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Aufbruch nach Sempera
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eBook349 Seiten4 Stunden

Aufbruch nach Sempera

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Über dieses E-Book

Die sechzehnjährige Daisy Demerath ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Während ihre früheren Klassenkameradinnen Listen schreiben, mit welchen Stars sie ins Bett gehen würden, führt sie eine Liste mit ihren persönlichen Worst-Case-Szenarien. Seit drei Jahren hat sie nicht mehr das Haus verlassen. Eines Abends jedoch muss sie vor die Tür treten, um den Müll nach draußen zu bringen, und gerät prompt in Schwierigkeiten. Wenn sie gewusst hätte, welches Abenteuer auf sie wartet, wäre sie vermutlich drinnen geblieben – und wäre nie in eine Parallelwelt hineingeraten, in der Gestaltwandler ihr Unwesen treiben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum14. Juli 2017
ISBN9783946843207
Aufbruch nach Sempera

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    Buchvorschau

    Aufbruch nach Sempera - Tatjana Zanot

    Hexe

    1

    Das allerschlimmste, was passieren könnte.

    Mein Leben war schrecklich.

    Genervt, von mir selbst, seufzte ich und scrollte weiter gelangweilt durchs soziale Netzwerk. Das hieß allerdings nicht, dass ich sonderlich viele virale Freunde hatte. Wenn, dann nur solche, mit denen ich seit drei Jahren kein echtes Wort mehr gesprochen hatte.

    Solange war es nämlich her, dass ich das Haus verlassen hatte.

    Und mein Leben war auch nicht schrecklich-schrecklich. Im Grunde genommen war es bloß… anders, als es sein sollte. Aber mein Therapeut dichtete mir neuerdings einen depressiven Schub an, der sich – wie er es ausdrückte – echt gewaschen hatte, und allmählich glaubte ich ihm auch.

    Ich war 16 Jahre alt.

    Andere Mädchen in meinem Alter hatten ihren ersten Freund, mussten ihren ersten Frauenarztbesuch über sich ergehen lassen oder fingen ihre Ausbildung an.

    Und ich?

    Ich hatte weder einen festen Freund, noch eine Art Freundin, mit der ich über Jungs hätte fachsimpeln können. Der Frauenarztbesuch erübrigte sich von selbst – wer nicht rausgehen konnte, hatte auch keine Arzttermine, so einfach war das. Und eine Ausbildung lag nicht einmal in Reichweite. Noch wurde ich zu Hause unterrichtet, und meine Ärzte kamen immer direkt zu mir, wenn ich sie brauchte.

    Ich war ein Sonderfall.

    Ein Teil von mir wünschte sich, an dieser Stelle behaupten zu können, an irgendeiner seltenen Krankheit wie der Mondkrankheit zu leiden, oder behindert zu sein. Aber nein, es waren lediglich Panikattacken, die mir mein Leben zur Hölle machten.

    Ja, ich weiß, man sollte psychische Krankheiten nicht herunter reden. So lapidar, wie es aus meinem Mund vielleicht so manches Mal herauskam, war es auch ganz sicher nicht. Immerhin gestalteten meine Angstzustände mein Leben schon seit – na ja, eigentlich seit ich denken kann.

    Vor drei Jahren war es ganz besonders schlimm geworden.

    So schlimm, dass ich mich vollends von Freunden, Lagerfeuern oder Tagen am See verabschieden musste.

    Die meisten verstanden das nicht. Sie dachten, ich müsste einfach nur durch die Tür gehen und alles wäre wieder gut. Die Schlimmsten von ihnen glaubten, ich würde nur simulieren. Diverse Nachbarn sagten, ich sollte mich nicht so anstellen. Jeder hatte mal einen schlechten Tag oder keine Lust aufzustehen.

    Nur die Allerwenigsten verstanden, dass ich keine Wahl hatte. Dass es eine Krankheit war.

    Eine psychische Krankheit konnte man sich genauso wenig aussuchen, wie seine Sexualität oder Hautfarbe.

    Und wenn ich es mir hätte aussuchen können, hätte ich mir garantiert nichts ausgesucht, was mich davon abhielt, ein normales Leben zu führen.

    Das war natürlich nur so daher gesagt. Mir war durchaus bewusst, dass ich nicht schlechter dran war als ein Mädchen mit Depressionen oder Magersucht. Ich war mir ziemlich sicher, dass diejenigen, die irgendwas Undefinierbares hatten, viel schlimmer dran waren als ich, sich zumindest an eine Diagnose klammern konnten.

