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Pause für Wanzka: oder die Reise nach Decansar
Pause für Wanzka: oder die Reise nach Decansar
Pause für Wanzka: oder die Reise nach Decansar
eBook357 Seiten5 Stunden

Pause für Wanzka: oder die Reise nach Decansar

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Über dieses E-Book

Der Kampf eines Lehrers um einen Schüler.
Eigentlich will Gustav Wanzka sich zur Ruhe begeben, eine Reise antreten, zu sich kommen. Eigentlich. Denn die Frage, was habe ich im zurückliegenden Leben richtig gemacht, was falsch, kann er nicht verdrängen. Und so beginnt er sie aufzu- schreiben, die Geschichte des Lehrers Wanzka. Der Schulrat wurde und eines Tages doch noch mal zu unterrichten beginnt. Und der dabei viel lernen wird – über ein Bildungssystem, das die Kinder oft nicht im Auge hat, das nicht zurechtkommt mit unangepassten jungen Menschen. Deren Stärken vielleicht erkannt, aber damit noch lange nicht gefördert werden.
"Pause für Wanzka" gehört zu den wichtigsten und am meisten gelesenen DDR-Romanen. Auch wenn das bewegende Buch und sein Autor oft angefeindet wurden, waren Generationen von Leserinnen und Lesern von der Geschichte um den alten Schulrat mitgerissen. Nun erscheint die Neuauflage des Buches, das mit Kurt Böwe und Claudia Michelsen auch verfilmt wurde.
SpracheDeutsch
HerausgeberHinstorff Verlag
Erscheinungsdatum1. März 2020
ISBN9783356023169
Pause für Wanzka: oder die Reise nach Decansar

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    Buchvorschau

    Pause für Wanzka - Alfred Wellm

    KAPITEL

    I

    ERSTES KAPITEL

    1 Ja, die Reise. Nun werde ich sie antreten, die Reise nach Descansar. Ich muß gestehen, daß eine unbändige Freude auf diese weite Reise in mir ist; und ich kann es mir nicht verzeihen, ich hab sie viel zu oft hinausgeschoben.

    Es ist zehn Minuten nach vier – wie an allen Tagen, wenn ich wach werde. Die Fliegen summen, im wilden Wein draußen tschilpen die Sperlinge. Auf meinem Tisch dort steht ein Globus, beklebt, beschrieben; und der Nordpol liegt wohl wirklich im Stillen Ozean. Der Südpol wiederum … Nein, mit der Reise hat das nichts zu tun. Jemand hat den Globus eines Winters bunt beschrieben, nun steht der Globus drüben auf dem Tisch; es sieht nur lustig aus, daß der Nordpol im Pazifik ist.

    Ich bleibe still liegen; denn ich will alles auskosten. Vielleicht, daß ein Buch umschlägt im Regal. Oder ein Ton klingt auf, und im Geigenkasten ist eine Saite gesprungen. Ich warte, warte – daß etwas geschieht. Warum um alles sollte ich nicht diese Reise machen! Ich habe keinen Hund, den ich versorgen müßte, die vier Blumentöpfe trage ich hinüber zu Frau Pegelow. Nein, ich habe keine Pflichten mehr. Das ist kaum zu begreifen; aber ab heute habe ich nur Zeit, undenkbar viel Zeit …

    Für diesen Tag habe ich mir einiges vorgenommen. Doch morgen, morgen trete ich die langersehnte Reise an.

    2 Die Straßen kommen mir vor, als ginge ich sie das erste Mal entlang, die Breitscheidstraße, der Töpferweg. Ich gehe wie ein Sommergast, ich bleibe stehen und sehe mir die Hausgiebel an. Auf dem First glitzert der Tau. Ich freue mich über die bunten Ziegelschuppen auf einem schmalen eingepferchten Dach.

    Aber dann ist es acht, und der Fischladen wird geöffnet. Der Fischladen liegt vier Treppenstufen tiefer als die Straße.

    „Bitte, sage ich, „ich hätte gerne Aale. Fünf, sechs Aale, sagen wir, jeder ein gutes …

    Nicht einen Aal?

    „Am Freitag könnte es sein", sagt die Frau.

    „Am Freitag … Aber ich muß sie unbedingt heute haben. Ich will sie nämlich räuchern", erkläre ich. Die Frau hat Gummistiefel an und eine weiße Gummischürze.

