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Stummes Echo
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eBook128 Seiten1 Stunde

Stummes Echo

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Über dieses E-Book

Auf einem Hügel irgendwo im Norden Englands steht ein Haus, vom Wind umtost: der Beacon. Hier sind May, Frank, Colin und Berenice aufgewachsen. Das Leben auf dem Hof war hart, aber die Geschwister hatten es immer gut miteinander. So war es doch, oder? Nur zwei von ihnen ziehen in die Fremde, nach London. May kehrt schon nach ihrem ersten Studienjahr
zurück und kümmert sich fortan um ihre Eltern und den Hof. Nur auf dem Beacon fühlt sie sich sicher und geborgen. Frank aber bleibt in der Großstadt, macht Karriere als Journalist und schaut nicht mehr zurück. Bis zu dem Tag, an dem er beschließt, ein Buch über einen Jungen zu schreiben, dessen Kindheit geprägt war von Leid und Gewalt. Und dieser unglückliche Junge war er selbst? Ein Buch über fragile Familienbande und die Brüchigkeit von Erinnerungen, über die unsichtbaren Verletzungen, die uns das Leben zufügt, und die wundersamen Wege, diese zu überwinden.
SpracheDeutsch
HerausgeberKampa Verlag
Erscheinungsdatum11. Feb. 2019
ISBN9783311700722
Stummes Echo
Autor

Susan Hill

SUSAN HILL wurde 1942 in Yorkshire geboren. Ihre Geistergeschichten und die Kriminalromane um Simon Serrailler haben sie zu einer der populärsten britischen Schriftstellerinnen gemacht. Ihr Gothic-Roman »Die Frau in Schwarz« läuft als Theateradaption seit über dreißig Jahren im Londoner West End und wurde 2012 erfolgreich mit Daniel Radcliffe in der Hauptrolle verfilmt. Für ihre Romane, Erzählungen und Jugendbücher wurde sie mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter mit dem Somerset Maugham Award, und zum Commander of the British Empire ernannt. Susan Hill lebt in Norfolk in einem alten Bauernhaus, in dem in jedem Winkel Bücher stehen, die im Winter gut isolieren. Bislang erschienen im Kampa Verlag die Serrailler-Krimis »Schattenrisse«, »Herzstiche« und »Phantomschmerzen«, die Romane »Stummes Echo« und »Wie tief ist das Wasser« sowie die Geistergeschichten »Die kleine Hand«, »Das Gemälde« und »Die Frau in Schwarz«.

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    Buchvorschau

    Stummes Echo - Susan Hill

    1

    May Prime hatte den ganzen Nachmittag in dem Korbstuhl neben dem Bett ihrer Mutter gesessen, bis sie um sieben Uhr plötzlich aufsprang, aus dem Haus lief und in den bewölkten Himmel starrte, weil sie die Sterbende keine Sekunde länger ertragen konnte.

    Als sie kurz darauf zurückkehrte, war Bertha tot. Sobald May das Haus betrat, noch bevor sie das Schlafzimmer erreichte, noch bevor sie ihre Mutter sah, wusste sie, dass es passiert war. Sie wusste es, weil auf einmal alles anders war, weil es so still war. Dennoch schnappte sie nach Luft und schlug die Hand vor den Mund, als sie nach unten blickte.

    Der Hof wurde The Beacon genannt, und sie alle, Colin, Frank, May und Berenice, waren dort zur Welt gekommen und aufgewachsen, aber nur May war geblieben und hatte die letzten siebenundzwanzig Jahre erst mit beiden Eltern und dann, nach dem Tod des Vaters, mit der Mutter dort gelebt.

    In der einen Woche hatte der Vater noch geholfen, eine Kuh aus einem Graben zu hieven, in der nächsten waren die meisten Tiere fort gewesen. Bertha Prime hatte einen Nachbarn gebeten, sie zum Markt zu bringen. Nur die Hühner hatten sie behalten.

    Dann verpachtete Bertha die Felder. Das Vieh musste nicht mehr gefüttert und morgens und abends gemolken werden, und nachdem Frank ausgezogen war, gab es ohnehin keinen Mann mehr, der das getan hätte. Sonst war das Leben unverändert weitergegangen.

