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James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod: SF Personality 27
James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod: SF Personality 27
James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod: SF Personality 27
eBook634 Seiten6 Stunden

James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod: SF Personality 27

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Über dieses E-Book

James Tiptree Jr. – die Geheimnisse hinter der Kunstfigur und ihre Bedeutung für die Science Fiction. James Tiptree Jr. (d. i. die Psychologin Dr. Alice B. Sheldon) begann nach einem bewegten Leben erst mit 53 Jahren, SF zu veröffentlichen, und avancierte in kurzer Zeit zum Szenestar. In der Rolle des fiktiven Autors, der real eine Frau war, forcierte Tiptree feministische Themen und verhalf den Frauen in der SF zum Durchbruch. Doch Tiptrees Bedeutung geht weit darüber hinaus. Durchaus der klassischen SF verbunden, gehört Tiptree zu den innovativen Autoren der amerikanischen New Wave. Sein tiefgründig-wunderbares Werk mit dem ihm eigenen Stil der "entfremdeten Nähe" hat der SF neue Dimensionen eröffnet, die Frauen wie Männer gleichermaßen berühren. Autor Hans Frey beschäftigt sich eingehend mit James Tiptree Jr. und schafft damit einen einmaligen Werksüberblick.
SpracheDeutsch
HerausgeberMemoranda Verlag
Erscheinungsdatum10. Dez. 2018
ISBN9783948616359
James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod: SF Personality 27

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    Buchvorschau

    James Tiptree Jr. – Zwischen Entfremdung, Liebe und Tod - Hans Frey

    Frey

    Legende

    Das Buch basiert unter anderem auf der folgenden Sekundärliteratur. Zur besseren Lesbarkeit wurde die Quelle mit einem Kürzel versehen. Zitate im Text werden mit dem Kürzel der jeweiligen Quelle gekennzeichnet.

    AE – Andreas Eschbach, »Über James Tiptree Jr. – Wanderungen entlang der Grenze des Wahnsinns«, Nachwort in: James Tiptree Jr., Houston, Houston!, Wien 2013, S.474 ff.

    AK – Anne Koenen, »Struck by Mayaphilia«, Nachwort in: James Tiptree Jr., Quintana Roo, Wien 2011, S. 142–158

    AL – Hans Joachim Alpers, Werner Fuchs, Ronald M. Hahn (Hrsg.), Reclams Science Fiction Führer, Stuttgart 1982

    AS – Alice B. Sheldon, »Nur die Unterschrift ist nicht echt«, Nachwort in: James Tiptree Jr., Zu einem Preis, Wien 2012, S. 522–539

    CH – Christian Hoffmann, Phantastische Literatur aus Afrika. Eine Bestandsaufnahme, Berlin 2012

    CP – Charles Platt, Gestalter der Zukunft, Köln-Lövenich 1982

    ES – Elmar Schenkel, »Wie die Menschen außerirdisch wurden. Aliens in der frühen Science Fiction 1880–1940«, in: Thomas P. Weber (Hrsg.), Science und Fiction II, Frankfurt/Main 2004

    GD – Gardner Dozois, »Nachwort«, in: James Tiptree Jr., 10 000 Lichtjahre von zuhaus, Bibliothek der Science Fiction Literatur 65, München 1987, S. 384 ff.

    HF1 – Hans Frey, Alfred Bester – Tycoon der Science Fiction, Berlin 2011

    HF2 – Hans Frey, J. G. Ballard – Science Fiction als Paradoxon, Berlin 2016

    HF3 – Hans Frey, Fortschritt und Fiasko, Berlin 2018

    HK1 – Hardy Kettlitz, Die Hugo-Awards 1953–1984, Berlin 2015

    HK2 – Hardy Kettlitz, Die Hugo-Awards 1985–2000, Berlin 2016

    JP1 – Julie Phillips, James Tiptree Jr.: The Double Life of Alice B. Sheldon, dt. James Tiptree Jr.: Das Doppelleben der Alice B. Sheldon, Biographie, Wien 2013

    JP2 – Julie Phillips, »Nachwort« in: Doktor Ain, Wien 2014, S. 452 ff.