    Es sind grüne Heringe da, Barsche, Hechte und etwas Weißfisch. Ich lasse mir sieben Kilo Barsche in die Aktentasche schütten und einen dünnen Hecht dazu.

    „Sie müssen den Hecht in Stücke schneiden, wenn Sie ihn räuchern wollen", sagt die Frau.

    Ich grüße und gehe hinaus. Wem sagt sie das!

    Seit Wochen ist alles vorbereitet. Elf Drahtspieße, das Räucherfaß, zwei Arme mürbes Erlenholz, ein Beutelchen mit Kiefernäpfeln, die sich spreizen vor Trockenheit. Das Räucherfaß habe ich zwischen den Birnbäumen aufgestellt. Das Feuerloch ist ausgehoben, und der Rand ist sorgfältig abgedichtet. Auch zwei Säcke liegen bereit. Es ist kein Wind. Die Luft streicht durch den Garten und wischt nur den Tau aus dem Gras.

    Ich stülpe den Eimer um und fange an, die Fische auszunehmen. Ich sehe, wie meine Hände sich erinnern, wie sie jede Bewegung wiederfinden. Ich reihe die Barsche auf die Spieße und hänge sie zum Trocknen in die Bäume. Den Hecht habe ich in sechs gleich große Stücke geschnitten.

    Ich gehe zehnmal zu den Bäumen, ob die Fische trocken sind.

    Dann sitze ich endlich im Gras und sehe dem Qualm zu, der breiig aus dem nassen Sackleinen sickert. Ich lausche, wie es leise bricht und knistert. Manchmal treibt der Rauch zu mir, und die Augen fangen mir an zu brennen. Das ist gut.

    Die Phantasie, die kluge Gefährtin, bückt sich nach jedem Stück Wahrhaftigkeit, ehe sie sich an den Zauber macht.

    Es riecht nach Kalmus, nach Schlick und jungem Schilf. Das Haffwasser schwätzt zwischen den Kähnen. Und der Rohrsperling spektakelt nebenan. Und ich bin nun wieder der Fischerjunge und liege barfuß vor der Räuchertonne, während der Heide an den Aalreusen hantiert, Maschen zurechtschneidet und sie wieder verknüttet. Ich sinne alten Träumen nach, wie ich selbst der Lilienthal bin und wie ich über den hohen Föhrenwald gesegelt komme. Ich gleite über das Dorf, und der Heide unter mir tritt verwundert zurück. Er schiebt die Netznadel in die Mütze und reckt und dreht sich, auf daß er mich genau verfolgen kann. Der Heide ist so klein dort unten; aber ich kann deutlich erkennen, wie sich ihm die Fältchen an den Augen ziehen, und daß sie ganz starr werden, vor Stolz und lauter Glück …

    3 Der Heide war mein Großvater. Er hatte einen gelben Bart der über die Hälfte des Gesichts verdeckte. Und auch am Sonntag trug er die weißen Gummistiefel. Die Stiefel reichten ihm bis zum Leib.

    Außer der Bibel hatte er drei dicke Lexikonbücher, Band elf, zwölf und Band fünfzehn. Und es sah sehr feierlich aus, wenn der Heide in ihnen las. Im Dorf wurde viel um die magischen Bücher geredet. Mir erklärte der Heide was eine Oase ist oder ein Orakel. Oder er trug mir auf, den Lehrer Bublitz zu befragen, wo Orosius Paulus geboren war. Der Lehrer kannte einen Paulus und etliche Briefe von ihm, aber er kannte nicht den Orosius Paulus, der römische Geschichte geschrieben und aus der spanischen Hafenstadt Tarragona stammte. Der Heide wußte alles, was es gab und was gewesen war, wenn es nur den rechten Anfangsbuchstaben hatte. Ich war der einzige, der in den großen Büchern blättern durfte. Ich sah mir dann die farbigen Tafeln an, die Papageien und die bunten Paradiesvögel.

    Im Herbst, wenn es sonntags zur Kirche läutete, steckten wir zwei das Schlagnetz in den Sack und gingen auf Krähenfang. Der Heide trug den Sack, ich hatte die schwarze Henne unter dem Arm. Es gab etliche Lichtungen auf den Bergen am Haff, an denen wir unsere Krähenbuden hatten. Wir brauchten das Netz nur festzupflöcken und der schwarzen Henne die Brotwürfel hinzustreuen. Wir lagen in der engen Bude aus Fichtenzweigen, hielten beide das Zugseil fest und horchten, ob die Krähenschwärme tiefer kamen. Manchmal brachten wir an fünfzig Krähen mit ins Dorf.