    In den 1960er Jahren war es nicht mehr üblich, dass eine unverheiratete Frau als Versicherung gegen die Unbilden des Alters bei ihren Eltern wohnen blieb, und hätte man sie freiheraus gefragt, hätte John und nach John auch Bertha gesagt, dass sie mehr als froh wären, wenn May auszöge, am besten, um zu heiraten, oder zumindest, um sich eine Arbeitsstelle zu suchen. Sie hatten May nicht darum gebeten, bei ihnen zu bleiben, und es auch nicht von ihr erwartet. Es war einfach so gekommen.

    May hätte dasselbe gesagt. Es war einfach so gekommen. »Hat sich so ergeben.« Natürlich war es nicht nur das, aber John und Bertha wussten nicht, was »nicht nur das« war, und May verbarg es lieber. Vielleicht vermutete Bertha etwas, aber wenn, dann sprach sie es nie an.

    Sie stand in der Tür, die Hand vor dem Mund, und ihre Mutter lag in dem Bett mit dem Eichenrahmen und war tot. Sie war eine Leiche, nicht Bertha, nicht ihre Mutter.

    May war bei ihr gewesen, hatte vom Windfang aus zugesehen, als sie ihren toten Vater heimgebracht, nach oben getragen und auf ebendieses Bett gelegt hatten. Sie wusste, wie der Tod aussah, und erkannte die Vollkommenheit der Stille wieder. Dennoch war es erschreckend. Schwankend ging sie durchs Zimmer. Einige Minuten lang konnte sie nicht zum Bett sehen.

    2

    John und Bertha Prime hatten den Beacon von Johns Eltern übernommen und seit Ende der Dreißiger gemeinsam mit ihnen dort gelebt. Bertha war darauf gefasst gewesen, und genauso war sie auf die harte Arbeit gefasst gewesen. Sie stammte zwar nicht aus einer Farmersfamilie – ihre Eltern hatten den Dorfladen geführt –, aber wer auf dem Beacon lebte, wusste, was das Landleben mit sich brachte. Nur die Großgrundbesitzer hatten Cottages, in die manchmal die Söhne mit ihren neuen Familien zogen. John Primes Vater, der ebenfalls John hieß, war keiner von ihnen.

    John und Bertha waren gleich nach der Hochzeit in die Dachkammer gezogen, die ihnen zu Ehren gründlich sauber gemacht und hergerichtet worden war, mit neuen Vorhängen und einer neuen Matratze auf dem alten Bett, aber das war auch schon alles, und am nächsten Morgen war Bertha nach unten gegangen, um mit ihrer neuen Schwiegermutter in der Milchkammer zu arbeiten. Danach kamen die Hühner an die Reihe und dann die Gänse und nach den Gänsen die Bienenstöcke, dann die Küche. So war das Leben auf dem Beacon. Einmal die Woche verbrachte sie einen Nachmittag bei ihren Eltern und half im Laden aus. Anfangs kam es ihr vor, als wäre sie nie weggegangen, aber schon bald änderte sich dieses und jenes, Dinge fanden einen neuen Platz, die Regale wurden neu geordnet, und Bertha fühlte sich bald wie eine Fremde, die nicht wusste, wo was hingehörte.

    Im Juli hatten sie geheiratet, und im November hörte sie auf, jede Woche in den Laden zu gehen, und wenn sie doch einmal hinging, bediente sie nicht mehr, weil sie, wie sie sagten, nur im Weg stand und störte, außerdem war sie mit ihrem ersten Kind schwanger.

    Das Kind, ein Junge, kam am heißesten Tag des folgenden Sommers zur Welt, als alle verfügbaren Männer und Frauen auf dem Feld waren, und Bertha lag dreizehn Stunden in der Dachkammer in den Wehen und schwitzte. John Prime lebte nur eine halbe Stunde, und das Kind im nächsten Sommer war eine Totgeburt, obwohl es in der Nacht während sintflutartiger Regenfälle geboren wurde, bei denen eine Schlammlawine den Hügel herunterkam und eine halbe Schafherde unter sich begrub.

    Ihre Schwiegermutter war nicht herzlos oder unfreundlich, aber da sie selbst drei Kinder verloren hatte, nahm sie solche Dinge als unabwendbar hin und sagte kaum etwas, drängte Bertha aber auch nicht, gleich wieder in der Milchkammer oder der Küche mit anzupacken, sondern ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Aber allein in der Dachkammer zu sitzen oder schweigend über die Straßen und Felder rund um den Beacon zu gehen, ließ sie an den Tod denken, und als sie zum zweiten Mal daran dachte, ins Wasser zu gehen, und sich entsetzt dabei ertappte, wie sie den starken Ast eines Baums betrachtete, kehrte sie wieder zur Arbeit in der Milchkammer und bei den Hühnern zurück.