    JS – Jeffrey D. Smith & Julie Phillips (Hrsg.), James Tiptree Jr. – Wie man die Unendlichkeit in den Griff bekommt. Briefe, Essays und Lyrik, dt. Sammelband von Non-Fiction-Texten von Alice B. Sheldon, Wien 2016

    JT – James Tiptree Jr., »Kurze Vorbemerkung zu den Maya des Quintana Roo«, in: Quintana Roo, Wien 2011, S. 6–9

    KK – Karsten Kruschel, »Von Liebe und Sauerstoff. War James Tiptree Jr. Alice Sheldon – oder war es andersherum? Wie eine der besten und kompliziertesten SF-Autorinnen aller Zeiten dem Genre ihren Stempel aufdrückte«, in: Das Science Fiction Jahr 2013, München 2013, S. 67–85

    MS – Mark Siegel, »Liebe war der Plan, der Plan war … Eine wahre Geschichte über James Tiptree Jr.«, Nachwort in: James Tiptree Jr., Yanqui Doodle, Wien 2015

    RS – Robert Silverberg, »Wer oder was ist Tiptree?«, historisches Nachwort in: James Tiptree Jr., Liebe ist der Plan, Wien 2015, S. 509–522

    TS – Theresia Sauter-Bailliet, »Hat die Raumfahrt ein Geschlecht? SF-Spekulationen von Arthur C. Clarke und James Tiptree Jr.«, in: Das Science Fiction Jahr 1993, München 1993, S. 311–327

    UL1 – Ursula K. Le Guin, »Vorwort der Autorin«, in: Ursula K. Le Guin, Winterplanet, München 1994

    UL2 – Ursula K. Le Guin, »Vorwort«, in: James Tiptree Jr., Sternenlieder eines alten Primaten, München 1987, S. 7–14

    Einleitung

    I. – Warum James Tiptree Jr.?

    Meine ersten Begegnungen mit Tiptree

    Als brillanter Shootingstar der SF-Literatur war mir James Tiptree Jr. selbstredend ein Begriff, und ich genoss ab und an seine Geschichten, so wie sie mir in die Hände fielen. Einen überragenden Stellenwert hatte er für mich allerdings nicht. Er war für mich halt ein origineller Autor mit unkonventionellen Ideen und einem eigenwilligen Stil, den ich gerne, aber lediglich nebenbei las. Von einer gezielten, geschweige denn systematischen und intensiven Lektüre konnte keine Rede sein.

    Alice B. Sheldon

    Als ich dann Ende der 1970er erfuhr, dass Tiptree in Wirklichkeit eine Frau mit Namen Alice B. Sheldon war, amüsierte mich das, weil ich die ganze Sache für einen gelungenen Werbegag hielt, der nebenbei die ausgeprägte Chauvi-Szene der SF ganz schön ins Schleudern gebracht hatte. Immerhin behielt ich seitdem James Tiptree Jr. alias Alice B. Sheldon als SF-Unikat besonders im Gedächtnis.

    Wie ich James Tiptree Jr. wirklich entdeckte

    Jahrzehnte später nahm ich die Arbeit zu meinem Buch Philosophie und Science Fiction auf. Auf der Suche nach einer SF-Story, die die Ambivalenz der Aufklärung thematisiert, erinnerte ich mich an Tiptrees Story »Unser Dämon vor Ort« (auch: »Der residierende Teufel«). Sie hatte mich schon damals beeindruckt, aber als ich sie erneut las, war ich begeistert.

    Erst zu diesem Zeitpunkt dämmerte mir, dass ungleich mehr hinter dem Werk der Sheldon steckte, als ich gedacht hatte. Bisher hatte ich sie mit einer wohlwollenden, aber sträflichen Oberflächlichkeit behandelt, und das wurde mir schlagartig klar. Kurz: Ich hatte immer schon viel von ihr gehalten, aber ihre wahre Bedeutung war mir lange Jahre nicht bewusst gewesen.

    Die »Operation Tiptree«

    Ein zweites Motiv kam bei meiner »Operation Tiptree« hinzu. Ich wollte endlich einmal etwas über SF-Autorinnen schreiben! Autorinnen waren eine lange Zeit für die SF beileibe keine Selbstverständlichkeit, genauso wenig wie Frauen in den Texten, die ihre Aufgaben emanzipiert und souverän meisterten. In Wahrheit war die SF bei aller optionalen Offenheit über weite Strecken ihrer Geschichte eine Literatur des Machismo. Frauen, wenn sie überhaupt vorkamen, waren Beiwerk, ja bloße Dekoration der männlichen Helden. Leicht bekleidete, kreischende Blondinen-Dummchen mit großen, nur notdürftig von Alu-BHs verkleideten Brüsten, die von muskelbepackten Superboys pausenlos vor bösen Monstern gerettet werden mussten, gehörten zum gängigen Schema.