    Es ist nämlich so – und das verstanden noch viel weniger Leute als so schon – in dem Augenblick, in dem du deine Diagnose erhältst, wird deine Krankheit zu deinem allerbesten Freund und schlimmsten Feind zugleich.

    Das klang total absurd. Und mir fehlten ehrlich gesagt die Worte, dieses Phänomen zu erklären.

    Meine Krankheit hielt mich fest. Sie sorgte dafür, dass ich wie eine Pest-Kranke drinnen blieb, sogar an sonnigen Sommertagen. Jedes mal, wenn ich Bilder von anderen Jugendlichen sah, wie sie fröhlich an Lagerfeuern saßen, wurde ich ganz wehmütig.

    Und gleichzeitig war meine Krankheit alles, was ich hatte.

    Jeder hatte doch sein Etikett. Es gab die Pferde-Mädchen, die Sportler, die Kreativen. Die Mathematiker, die Stylischen, den Klassenclown. Sogar die, die ganz unten in den schulischen Schubladen steckten, hatten ihr Etikett.

    Und meins war eben die Irre.

    Das war okay. Ich hatte mich damit abgefunden. Wenn Nadja irgendwann an Altersschwäche verstarb, blieb ich einfach allein in der Wohnung. Um wenigstens eine Katze – oder 45 – zu kaufen - Um dem gängigen Klischee zu entsprechen, musste ich ja auch das Haus verlassen. Außer man konnte in ein paar Jahren Haustiere per Mausklick kaufen…

    Nadja war übrigens die Heilige, die mich nach mehreren Pflegefamilien aufgenommen hatte. Sie hatte ihr Heim zu meinem gemacht, und als ich nicht mehr zur Schule gehen konnte, hatte sie mir eine Komplettrenovierung des Gästezimmers geschenkt, damit ich mit meinem kindlichen Hirn endlich raffte, dass ich bei ihr bleiben kann. Sie wollte mich. Für Nadja war ich die Tochter, die sie nie durch ihre Lenden pressen musste.

    Wenn sie keine Heilige war, dann war das der Papst auch nicht.

    Ich atmete ein weiteres Mal seufzend aus und starrte auf den Bildschirm. Da waren Bilder von ehemaligen Klassenkameraden, aber auch von Leuten, die ich in dem ein oder anderen Forum kennengelernt hatte. Von denen kannte ich keinen persönlich. Die posteten allerdings auch keine Bilder, die mich neidisch werden ließen.

    Manchmal, wie jetzt, stellte ich mir vor, dass ich ein Teil dieser strahlenden Welt meiner früheren Mitschülerinnen war. Wie sie mich auf einem Foto von einer Party mit Alkopops verlinkten und etwas drunter schrieben wie: Daisy, du hast mal wieder alle unter‘n Tisch gesoffen, hahaha!

    Oder auf einem Foto, wo ich mich gegen die Brust eines wahnsinnig gutaussehenden Typens lehnte, so á la Jannis Niewöhner, mit dem dazu passenden Kommentar: Du bist die Liebe meines Lebens.

    Und diese Träume, oder eher Wunschvorstellungen, machten mich jedes Mal aufs Neue unglücklich; nicht, weil ich wusste, dass sie total unrealistisch waren, sondern weil es mich schlicht nervte, dass ich trotz dieser echt beschissenen Panikattacken, die mich anders als alle anderen machten, im Grunde genommen doch genauso war wie alle anderen 16-Jährigen Mädchen.

    Das nervte mich so sehr, dass ich mir etwas ganz Eigenes ausgedacht hatte. Eine Art Spiel, welches ich mit mir selbst spielen musste.

    Ich wusste, dass manche Mädchen eine Liste mit den Stars führten, mit denen es okay wäre, ihren mehr oder minder vorhandenen Partner zu betrügen. Und um mich von eben diesen Mädchen abzugrenzen, führte ich in meinem Kopf eine Liste mit den allerschlimmsten Dingen, die in meinem Leben passieren könnten.

    Ironischerweise stand ganz oben auf meiner persönlichen Worst-Case-Szenarien-Liste: Schwanger werden.