    Ich bin fünfundsechzig Jahre.

    Eine Lokomotive, die ihre Zeit hinter sich hat. Sie ist gelaufen Jahr um Jahr. Es gibt neue Lokomotiven, Diesellokomotiven, es wird elektrifiziert …

    Das Lokomotivenbeispiel gefällt mir nicht. Vor vier Jahren hatte ich rechts ein rheumatisches Reißen. Jetzt tut mir nichts weh. Nein, ich will auch nicht zugeben, daß es nun bessere Lehrer geben wird. Ich nehme drei Stufen auf einmal, ohne das Geländer zu berühren.

    „Aber! Herr Wanzka!"

    Frau Pegelow steht oben mit den Zeitungen. Und ich fasse schnell zum Geländer und gehe, wie es sich gehört.

    „Der Herr Zabel war hier und der Herr Bartureit."

    „So."

    „Sie trugen etwas, aber es war eingewickelt."

    „Sie trugen etwas, nun ja."

    „Sie sagten, daß sie wiederkommen werden. Sie wollen es persönlich überreichen." Und sie hätten gestern eine volle Stunde im Lehrerzimmer gewartet und gewartet; nein, sie hätten sich das alles nicht erklären können.

    „Haben sie gesagt, wann sie kommen werden?‘‘

    „Nein‘‘, sagt Frau Pegelow und überlegt. „Nein, das sagten sie nicht."

    Ich habe mir zwei Bücher mitgebracht. Und eine Pfeife und ein Bündel Pfeifenreiniger. Vor vierzig Jahren habe ich einmal geraucht, dann nicht mehr. Aber die Pfeife gefiel mir, und ich stellte es mir gut vor, während der Fahrt ein neues Buch zu lesen und dabei Pfeife zu rauchen.

    Nun tu ich alles überstürzt. Eine Schlafdecke nehme ich mit, Proviant, Tabak, Streichhölzer.

    Und wieder steht Frau Pegelow auf der Treppe. „Also reisen Sie nun nicht nach Descansar?"

    „Nach Descansar? Natürlich reise ich nach Descansar! Warum sollte ich nicht nach Descansar reisen? frage ich zurück. „Sie hören doch, ja, ich reise ein paar Tage später.

    Ich spüre Frau Pegelows Blick hinter mir, bis ich die große Tür geschlossen habe.

    4 Die lange Nacht sind die Grillen zu hören. Die Sterne glimmen zwischen den schwarzen Kiefernästen. Ich liege weich und warm im Moos und denke an nichts. Und wenn, dann denke ich, daß es nun Sommer ist und Nacht und daß ich hier so liege und höre, wie die Grillen zirpen. Am Himmel steht die Kassiopeia, und es stört mich nur etwas, daß jenes große W so unterschiedliche Winkel hat. Das ist so geringfügig. Sonst stört mich nichts. Es wird zwei, und die Vögel fangen an zu singen. Ich habe nicht geschlafen; aber ich bin sehr ausgeruht. Ich war noch nie so leicht und ausgeruht, finde ich. Mir ist, als hätten diese Tage im Wald viel aus mir herausgeräumt, Fremdes, was nie zu mir gehört und sich doch angesammelt hat, nun fange ich an, wieder ich selbst zu sein.

    Ich rauche. Dann gehe ich zum See hinunter, um mich zu waschen. Darauf esse ich und gehe dann wieder zum See.

    Vor diesen Tagen, gestehe ich, habe ich einmal Angst gehabt. Nun kann ich das nicht begreifen. Die Tage sind ohne Gestern und ohne ein Morgen, sie sind klar und durchsichtig wie das Glas.

    An den Heiden denke ich oft.

    Ich erinnere mich, wie wir beide, der Heide und ich, für die Prüfung lernten. Und dann fuhren wir zwei zur Präparandenanstalt. Und im Zug aßen wir schieren Räucheraal. Und die Mitreisenden stierten auf uns, und wir, wir leckten uns mit Selbstgefallen das Aalfett von den Fingern. Es war im ersten Krieg.

