubt und die Stadt war halb eingeschneit!«

    »Das kann nicht sein«, meinte Crow, doch während Cerva zu einer Erwiderung ansetzte, kam Annie um die Kurve geschlendert.

    Sie sah noch immer krank aus, aber ihre Haut hatte mehr Farbe bekommen und sie kam mir nicht mehr vor wie der wandelnde Tod.

    Aha. Was Cerva da von sich gab, war also doch realistisch.

    »Ich schwöre es bei allen Göttern!«, versuchte Cerva den Rest der Gruppe zu überzeugen und lief auf Annie zu, die warnend einen Arm hob, wodurch das Mädchen instinktiv stehenblieb.

    »Ach ja«, murmelte die Hexe daraufhin. »Nicht anfassen.«

    »Hört nicht auf das kleine Kuckuckskind«, meinte Crow und unwillkürlich tat sie mir leid. »Unsere Mutter hatte schon immer gesagt, dass ihre Fantasie genauso grenzenlos ist wie die Flugstrecken, die sie zurücklegt.«

    Also waren Crow und seine Geschwister Vögel.

    Annie erhielt ebenfalls einen Mantel und Stiefel, die sie dankbar annahm.

    Während sich unsere Hexe anzog, fiel mir auf, dass alle Geschwister ebenfalls Wächter-Kleidung trugen – außer Cerva und Runa.

    »Habt ihr euch alle als Wächter getarnt?«, fragte ich.

    Kraii nickte, während Runa antwortete: »So war es am einfachsten, in den Eispalast reinzukommen. Aber Tajo vertraut Lasins, die keine Tiger sind, nicht besonders. Wir hatten es noch schwerer. Raven war der Einzige, der es geschafft hat, den Verräter um die Kralle zu wickeln.«

    »Man tut, was man kann«, ergänzte Raven mit einer gespielten Verbeugung.

    Das ganze quittierte Runa mit einem dümmlichen Kichern.

    Für den Bruchteil einer Sekunde betrachtete ich die beiden genauer. Ich bemerkte den körperlichen Abstand zwischen ihnen, aber auch die Blicke, die Runa ihm zuwarf, als ob sie eben jenen Abstand so überbrücken könnte.

    Crow räusperte sich und zog meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. Als er sich sicher war, dass alle ihm zuhörten, rieb er sich die Hände. »Da wir nun alle vollzählig sind, erkläre ich euch mal die weitere Vorgehensweise.«

    »Moment«, unterbrach ich ihn mit zusammengekniffenen Augenbrauen. »Wo ist Tira?«

    Eine merkwürdige Stille trat ein, was auch das Interesse meiner Freunde weckte.

    »Ja, genau«, pflichtete Quinn mir bei und spielte angriffslustig mit ihren Schultern. »Wo ist Tira?«

    »Ohne sie sind wir nicht vollzählig«, fügte Fou hinzu und nickte selbstbewusst.

    »Tira«, wiederholte Crow und zog ihren Namen in die Länge.

    Ich verstand sofort. Er versuchte, die Antwort hinauszuzögern, damit wir vielleicht darüber hinwegkamen. Es vergaßen.

    Aber die Zeit der Spielchen war vorbei. Ich wollte die Regeln jetzt selbst bestimmen.

    Also marschierte ich zu dem einzigen, von dem ich wusste, dass er Tira am heutigen Tag gesehen hatte. Ich blickte Raven direkt in die Augen. »Was hast du mit ihr gemacht?«

    Er hielt meinem Blick stand, schluckte aber. »Ich habe mit ihr gesprochen. Es war ihr Vorschlag gewesen.«

    »Was war ihr Vorschlag?«, hakte ich ungeduldig nach.

    Eine ungute Vorahnung überkam mich. Ein Gefühl, welches ich am liebsten abschütteln wollte.

    »Wir brauchten einen Grund, um euch alle aus dem Verlies zu holen. Es wäre nicht möglich gewesen, euch zu befreien und durch das Schloss zu führen, ohne von irgendjemandem gesehen zu werden. Wir haben monatelang nach einem Ausweg gesucht, aber keinen gefunden. Ich dachte, von euch allen wird sie den Palast am besten kennen und hoffte, dass es vielleicht irgendeinen Geheimgang gäbe. Deshalb habe ich sie geholt.«

    Das leuchtete mir ein. Und seine Annahme, dass sie den Eispalast am besten kannte, war gar nicht so weit hergeholt. Und dennoch kam keine Erleichterung. Denn was ich mit Sicherheit sagen konnte, war das: Tira war nicht hier.

    »Es gibt keine Geheimgänge«, sagte Raven mit einem traurigen Unterton. »Sie schlug vor, wenn es eine Hinrichtung gäbe, könnte man damit argumentieren, dass alle Gefangenen dabei zusehen sollten, damit du aufgibst, Daisy. Es ergab Sinn. Die Idee … hatten wir auch schon, aber direkt wieder verworfen, weil wir euch alle retten wollten.«

    Ich wusste, worauf er hinauswollte, konnte meinen Gedanken aber nicht fassen.

    Es war Lord Avos, der es aussprach. »Sie schlug sich selbst als Köder vor.«

    Raven nickte betreten.

    Geräuschvoll atmete ich aus und schüttelte fassungslos den Kopf. Das durfte nicht wahr sein!

    »Wir gehen davon aus, dass Tajo sie trotz eurem Verschwinden getötet hat«, sagte Runa leise und eine unausgesprochene Entschuldigung schwang mit.

    »Das heißt, es ist nicht sicher? Wir könnten zurückgehen und nachsehen«, schlug Annie vor und deutete mit dem Daumen hinter sich.

    »Ausgeschlossen«, erwiderte Crow mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete.

    Ich öffnete den Mund und wollte ihm eine Ansage erteilen, aber Lord Avos kam mir zuvor. »Es ist zu gefährlich für uns alle. Man kennt unsere Gesichter. Wir würden sofort festgenommen werden.«

    Mein Blick fiel auf Cerva, die zwischen ihren großen Brüdern wie ein dürrer Grashalm wirkte, der bei der nächsten Windböe umgeknickt werden könnte. Und dann dachte ich an Tira und dass sie die einzige ihrer Familie gewesen war, die Auroras Herrschaft überlebt hatte.

    All die Zeit hatte ich angenommen, sie wäre schwach gewesen. Hatte es für ein Wunder gehalten, dass sie solange durchgehalten hatte.

    Und am Ende war sie mutiger gewesen als wir alle zusammen.

    Ich seufzte, dann fragte ich: »Wie soll es weitergehen?«

    6

    Echo der Erinnerung

    Der Plan war einfach. Alle ehemals Gefangenen bekamen allesamt merkwürdige Perücken aus unterschiedlichen Federn, die wir aufsetzen mussten.

    »Sind die nicht eher kontraproduktiv was das Nicht-Auffallen betrifft?«, fragte Quinn zögernd.

    »Nein«, entgegnete Raven schmunzelnd. »Ihr Lasins habt diverse Vorurteile uns Vögeln gegenüber. Eines davon

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1