    Ich musste zugeben, sonderlich viele Gedanken machte ich mir bei der Liste nicht. Denn um überhaupt das Risiko einer Schwangerschaft einzugehen, bräuchte man einen Kerl, der mit einem schlafen wollte – im Idealfall war das der feste Freund.

    Da es in meiner Reichweite niemanden gab, der mit mir intim werden wollte, konnte ich diesen Punkt genauso gut wieder streichen.

    An zweiter Stelle stand: Genau in dem Augenblick, wenn ich mein schwarzgefärbtes Haar für lang genug empfand, an Krebs zu erkranken und eine Chemo machen zu müssen.

    Das klang makaberer, als ich es meinte, weshalb es ganz gut war, dass diese Liste nur in meinem Kopf existierte.

    Es gab nicht vieles, was ich so richtig an mir mochte. Ich war an den falschen Stellen knochig oder zu flach, und nahm an den ungünstigsten Stellen zu – wenn ich überhaupt zunahm. Meine Augen waren so hellblau, dass ich manchmal selbst erschrak, wenn ich in den Spiegel schaute. Zusammen mit meinen fliederfarbenen Augenringen und meiner noch dazu viel zu blassen Haut, gehörte ich eher Geisterwesen an als den Homo sapiens.

    An meinem Körper konnte ich allerdings nichts ändern.

    Aber ich konnte mich um meine Haare kümmern. Sie waren inzwischen lang genug, um meine kleine Oberweite zu kaschieren. Immer, wenn ich es für nötig hielt, schnitt Nadja mir die Spitzen mit einer Schere, die sie sich extra dafür angeschafft hatte.

    Seht ihr? Ich musste gar nicht zwangsläufig das Haus verlassen. Nadja sorgte dafür, dass alles Notwendige in unseren vier Wänden zu finden war.

    An dritter Stelle meiner Liste stand: Von Aliens entführt werden.

    Man sollte meinen, dass wäre der Wunsch eines Mädchens, das nie das Haus verließ, aber ich dachte dabei an die Zeit nach der Entführung. Wenn die Aliens mich wieder aussetzten, irgendwelche Menschen mich im Nirgendwo aufgabelten und zur Polizei brachten, wo ich verhört werden würde, nur, um am Ende noch viel verrückter da zu stehen.

    Dann war ich nicht nur die Irre, sondern der irre Freak.

    Und an vierter Stelle stand: Zum fünften Mal die Pflegefamilie wechseln zu müssen.

    Ich glaubte zwar nicht, dass Nadja mir das antun würde, und vermutlich würde das Pflegesystem mich im Falle eines Falles eher ins betreute Wohnen schicken, aber die Angst war unterschwellig immer schon da gewesen; seit dem Tag, an dem Nadja mich zu sich geholt hatte. Immerhin schränkte ich ihr Leben auch ein. Von ihren Männern, die sie hin und wieder traf, war bisher keiner länger geblieben.

    Auf meinem Schreibtischstuhl zog ich meine Knie an mich, fuhr deprimiert meinen Computer herunter und pulte an den Fusseln meiner dunkelblauen Jogginghose herum.

    Das hasste ich am meisten an meiner Krankheit: Sie beeinflusste nicht nur mich, sondern auch Nadja.

    Manchmal, wenn ich nachts nicht schlafen konnte, setzte ich mich an mein Fenster und schaute in den nächtlichen Himmel. Ich betrachtete die Sterne und fragte mich, ob meine Eltern da oben waren und wenn ja, warum sie nicht besser auf mich aufgepasst hatten.

    Und jedes Mal, wenn ich eine Sternschnuppe entdeckte, wünschte ich mir, gesund zu sein.

    Ich wollte ja niemand anderes sein. Ich fand mich unter den gegebenen Umständen ziemlich okay.

    Aber ich wäre gern eine bessere Version meiner selbst. Eine Version ohne Panikattacken. Und am besten ohne das schwarz gefärbte Haar, weil mich die Farbe noch viel blasser aussehen ließ.

    Ich zuckte zusammen, als Nadja an meine Zimmertür klopfte. „Essen ist fertig!", rief sie und ich hörte, wie sie sich wieder entfernte.

    Das liebte ich am meisten an ihr: Sie ließ mir meinen Freiraum.

    Und dann musste ich lächeln, weil ich wusste, dass ich trotz all der miesen Umstände, gar nicht so schlecht dran war. Wie sagte man immer so schön?