    Wenn ich später den Heiden besuchte, redeten wir über das Molekulargewicht und über die Moleküle, vor allem aber über das Molekulargewicht. Wir gingen dann zu den geteerten Reusen, die zum Trocknen hingen, und zu den Kähnen. Ich mußte auf der Hut sein, der Heide hatte etliche Formeln aus dem Lexikon gelesen. Die Sätze waren hundertmal gewendet und durchdacht. Jedes Jahr ging es um das Molekulargewicht. Der Heide machte eine Philosophie daraus. Genaugesehen hatte alles ein Molekulargewicht, nur der Mensch war ungebildet und ging unachtsam daran vorbei. Das war es doch!

    Wenn ich zur Abfahrt rüstete, änderte der Heide den Gegenstand. Er fing an, Verächtliches über den Bublitz herzureden. Ein Schulmeister, was war das schon! Ho, was war das schon! Ich wußte, dem Heiden war es nicht genug. Er hatte mehr mit mir vor, er wollte einen Professor aus mir machen, einen Mann der Wissenschaft. Er hatte über Winter sehr viele Reusen geknüttet, und er hatte seine Pläne. Ach, dieser Bublitz! Was war der klein und lächerlich gewachsen! Und einmal war der Superintendent im Dorf gewesen, der Bublitz mußte zweimal Atem nehmen, um „Herr Superintendent" zu sagen. Und die Frau Bublitz rannte nach Störfleisch, sie mußte Störfleisch kaufen, weil der Superintendent so gerne …

    „Ja, der Bublitz", sagte ich.

    Ich mochte damals schon den Geruch der Kinder, wenn ich in die Klasse kam. Sie hatten sich schwitzig gerannt, oder die Köpfe und die Jacken waren naß vom warmen Regen … Es war auch eine ganze Portion Neugier dabei. Es reizte mich ungeheuer, ihre Geheimnisse herauszukriegen, die sie so hartnäckig behüteten. Vielleicht ist es immer nur die Neugier gewesen. – Der Heide hat es mir nie ganz verziehen.

    Es sind gläserne Tage. Es liegt keine Zeit zwischen dem, was einmal war. Ich kann hieran und daran denken. Aber es erregt mich nicht.

    Einmal, da war ein Päckchen zurückgekommen. Ein Januartag. In dem Päckchen waren zwei wollene Strickhandschuhe. Die Wolle hatte ich mir bei den Bauern eingetauscht, und meine Frau hatte diese Handschuhe daraus gestrickt. Die Handschuhe waren inwendig mit weichem Fell gefüttert. Aber nun waren sie zurückgekommen. In diesem Feldpostpäckchen. Ich drehte sie, ich befaßte die warmen Stulpen. Die Welt wußte nicht, was geschehen war. Sie hatte einen Leibniz verloren, einen neuen Galilei. Und sie hatte es nicht einmal gewußt.

    Das Jahr liegt greifbar vor mir, da ich den Mathematiker entdeckte. Die Schule hatte jenen weißen Garten, und wir nannten uns „die Kerschensteiner". Ein langer weißer Gartenzaun. Und weiße Bänke. Auf den Beeten weiße Täfelchen. Und die Obstbaumstämme waren stolz und weiß. Und wir arbeiteten mit den Kindern viel in diesem weißen Garten. Und Rektor März hielt für uns Vorträge über die Psychoanalyse, und er kam gar zu oft auf den Ödipuskomplex zu reden, und wir Lehrer nannten ihn für uns den Rektor Ödipus.

    Aber ich hatte einen „Mathematiker" entdeckt. Martin war sechs Jahre alt. Er hatte einen Griffelkasten, eine Schiefertafel; die Schiefertafel hatte einen Sprung, und der Holzrahmen fiel immer ab. Ein unbegreifliches Talent! Er hatte einen zweiten Wirbel im Haar, links über der Stirn, und später trug er die Bücher auf der Hüfte, wenn er aus der Schule ging – nein, äußerlich war nichts Auffälliges an ihm. Im ersten Schuljahr hatte er die schriftliche Division begriffen. Das gibt es nur ein einziges Mal auf der Welt, dachte ich, und dann nur alle hundert Jahre. Mein Glück, das hatte sieben Arme. In meiner Klasse! Dort in der Fensterreihe sitzt der Mathematiker, der, der diese oder jene Theorie entdecken wird. Oder ein bedeutendes System. Oder zwei von den noch unbekannten Elementen … Ich ging abends durch die Stadt und taumelte – damals lernte ich auch Anka kennen.