    Ihr Mann John war zwar mitfühlend, aber unbeholfen und verbrachte ohnehin nur wenig Zeit mit ihr, weil es immer zu viel zu tun gab und es nun einmal so war. Nur im Winter, wenn das Wetter schlecht war und es früh dunkel wurde, setzte er sich manchmal mit seinem Vater zu ihr an den Kamin, trank ein Glas Ale und sprach ein wenig mit ihr, allerdings immer bloß über den Hof oder den Zustand der Äcker oder die Preise auf dem Markt. Ein-, zweimal hörten sie Radio, danach wendete sich das Gespräch der Welt draußen zu und den Folgen eines neuen, immer wahrscheinlicheren Kriegs. Aber diese Unterhaltungen waren kurz und verstummten mit dem erlöschenden Feuer, und dann war es an der Zeit, dass die Frauen Brot und Käse auf den Tisch stellten und ein letztes Glas vor dem Zubettgehen einschenkten.

    Zwei Tage vor Kriegsausbruch lag Bertha kurz in heftigen Wehen und brachte Colin zur Welt, acht Pfund schwer und strotzend vor Gesundheit. Kaum ein Jahr später wurde Frank geboren. Jetzt waren sie selbst eine Familie und schauten nicht mehr zurück, auch wenn Bertha jedes Ostern und Weihnachten auf den Friedhof ging, um Blumen auf die Kindergräber zu legen. In den Jahren, als sie krank gewesen war und zuerst ans Haus und dann ans Bett gefesselt, hatte May diese Aufgabe übernommen, weil man sie darum bat und weil es schon immer so gemacht worden war, wie so vieles in diesem mit Gewohnheiten und Bräuchen und ein paar wenigen Ritualen angefüllten Leben.

    May war im Frühling 1942 in derselben Kammer zur Welt gekommen. Diesmal kamen Berthas Presswehen noch schneller, und sie hätte das Kind beinahe in der Küche und dann auf den letzten Treppenstufen geboren.

    May war weder groß noch kräftig, sie war ein dünnes, blasses kümmerliches Baby, das nicht trinken wollte und nicht besonders lebhaft war. Nachdem Berthas Milch versiegt war, war es zu guter Letzt ihre Großmutter, die sie Tag für Tag ein wenig weiterlockte, ihr frische Kuhmilch gab und geduldig mit ihr auf einem Küchenhocker saß, bis sie das Fläschchen leer getrunken hatte. Die beiden Jungen gediehen prächtig und rannten herum.

    Ihr Leben war bereits hart, und so machte der Krieg es nicht viel schlimmer, in mancher Hinsicht wurde es sogar leichter, weil die Farmen Unterstützung in Gestalt von Kriegsgefangenen und sogar Erntehelferinnen erhielten, auch wenn von Letzteren nie eine auf den Beacon kam. Die Primes hatten mehr zu essen als viele andere – die Männer schossen Kaninchen, und es gab immer Früchte und Pilze, wenn man wusste, wo man sie fand.

    May war drei, als ihr Großvater starb, und sie erinnerte sich nur an den Tabakgeruch, der offenbar aus jeder seiner Poren und den Haaren auf seinem Kopf kam und wie ein zusätzlicher Faden in jedes seiner Kleidungsstücke gewebt schien. Als er starb, rückte John Prime an seine Stelle, und das Einzige, was sich änderte, war, dass er jetzt Anordnungen gab, statt ihnen Folge zu leisten. Die Arbeit blieb die gleiche. Allerdings stand nie zur Debatte, dass John und Bertha aus der Dachkammer in das große Schlafzimmer mit dem großen Bett zogen. Falls die Witwe jemals dachte, dass es an ihr war, ihren Platz für die folgende Generation zu räumen, wie es andere in ihrer Lage gedacht und getan hätten, sagte und tat sie jedoch nichts, und so blieb alles beim Alten, und Bertha wagte nicht zu fragen. Es dauerte weitere zehn Jahre, bis Bertha das große Zimmer und das größte Bett übernahm, und da hatte sie schon vergessen, dass beides einmal so begehrenswert erschienen war. Die Dachkammer war ihrs. In

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