    Es hätte auch schlimmer kommen können.

    2

    Die Katze

    „So richtig gewöhnen kann ich mich an die schwarzen Haare ja nicht", merkte Nadja beim samstäglichen Abendessen an.

    Es war warm, draußen mussten es noch um die 25 Grad sein. Sie hatte die Balkontür und das Küchenfenster geöffnet, damit ein sanfter Durchzug herrschte.

    Ich stocherte in meinen Kartoffeln herum. „Wenn es dich tröstet: ich auch nicht."

    „Hm", machte sie und nahm einen Bissen von ihrem Fleisch. Sie ließ sich ganz besonders viel Zeit beim Kauen. Vermutlich dachte sie über irgendetwas nach.

    Vor ein paar Tagen war ich auf die intelligente Idee gekommen, mein Haar schwarz zu färben. Inzwischen bereute ich es. Meine Haut wirkte dadurch beinahe durchscheinend, und meine Augen unnatürlich blau, als wäre ich eine wandelnde Leiche. Damit es besser aussah, hatte ich mir gestern meine Augenbrauen auch gefärbt, fühlte mich aber tatsächlich noch unwohler als vorher.„Du könntest sie nochmal färben", schlug Nadja vor, nachdem sie ihren Bissen heruntergeschluckt hatte.

    Ich grunzte. „Klar, weil Blondieren auch so einfach ist."

    „Ich zahl dir das Färben, wenn du zu einem Friseur gehen möchtest."

    Sie schielte vorsichtig über den Tisch hinweg, und ich blickte unverhohlen zu ihr und hob meine Augenbrauen. Besser gesagt: Die schwarzen Balken an der Stelle, wo mal meine Augenbrauen gewesen waren. Ich bezeichnete diese Prozedur als meinen abfälligen Dein-Ernst?!-Blick.

    „Ja, ja, seufzte Nadja und schob eine kleine Kartoffel durch ihre braune Sauce. „Es war nur so ein Gedanke.

    Jetzt war ich es, die seufzen wollte, allerdings unterdrückte ich den Impuls. Es ging ihr nicht um das Geld, welches sie sparen würde, wenn ich wie jede andere Sechzehnjährige auch zur Schule gehen würde.

    Es ging ihr um das, was sich jede Mutter oder Mutterähnliche ihrem Kind wünscht: Ein ganz normales Leben, mit dem ganz normalen Wahnsinn.

    Aber den gab es nicht für mich.

    Es gab Tage, da traute ich mich nicht einmal aus dem Bett. Dann lag eine unglaublich schwere Last auf meinen Schultern, die mich daran hinderte, aufzustehen. Manchmal sogar daran zu atmen.

    Nach dem Abendessen räumten wir gemeinsam den Tisch ab.

    „Wie geht es… Thomas?", fragte ich in einem unbefangenen Ton.

    Sie grunzte. „Tobias. Und ehrlich, ich wünschte, du hättest ihn anders kennengelernt."

    Ich kicherte. „Du meinst: Nicht unbedingt in unserer Küche?"

    „Nicht unbedingt nackt."

    „Und auch nicht in unserer Küche."

    Sie warf mir einen entschuldigenden Blick zu. „Ehrlich, Daisy. Das war so nicht geplant."

    Ich zuckte mit den Schultern und stellte unsere Gläser auf die Spüle. „Ich bin froh, wenn du nicht alleine bist."

    „Ach, ich bin doch nicht allein, gab sie zurück, öffnete den Geschirrspüler und sortierte unsere Teller hinein. „Ich hab doch dich.

    „Ja, aber mit mir hast du keinen -"

    Ich unterbrach mich selbst und spürte, wie meine Wangen ganz heiß wurden. Ich wollte nicht über Sex nachdenken. Für gewöhnlich hielt ich mich an die Devise: Zerbrich dir nur über Dinge den Kopf, die dich tatsächlich tangierten.

    Und das war nicht Sex. Es gab kein besseres Verhütungsmittel als Angstzustände, sobald man das Haus verlassen wollte.

    Aber mit den Jahren dachte ich immer öfter daran. Ich fragte mich, wie viele Mädchen aus meiner alten Klasse es schon hinter sich hatten. Wie viele Jungs sich wohl heimlich einen runterholten.