    Anka war neu in jene Stadt gekommen, und gleich den ersten Tag redete ich sie auf offener Straße an. „Ach Verzeihung, nein, Sie würden mir nicht sagen können, wie ich zu dem Wendenturm hinkomme? – „Zum Wendenturm? Es war so ungeschickt, ausgerechnet nach dem Wendenturm zu fragen, es gab hier keinen Wendenturm; und wie kam ich nur auf diese Frage? „Neinnein, hier an der Peripherie soll er schon sein, behauptete ich fest. „So, Sie sind neu in der Stadt? Darauf bot ich mich an, ihr unsre Stadt zu zeigen – das war alles sehr verwirrt, aber es kam gar nicht auf die Sätze an, die wir nun redeten. Ich hatte Anka nie zuvor gesehen, ich hatte sie nur wahrgenommen, als sie drüben diese Straße überquerte. Und ich dachte, dort käme jenes Mädchen mit der Kerze, wie es Adolph Menzel in ein Bild gemalt hatte, dieselbe Anmut, die ratlosen großen Augen. Nur, Anka hatte blondes Haar.

    Und Rektor Ödipus stellte mich zur Rede, ich käme jetzt zu selten in den weißen Garten, und ich sollte hierauf eine Antwort geben. Ach, ich hätte dieses Jahr mein größtes Glück, sagte ich, ich hätte einen Mathematiker entdeckt, außerdem, ja, ich wäre jetzt verlobt. Aber der Rektor hatte nun viel an mir auszusetzen. Einmal ging er selbst den weiten Weg zu einem Schrankenwärterhäuschen, und er wiegelte dort einen Vater auf. Der Vater sollte mir verbieten, seinen Sohn die Mathematik zu lehren. Auch Rektor März verbot es mir. Ich würde nicht den hohen Sinn verstehen, der hinter den Prinzipien dieser Schule stand, und ich hätte keine Skrupel, einen Sproß aus dem „ihm naturgemäßen Stand" zu schneiden.

    Nein. Und mich störte es nicht so viel, daß ich nun ein schlechter Kerschensteiner war. Anka arbeitete in der Tuchfabrik, aber wir heirateten noch dasselbe Jahr. Und jeden Nachmittag blieb Martin eine Zeit bei uns, und ich unterrichtete ihn zusätzlich in Arithmetik, und Anka spielte sehr gut auf der Mandoline, wir rechneten, und im Nebenzimmer spielte Anka.

    Ein Päckchen war zurückgekommen. Mit den wollenen Strickhandschuhen. Ein Meßkanonier ist gefallen. Eigentlich ist die Schlacht schon aus. Eine letzte Granate, die vorletzte. Die Granate zerreißt in einem Birkenwald …

    Über all dies kann ich lange denken.

    Den Tag über knattern die kleinen Bootsmotoren auf dem See. Dann kommt der Abend. Mit dem Abend schieben sich zwei Kajaks durchs Rohr. Ein Mann mit langen weißen Beinen, das Mädchen mit offenem brünettem Haar. Nun, da ich wiederkomme, steht dort ein kleines Zelt unter den Erlen, dort wo die bunte Kronenwicke blühte.

    Ich bin nachts mehrmals zum Hang gegangen, ob das Zelt noch da ist. Ich setze mich dann unter die Kiefer und rauche eine Pfeife aus. Ein Rohrsperling singt, und auch die Grillen kennen keine Müdigkeit.

    Ich bin zwei Nächte im Wald gewesen. Als ich ins Zimmer trete, steht eine bronzefarbene Büste auf dem Tisch. Neben der Büste ein dicker Blumenstrauß.

    „Frau Pegelow!"

    Ich nehme die Büste, reiße die Blumen aus der Vase. Ich trommele gegen die Tür der Nachbarin. „Frau Pegelow!" Die Büste ist leicht wie ein Pappkarton.

    „Bitte, Frau Pegelow, den einen Gefallen … Ich rede auf sie ein, ich beschwöre sie, alles fortzutragen, die Büste, diesen Blumenstrauß. „Geben Sie es Zabel oder Bartureit, gleichwie, nur schaffen Sie es weg!