    Erst zaghaft mit Autorinnen wie Leigh Brackett, Judith Merril, Andre Norton und Zenna Henderson, dann bestimmt, energisch und erheblich anspruchsvoller mit Ursula K. Le Guin, Anne McCaffrey, Vonda McIntyre, Joanna Russ, Kate Wilhelm und anderen brach diese Front auf. Alice B. Sheldon war in dieser Riege geradezu ein Bulldozer. Auch das ist eines ihrer Verdienste.

    Weit mehr als Feminismus

    Viel aufregender ist, dass Alice Sheldon nicht auf den Feminismus und schon gar nicht auf eine entsprechende agitatorische Propaganda zu reduzieren ist. Selbstverständlich ist es für Alice ein zentrales Anliegen, die eigenständige, individuelle wie kollektive Würde der Frau in selbstbewusster Abgrenzung zum Männlichkeitswahn wiederherzustellen. Dennoch sprengt sie diesen Rahmen. Ihr geht es um die Geheimnisse des Eros, um die komplexen Wechselwirkungen zwischen und innerhalb der Geschlechter, um das verstörende Spiel von Nähe, Fremdheit und Tod in einem endlosen Kosmos der abgründigsten Möglichkeiten. In der Auslotung dieser Tiefen und Untiefen liegt ihre eigentliche Größe und Bedeutung für die SF.

    Selbstzweifel

    Die Arbeit an diesem Buch hat mir viel gegeben, aber auch einiges abverlangt. Ich bekenne offen: Hier und da kamen mir Zweifel, ob mein emotionaler Seismograf fein genug ist, um Tiptree/Sheldons wahre Intentionen erfassen zu können. Möglicherweise habe ich einiges zu rational, gar zu grob interpretiert, um etwas plausibel zu machen, das nicht plausibel sein muss. Oder mich störten Passagen, die ich als zu langatmig empfand, obwohl es vielleicht doch nur an meiner mangelnden Sensibilität lag. Oder meine Gedanken und Empfindungen sind bei dieser oder jener Geschichte in eine Richtung gegangen, für die andere nur ein Kopfschütteln übrig haben. Eine SF im Letzten zu verstehen, die sich zwischen Entfremdung, Liebe und Tod bewegt, erfordert ein Verständnis, das vielen (mich eingeschlossen) nicht unbedingt und keineswegs immer vergönnt ist. Die Metaphysik der Tiptree-Texte muss mehr noch als bei vielen anderen Schriftstellern nicht nur analysiert, sondern auch erfühlt werden, und das kann bei jeder Person zu anderen Ergebnissen führen.

    Was bedeutet das bei Tiptree?

    Sosehr man also bei Tiptree Interpretationsspielräume findet, die man nutzen kann und soll, so ist doch vieles bei ihm klar und unmissverständlich. Was hingegen mehr- bis vieldeutig ist, sollte zu kreativen Spekulationen anregen, die allerdings in einer nachvollziehbaren Beziehung zu Form und Inhalt des Erzählten stehen müssen. Was indes kryptisch bleibt und bleiben will, hat seinen Wert im Geheimnis.

    Sich selbst sah Alice Sheldon nicht als verschleierte Pythia der Literatur: »Ich habe wirklich nicht den Wunsch, für Normalsterbliche unerreichbar zu sein. Eigentlich will ich lediglich die Leute am Herz oder Kragenknopf packen und zischen: Hör zu! Hör zu und denk nach, du Schwachkopf! Spüre, wie es wirklich ist!« (zit. nach MS, S. 507) Zweifellos gelang es ihr oft, diesen Vorsatz in die gekonnte schriftstellerische Tat umzusetzen.