    Und jedes Mal schüttelte ich, angewidert von mir selbst, den Kopf. Ich sollte mich nicht fragen, wann es endlich bei mir so weit sein würde. Und wie es sich anfühlte. Waren die Schmerzen auszuhalten? Oder würde ich in Ohnmacht fallen?

    Oh mein Gott, das wäre ja mega peinlich. Oder eine Panikattacke. Und während er dann genüsslich stöhnte, während er zum Höhepunkt kam, bekam ich keine Luft mehr, und er würde meine Angst mit Lust verwechseln und einfach weitermachen.

    Und Zack hatte mein Hirn Sex mit etwas Schlechtem verbunden, und zu der Ausgeh-Phobie gesellte sich eine Geschlechtsverkehr-Angst.

    Okay, so leicht funktionierte das mit den Ängsten auch nicht. Sie waren nicht einfach da. Im Grunde genommen hatte ich schon mein ganzes Leben lang Ängste gehabt. Sie hatten tief in mir geschlummert und sich dann mit einem lauten: „Überraschung!", in meiner Seele festgesetzt.

    Ich hob meine Hand und massierte meine Schläfe. Mein Kopf fühlte sich an wie das Gehäuse eines Karussells. Und obwohl ich wusste, wie schwachsinnig es war, sich wegen etwas verrückt zu machen, dass vermutlich niemals eintreten würde, konnte ich es nicht abstellen.

    „Schätzchen, woran denkst du nur schon wieder?", holte Nadja mich in die Realität zurück.

    Ich zuckte mit den Schultern. „Es gibt Kulturkreise, da wäre ich jetzt schon zum zweiten Mal schwanger."

    „Dann sind wir froh, dass du in unserem Kulturkreis die Zeit bekommst, gesund zu werden." Sie streckte ihren Arm aus und strich mir sanft über den Oberarm.

    Dieses wir war zu ihrem Ding geworden. Sie sagte immer so etwas. Wir würden das schaffen. Wir gehen einkaufen. Wir haben Tante Margarethe zum Geburtstag gratuliert.

    In den meisten Fällen tat sie all diese Dinge allein. Ich war bloß eine Art Amöbe, die hinter ihr herschwamm. Falls Amöben überhaupt schwammen.

    Etwas in mir krampfte sich zusammen, noch bevor ich den Entschluss gefasst hatte.

    Es war bewundernswert, wie das Unterbewusstsein funktionierte. Wie es Informationen aufnahm, noch ehe sie ins Hirn gelangt waren. Oder lag das Unterbewusstsein einfach in einem Teil des Hirns, auf den ich so nicht zurückgreifen konnte?

    Interessante Vorstellung.

    „Kann ich den Müll rausbringen?", fragte ich.

    Als die Worte herauspurzelten, machte der Krampf auf einmal Sinn. So lief das immer bei mir ab. Wenn ich etwas tun musste/sollte/wollte, was meiner Angst gegen den Strich ging, verkrampfte ich mich innerlich. Es fühlte sich an, als hätte jemand mehrere Seile um meine Organe gesponnen, die er mit einem Mal fest zusammenzog.

    Nadja warf mir einen Blick zu. Ich wartete ebenso. Horchte in mich hinein. Aber nein, der Krampf verschlimmerte sich nicht. Er blieb erträglich.

    Ich setzte ein Lächeln auf. „Bitte?"

    Nadja entspannte sich sichtlich und nickte. „Klar. Aber bleib nicht zu lange draußen." Um ihre eigene Anspannung zu vertuschen, zwinkerte sie mir zu.

    Ironie war ihre Art, damit fertig zu werden.

    „Selbstverständlich", gab ich zurück, nahm die Mülltüte aus dem Eimer heraus und zog mir im Flur graue Turnschuhe an, ehe ich die Wohnung verließ.

    In einem Anfall von: Ich suche nach Gleichgesinnten, hatte ich mal im Internet nach Blogs oder Foren über Angststörungen gesucht. Ich war natürlich fündig geworden, im Internet fand man so ziemlich alles, aber die meisten sprachen nur über sich selbst.

    Nirgends kamen die Angehörigen zu Wort.

    Und das war etwas, das mich maßlos ärgerte.

    Meine Krankheit betraf nicht nur mich. Klar, ich war die Hauptleidende, aber Nadja war eben auch ein Teil dieses Puzzles. Sie war diejenige, die ihr Leben umkrempelte, ohne einen echten Grund zu haben.