    „Aber es ist der Pestalozzi."

    „Schon! Stellen Sie ihn vor die Tür zum Sekretariat meinethalben."

    „Es geht mich nichts an, Herr Wanzka; aber der Pestalozzi …"

    „Bitte, schaffen Sie das aus dem Haus! Um alles in der Welt, sage ich, „ich bitte Sie!

    Mein Atem ist wie wund. Frau Pegelow hat sich die Büste und die Blumen in den Arm drücken lassen. Ich weiß, sie wird gehen und es ausrichten, sie wird alles vor dem Sekretariat auf dem Flur abstellen. Darauf wird sie mit keinem Wort mehr diesen Zwischenfall erwähnen. Ich kenne sie. Ich kenne Frau Pegelow vier ganze Jahre – solange ich in diesem Zimmer wohne. Wir reden nur, was notwendig ist; aber wir kennen uns gut.

    Es klopft.

    „Die Blumen, Herr Wanzka, soll ich die Blumen ebenfalls …?"

    „Alles! Ich sagte es doch."

    Es vergeht eine Minute. Es klopft ein zweites Mal.

    „Aber das Fräulein sagte …"

    Ich werde ungehalten. „Ich habe Sie inständig gebeten", sage ich, „Sie möchten alles nehmen und im Augenblick … Das Fräulein, sagen Sie? Sie haben nie gesagt, daß ein Fräulein … Das Fräulein Marlott ist hier gewesen?‘‘

    „Ja. Gestern nachmittag", sagt Frau Pegelow. Sie legt den Strauß auf meinen Tisch und geht.

    Es sind Kornblumen, blaue und blaßblaue Tremsen, wie sie in den Feldern wachsen. Daß ich das nicht gesehen habe! Eine verwirrende Freude durchrüttelt mich. Marlott! Marlott ist hier gewesen. Sie ist gekommen, um sich zu verabschieden … Aber sie hat mich nun nicht angetroffen. Ich laufe auf den Flur.

    „Bitte, Frau Pegelow, Sie erinnern sich nicht … Ich meine, hat das Fräulein etwas bestellen lassen?"

    „Sie hätte Sie gern selbst gesprochen, sagte sie. Sie sprach von einer Wünschelrute. Sie hatte eine halbe Stunde Zeit, ehe der Zug abfuhr. Und sie war so erschreckt, daß Sie nun gar nicht …"

    „Sie redete von einer Wünschelrute?"

    „Ja. Und sie hätte sich bedanken wollen. Wegen der Wünschelrute, sagte sie. Und jede Blume … sie sagte, jeder Blütenkopf …"

    „Schon gut. Schon gut."

    Ich gehe ins Zimmer.

    Ich ordne die Tremsen, ich zähle einzeln die Tremsen in die Vase. Eine Wünschelrute. Als würde ich mich nicht erinnern! Es sind dreiundsiebzig Tremsen. Wo nur hat sie die vielen Tremsen her, die Felder sind fast alle abgemäht … Wir haben uns einmal um eine Wünschelrute gestritten. Doch, ich erinnere mich. An jede Einzelheit kann ich mich erinnern.

    ZWEITES KAPITEL

    5 In der Bezirksstadt gibt es einen Pförtner, der nichts Auffälliges an sich hat, als daß er eine dicke Brille tragen muß. Tief in den dicken Brillengläsern schwimmen zwei grüne Augen. Aber sie sind so klein und unansehnlich, daß man sie nie betrachtet. Und der Pförtner hat immer einen dunkelblauen Anzug an. Einmal hatte ich den Pförtner in der Stadt getroffen, sonntags, mit einem fünfjährigen Mädchen an der Hand. Sieh an, dachte ich, der Genosse Pförtner hat ein Kind.

    In der Stimme des Pförtners ist nichts, woran man sich erinnern könnte, und es sind meist dieselben Wörter, die er benützt. Er hat ein Lieblingswort, fällt mir ein, das Lieblingswort heißt „grazil".

    „Geh nur durch, Genosse Wanzka. Ja, er ist im Haus", sagte der Pförtner.

    Das war vor gut vier Jahren.