    Auch das mag dazu beigetragen haben, dass Tiptree von der überwältigenden Mehrheit der Kritik positiv bis enthusiastisch aufgenommen wurde – ein nicht selbstverständlicher Umstand (siehe dazu auch den Abschnitt 5.2). Sollte es wider Erwarten nun doch einmal vorkommen, dass einem der Zugang gänzlich verschlossen bleibt, dann sei auf das Wort von Ursula K. Le Guin verwiesen, das aus meiner Sicht dem Ratlosen viel Trost spendet. Sie schreibt: »Der Schriftsteller sagt mit Worten, was nicht mit Worten gesagt werden kann.« (UL, S. 12)

    SF als große Literatur

    Meine Monographie ist der Versuch, die Gedanken- und Gefühlswelt einer außergewöhnlichen Schriftstellerin den daran Interessierten und nicht zuletzt mir selber nahezubringen. Insbesondere fasziniert mich, dass sie der SF bislang unbekannte Dimensionen erschlossen hat. Ihr Werk ist literarisches Gold – und zwar ausdrücklich nicht nur für die Science Fiction. Meine These, dass es SF-Autoren wie Asimov, Ballard, Bester, Bradbury, Dick, Le Guin, Lem und viele andere je in ihrer Art mit den gefeierten Autor/inn/en einer jenseits der SF liegenden sog. Hochliteratur jederzeit aufnehmen können, wird durch Alice B. Sheldon respektive James Tiptree Jr. wiederholt und besonders beeindruckend bestätigt.

    II. – Zum Namenslabyrinth

    1968 tauchte in der Science Fiction eine ominöse Person mit dem fraglos männlichen Namen James Tiptree Jr. auf. Jahrelang stand er für einen geheimnisvollen Mann, der vorzügliche SF-Erzählungen ablieferte, dessen Identität aber niemand kannte und der sich erfolgreich dagegen wehrte, sie zu enthüllen. Trotzdem gab es in der Szene keinen Zweifel, dass Tiptree ein real existierendes, maskulines Individuum war.

    Mittlerweile ist es seit 1976 kein Geheimnis mehr. Einen SF-Schriftsteller namens James Tiptree Jr. hat es nie gegeben. James Tiptree Jr. ist nichts anderes als das Pseudonym der amerikanischen Psychologin, Malerin und SF-Autorin Dr. Alice B. Sheldon. Darüber hinaus verbinden sich mit der Sheldon noch weitere Namen, die auf den ersten Blick verwirren können. Das sind: Raccoona Sheldon, Alice Bradley, Alice Davey, Alli, Tip und Alex. Dieses Namenslabyrinth löst sich wie folgt auf.

    B. in Alice B. Sheldon steht für Bradley.

    Bradley ist der Nachname des Vaters, also ihr Geburtsname.

    Davey hieß Alice in ihrer ersten Ehe.

    Sheldon war ihr Nachname in der zweiten Ehe.

    Raccoona Sheldon ist ein weiteres Autoren-Pseudonym.

    Alli ist der von der Mutter des ersten Ehemanns Bill Davey kreierte Spitzname für Alice, den sie gerne annahm.

    Tip ist der Spitzname des erfundenen Tiptree.

    Alex ist ein kurzlebiger und erfolgloser Versuch Allis, sich ein anderes männliches Pseudonym zuzulegen.

    III. – Die drei Universen der Alice B. Sheldon

    Kann man das Spiegelkabinett der Alice B. Sheldon fassbar machen? Gibt es ein Koordinatensystem, mit dem man sich einen ersten Überblick im Rollen- und Maskenspiel der Autorin verschaffen kann? Ich versuche es mit dem SF-gemäßen Bild von drei sich überlappenden Universen, in denen Alli lebte und zwischen denen sie je nach Lebenslage hin und her pendelte.

    Das erste und größte Universum ist das echte, das natürliche, das reale, das existenziell wirkmächtige Universum. Im Hier und Jetzt erlebte Alli ihre Höhen und Tiefen, ihre Freuden und Leiden, ihre Wonnen und Schmerzen, ihre Erfolge und Niederlagen. Hier fand sie im handfesten Geschehen Wunder und Schrecken, Nähe und Fremdheit, Lachen und Leiden, Niedergeschlagenheit und Begeisterung, Fassade und Substanz, Sex, Erotik, Liebe, Gewalt und Tod.