    Manchmal glaubte ich, es wäre besser für sie, wenn sie Leute kennen würde, die ebenfalls ein psychisch krankes Kind zu Hause hatten.

    Ich öffnete die Eingangstür und trat hinaus in die Dämmerung. Es war ein warmer Tag gewesen. Ich konnte die Wärme der Sonne auf meiner Haut spüren, obwohl sie nicht mehr direkt da war; als würde meine Haut sich an jene Tage erinnern, die ich tatsächlich draußen verbracht hatte.

    Ich griff fester um den Müllsack herum. Atmete tief ein.

    Augenblicklich beschleunigte sich mein Herzschlag.

    Hier ist niemand, dachte ich genervt von mir selbst. Ich schaute mich suchend um, aber ich war tatsächlich allein.

    Oh, doch nicht.

    Auf der grünen Tonne hockte eine schwarz-braun getigerte Katze. Sie musterte mich, während ich näherkam.

    Meine Nackenhaare stellten sich auf. „Herrgott, Daisy. Das ist nur eine Katze", schalt ich mich selbst, fasste aber dennoch fester um den Müllsack, als müsste ich mich gleich verteidigen.

    Als ich bei der grünen Mülltonne ankam, saß die Katze noch immer darauf und sah mich an.

    Ich starrte zurück.

    Einen Moment lang bewegte sich keiner von uns. Als sie plötzlich ihren Schwanz hob, zuckte ich erschrocken zusammen.

    Adrenalin schoss durch meine Venen. In meinen Fingerspitzen kribbelte es, als würden sie gleich taub werden. Es ärgerte mich, dass ich nur einer schlecht platzierten Katze über den Weg laufen musste, um kurz vor einer Panikattacke zu stehen.

    Mit meiner linken Hand machte ich eine halbherzige, scheuchende Bewegung. „Husch", murmelte ich, klang aber genauso unglaubwürdig wie ein dickes Kind, das mit gierigem Blick und sabberndem Mund auf ein drittes Stück Sahnetorte verzichtete.

    Die Katze bewegte sich keinen Zentimeter. Während ihr Schwanz hin und her schwankte, sah sie mich mit ihren grünen Augen erwartungsvoll an. Wenn ich es nicht besser wüsste, hätte ich geglaubt, sie würde mich mit ihrem Blick auslachen.

    Vorsichtig stellte ich die Mülltüte ab und schaute mich um. Ich entdeckte einen Stein und nahm ihn. Er war nicht groß genug, um sie ernsthaft zu verletzen, aber ich hoffte, sie immerhin zu verscheuchen.

    Während ich meinen Arm hob, verdrängte ich mein schlechtes Gewissen.

    Wenn ich jemand mit einer dröhnenden Stimme wäre, wäre sie vielleicht von selbst abgehauen… Vielleicht wirkte mein ganzes Auftreten auch einfach nur schwach und minderbemittelt.

    Ich atmete tief ein, holte aus und warf den Stein in Richtung der Katze.

    Dummerweise verfehlte ich mein Ziel.

    Ich wollte sie natürlich nicht direkt treffen! Ich hatte nichts gegen Tiere. Ich wollte zwar nie ein Haustier haben – nicht einmal Fische – aber ich hasste sie auch nicht. Tante Margarethe hatte einen blinden Labrador, den Nadja immer in Pflege nahm, wenn sie in den Urlaub fuhr, und mit dem kam ich auch ganz gut klar.

    So okay ich Tiere auch fand, ungefähr gleichermaßen schlecht war ich im Werfen.

    Der Stein traf die Katze an ihrer Brust. Sie miaute elendig auf und sprang erschrocken in die Hecke, die die Mülltonnen vor der Straße verbargen.

    „Oh, verdammt!", entfuhr es mir. Hastig nahm ich die Mülltüte und schmiss sie in die Tonne.

    Anschließend trat ich suchend hinter die Hecke. „Das tut mir echt Leid", murmelte ich vor mich hin, während ich nach der Katze Ausschau hielt. Ich glaubte zwar nicht, dass sie mich verstand, aber mein Gewissen beruhigte es.

    Als sie ein wütendes Fauchen von sich gab, entdeckte ich sie auf der anderen Straßenseite. Es kam mir so vor, als hätte sie ihre Augen zusammengekniffen, um mich ganz besonders böse anzufunkeln.