    Ich war immer gern durch dieses Haus gegangen. Links in dem Vorflur führt eine Treppe hoch, dann ist ein langer Korridor. Die Genossen, wenn sie aus den Zimmern kamen, kannten mich. Wir wechselten ein Wort miteinander. Die schwarzen Porträts an den Wänden nickten mir zu.

    „Ja, er ist allein", sagte die Sekretärin.

    Ich klopfte kurz und ging hinein.

    Das kleine Zimmer war bescheiden eingerichtet. Ein Glasschrank mit numerierten Bücherrücken. Über dem Rauchtisch hing ein farbiger Druck. Russische Soldaten während einer Kampfpause. Der eine Soldat hält einen roten Tabaksbeutel in der Hand und dreht sich eine Zigarette, während er erzählt.

    Zibulka stand sofort auf, als er mich sah, und wir setzten uns in die Sessel. Das hatte er immer so getan, wenn ich zu ihm gekommen war. Ich hatte das auch als eine Art Auszeichnung empfunden.

    „Gratuliere!"

    Er ging noch einmal an den Schreibtisch und holte eine Liste.

    „Ich hab mir eben diese Liste angesehen", sagte er. Auf der Liste standen die Kreisnamen des Bezirks, rechts eine Reihe Prozentzahlen. Eine Übersicht versetzungsgefährdeter Schüler von allen Kreisen. Ich sagte wohl auch, daß die Angaben des Kreises Neuleppin nicht die endgültigen wären, daß sie sich leicht um zwei Zehntel Prozent verschieben könnten.

    Dennoch, sagte Zibulka, auch damit wären wir noch an der Spitze. „Zum Thema: Also es klappt, und nichts steht mehr im Weg, Genosse Wanzka." Er hätte eben noch telefoniert. Er redete von der Investverlagerung, die nun möglich wäre, eine Vorlage für den Bezirkstag sollte geschrieben werden. Es ging um den Schulneubau in Blankesleben. Und Zibulka fragte mich, wie es mit der neuen Projektierung stehe.

    „Genosse Zibulka, sagte ich, „ich bin wegen einer anderen Angelegenheit gekommen. Er bot mir Pfefferminzplätzchen an. Ich mag den bitterherben Geruch von der Wasserminze, aus jenen weißen Tabletten mache ich mir nichts. „Es handelt sich um mich, sagte ich, „ich bin nun einundsechzig Jahre.

    „Wahrhaftig?"

    „Ja", sagte ich.

    „Aber ein Junglehrer."

    Wir lachten. Das war eine Anspielung auf eine alte Geschichte. Die Geschichte lag lang zurück; aber sie stand in meiner Kaderakte.

    „Moment mal, wie alt wärst du jetzt?"

    Wir rechneten beide. „Genau fünfzig", sagte ich.

    „Was willst du! In den besten Jahren."

    „Genosse Zibulka, sagte ich, „ich will nun wieder in die Schule.

    Ich war oft bei Zibulka gewesen, wir hatten schon einen Berg von den Pfefferminzplätzchen gegessen. Es war Zibulkas Art, wo andere aufgebracht und lebhaft wurden, still und mit Bedacht zu reagieren. Das gefiel mir an ihm. Er war gut zwanzig Jahre jünger als ich. Er hatte ein Nierenleiden, vor zwei Jahren hatte er eine schwere Operation gehabt.

    „Ich wollt schon immer mit dir reden, Genosse Zibulka. Ja, ich trag das eine ganze Zeit mit mir."

    „Aber du hast nie ein Wort gesagt."

    „Das hab ich nicht."

    Wir schwiegen.

    „Ich hatte einmal eine Dorfschule, sagte Zibulka. „Hundertzweiundsechzig Kinder. Ja, siebzehn Kilometer von Prenzlau ab … Eine Spur Verträumtheit war in Zibulkas Blick.

    „Den einen zieht es mehr, sagte ich, „den anderen weniger.

    „Ein unscheinbares Dorf, weißt du … Wir hatten uns ein paar alte Instrumente eingehandelt, eine Mandola, eine Gitarre. ‚Wir sind jung, die Welt ist offen …‘, ‚O Abendklang zur Dämmerung …‘ Wir hatten den ersten Klampfenchor in unserer Gegend … Als wäre nur ein Funken aufgeglüht und schon erloschen, Zibulka unterbrach sich selbst. „Wir sind Genossen, sagte er, „und die Partei hat uns vor diese Aufgabe gestellt."

    „Ja, schon, und ich habe es nicht einen Tag bereut, sagte ich, „ich hab es immer eingesehn, und es war notwendig … Nein, versteh mich recht, mir bleiben noch vier Jahre.

    Wir hatten eine Stunde gesessen und von den weißen Plätzchen gegessen. Mehrmals war die Sekretärin gekommen, der Genosse Stelter warte draußen; er müsse unbedingt noch mit Zibulka reden. Doch wir störten uns nicht darum.

    „Aber du kennst unsre Lage im Bezirk", sagte Zibulka.

    „Es war immer eine besondere Lage im Bezirk."

    „Schon, aber jetzt, sagte Zibulka, „gerade jetzt. Wir machen entscheidende Schritte in der Leistungssteigerung. Das weißt du selbst sehr gut.

    „Wir haben immer entscheidende Schritte gemacht, sagte ich. „Entschuldige, daß ich dir den ganzen Nachmittag genommen hab – mit dieser persönlichen Angelegenheit.

    Er wehrte ab. „Du weißt, ich habe immer für dich Zeit."

    „Ja. Das weiß ich", sagte ich.

    An der Tür sagte Zibulka: „Überschlaf dir das. Sagen wir, das nächste Jahr, den nächsten Sommer, das versprech ich dir." Wir hätten dann auch Zeit, den Nachfolger zu suchen.

    „Nein, sagte ich, „so lange kann ich nicht mehr warten.

    6 Ich hatte noch denselben Tag ein Gesuch geschrieben. Ein halbes Blatt voll wilder Sätze. Ich redete ungeniert von einer Leidenschaft. „Bitte, Genossen, so sieht es in mir aus. Ich hab es fünfzehn Jahre gebändigt und gewürgt, schrieb ich, „jetzt kann ich es nicht länger. Ich bitte Euch, Genossen, entscheidet selbst. Das Gesuch hatte ich an Zibulka adressiert.

    Manchmal überkam mich eine kalte Angst, und der Schweiß brach mir aus, mitten in der Dienstbesprechung. Du hast die vielen Jahre kaum ein Lehrbuch in der Hand gehabt, sagte ich zu mir, wie willst du unterrichten? Und nach der Dienstbesprechung nahm ich mir zwei Aktentaschen und ging in die Stadt und kaufte Schulbücher ein. Wahllos. Ich wollte alle Schulbücher durchlesen.

    Eines Tages hatte Zibulka angerufen.

    Aber der Pförtner sagte zu mir: „Ich soll dir ausrichten, Genosse Wanzka, eine Sitzung. Es kann sich um ein Viertelstündchen hinauszögern." Er hatte das flache Fenster zugeschoben und war zu mir auf den Gang gekommen.

    Ich erkundigte mich nach seinem Mädchen. Ja, ich hätte ihn unlängst auf der Straße gesehen.

    Und der Pförtner erzählte mir die ganze Zeit über Heidelore. Mit zehn Monaten hätte sie zu sprechen angefangen, und sie würde nun fünf im August, und überhaupt wär sie ein selten kluges Kind. Sie hätte sich in den Kopf gesetzt, Fernsehtänzerin zu werden. „Du sollst bloß sehn, Genosse Wanzka, wie grazil sie tanzt." Neinnein, er gäbe nichts darauf.

    Einmal klingelte das Telefon, und Zibulka fragte an, ob ich noch warte. Er ließ bestellen, es daure nun keine zehn Minuten mehr.

    „Warum ist das verwerflich, sagte ich, „wo sie so gerne tanzt. Und im Theater gäbe es einen Ballettzirkel für die Kleinen.

    „Sie tanzt sehr grazil", sagte der Pförtner, und es blinzelte lebhaft hinter den hellen Brillenkreisen.

    So lange ich den Pförtner kenne, sitzt er dort in der kleinen Pförtnerstube. Er hat seine Psychologie, es genügen ihm ein paar Wörter aus der Telefonmuschel. „Kadergespräch?"

    „Ja. So etwa."

    Ich möchte die Unterhaltung zurück auf Heidelore lenken. Es wäre doch keine Schande, sage ich. Wenn sein Mädchen so gut tanzen kann, dann könnte er nur …

    „Eine andere Funktion?"

    „Ja, eine andere."

    „Also höher?"

    „Wie soll ich darauf antworten,

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