    Ich schluckte. „Hey, Kätzchen, versuchte ich es einladend und trat mit ausgestreckter Hand auf die Straße. In gebückter Haltung näherte ich mich der Katze. „Mietz-Mietz.

    Sie gab ein Schnauben von sich.

    Ein Schnauben? Ich schüttelte den Kopf. Es musste ein Fauchen gewesen sein.

    Die Katze stand leichtfüßig auf und wollte davon marschieren, als plötzlich ein Auto mit quietschenden Reifen um die Ecke bog.

    Die Straßenecke, die nur fünf Meter entfernt war.

    Ich starrte erschrocken das Auto an. Es war ein kleiner, blauer Wagen. Und er kam immer näher, viel zu schnell, würde nicht mehr rechtzeitig bremsen können.

    In jener Sekunde geschahen zwei Dinge gleichzeitig: Die Katze hielt inne, drehte sich blitzschnell um und sprang auf mich zu, und mein Inneres krampfte sich so sehr zusammen, dass ich einen schmerzerfüllten Schrei nicht unterdrücken konnte.

    Und dann flog ich.

    3

    In der Dachshöhle

    Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass man in den Sekunden kurz vor seinem Tod sein bisheriges Leben an sich vorbeiziehen sah.

    Vielleicht lag es an meinen nicht vorhandenen, spannenden Erlebnissen, aber diese Annahme konnte ich nicht bestätigen.

    Ehrlich gesagt dachte ich an Nadja. An all die Dinge, die sie tun könnte, jetzt, wo sie sich nicht mehr um mich kümmern musste. Erst da, während ich durch die Luft flog, in den Millisekunden vor dem tödlichen Aufprall, wurde mir klar, was für ein Klotz ich an ihrem Bein gewesen war.

    Ich meine, im Grunde genommen wusste ich das schon immer. Aber so richtig begriffen hatte ich das nie.

    Ich hoffte, sie würde wieder mit ihren Freundinnen ausgehen. Die Freitagabende in irgendeiner Bar verbringen. Sie würde auch nicht mehr warten müssen, bis der Kinofilm, den sie unbedingt hatte schauen wollen, endlich auf DVD erschienen war. Sie konnte sich einfach ihre Tasche packen und losziehen. Ungebunden, frei.

    Wenn ich so darüber nachdachte, musste sie wohl eine Heldin sein, weil sie mich so lange ausgehalten hatte.

    Es stimmte mich traurig zu wissen, dass niemals eine Straße nach ihr benannt werden würde.

    Ich seufzte. Und dann war ich etwas genervt von mir selbst, dass ich kurz vor meinem Tod traurig seufzte. Viel schlimmer war allerdings die Tatsache, dass mein schier endloser Fall in meinen Tod das spannendste Erlebnis meiner ganzen Existenz darstellte.

    Ich kniff meine Augen zusammen und wartete. Ich spürte den Wind durch meine Haare flattern. Welch Schande, ich würde niemals das neue Buch von Cody McFadyen lesen, obwohl ich seit vier Jahren sehnsüchtig darauf wartete.

    Und dann hörte mein Fall auf. Ganz plötzlich.

    Ich landete auf weichem Untergrund, konnte feuchtes Laub riechen.

    Wenn sich Sterben immer so anfühlte, könnte ich es direkt ein zweites Mal tun.

    „Bei allen Göttern, willst du hier überwintern?!"

    Die Stimme war männlich, klang irgendwie spitz, und hatte einen arroganten Unterton.

    Bis zu diesem Augenblick hatte ich nicht gewusst, dass eine Stimme spitz sein konnte.

    Was würde mich wohl erwarten? Ich hatte mir nie Gedanken über den Himmel gemacht. Seit ich denken konnte, bedeutete der Tod das Verschwinden von geliebten Menschen. Mehr nicht. Ich hatte mich nie gefragt, wo meine Eltern jetzt wohl waren, weil es so oder so nichts daran änderte, dass sie mich verlassen hatten.

    Als ich meine Augen öffnete, wusste ich allerdings, dass ich damit nicht gerechnet hatte.

    Ich lag in einem Laubhaufen unter einem Trio kahl werdender Bäume. Und mit Trio meinte ich tatsächlich Trio: ich lag in der Mitte von drei Bäumen. Mehr

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