    Das zweite Universum ist das Bindeglied zwischen der natürlichen und der fiktiven Welt. Es ist ein Zwitter, eine Zwischenwelt, ebenso wirklich wie erdacht, ebenso konkret wie diffus. Kein anderer als Mr. Tiptree repräsentiert diesen Kosmos so eindeutig verschoben und verschroben, authentisch und gekünstelt, identisch und doppeldeutig zugleich. Das »Schnittmengenuniversum« Sheldon/Tiptree ist die methodisch-strategische Verbindung zwischen realem Sein und fiktivem Schein.

    Das dritte Universum schließlich ist das Universum der reinen Fiktion. Ihr schriftstellerisches Werk lässt eine Welt entstehen, die weitab, aber doch so nah dem ersten Universum ist. Trotzdem ist es »nur« Phantasie und, im oszillierenden Medium der SF imaginiert, bunt, schillernd, animierend, zuweilen voller Hoffnung, zuweilen komisch, ironisch und amüsant, oft aber deprimierend, schrecklich und grausam – ein Lichtjahre weit entferntes, ganz nah bestehendes, Eigenständigkeit repräsentierendes drittes geistiges Sein.

    IV. – Kontinuen der Entfremdung

    Von den vielfältigen dialektischen Bezügen der drei Sheldon-Universen wird im Laufe dieser Darstellung zuhauf die Rede sein, aber ein Faktum sollte schon am Anfang hervorgehoben werden. Alle drei haben bei aller Gegensätzlichkeit und Widersprüchlichkeit eine herausragende Gemeinsamkeit, und das ist ihre Fremdheit! Ihr »Strangeness«-Faktor, um einen SF-Begriff zu gebrauchen, ist nämlich gleichbleibend hoch.

    In keinem der Kosmen fühlte sich Alice wirklich heimisch, geschweige denn als ganze Person angenommen. Immer war sie irgendwie fremd, gehörte doch nicht richtig dazu, war irgendwo immer Einzelgängerin, Ausreißerin und Außenseiterin. Allis ausgeprägte Xenophilie (Fremdenfreundlichkeit) mag auch darauf beruhen, dass sie zu sich selbst, der Fremden, freundlich sein wollte – was ihr keineswegs immer gelang.

    Im Ergebnis sind alle drei Universen in Allis Wahrnehmung Kontinuen der Entfremdung. Letztlich begreift sich die Autorin als ein Individuum, das zwischen den Welten mehr herumdriftet, statt gezielt zu navigieren. Sie fühlt sich in ihrer Identität prinzipiell reduziert oder verbogen, und eine grundständige Verortung war nie in Sicht. In diesem Sinne sind vor allem das Tiptree-Universum und ihr SF-Werk zwar von ihr selbst entwickelte Mittel, um mit ihrem Kummer besser fertigwerden zu können. Sie schaffte es in der Bilanz des Realuniversums aber nicht, sich endgültig zu stabilisieren und bis zu einem natürlichen Tod hin innere Ruhe zu finden. (Sie wählte im Mai 1987 zusammen mit ihrem Mann Ting den Freitod.)

    Immerhin! Sie war trotz ihrer labilen Psyche über 70 Jahre lang stark genug gewesen, ein erfülltes Leben zu leben, und als es dann unwiderruflich bergab ging, zog sie die für ihr Wesen typische, auf andere kalt und erschreckend nüchtern wirkende Konsequenz. Sie kam einem unaufhaltbar fortschreitenden Siechtum zuvor (der Verfall ihrer Mutter war ihr ein hautnahes und schlimmes Vorbild), indem sie selbst das Ende bestimmte. Das birgt zweifellos ein tragisches Moment in sich – wie auch die möglicherweise profane Vermutung, dass Alice B. Sheldon das Pech hatte, zur falschen Zeit geboren zu sein.

    1. – Das Leben der Alice B. Sheldon (1915–1987)

    1.1 – Geburt, Eltern, Kindheit

    Geburt

    Alice B. Sheldon kam am 24.8.1915 als Alice Hastings Bradley in Chicago zur Welt. Sie blieb das Einzelkind ihrer Eltern Herbert Edwin Bradley (1874–1961) und Mary Wilhelmina Bradley geb. Hastings (1882–1976). Eine vier Jahre später geborene Schwester lebte nur einen einzigen Tag. Den Tod ihres zweiten Kindes überwand die Mutter Mary nie. Umso mehr konzentrierten sich ihre vereinnahmende Liebe und ihre fordernde Erziehung auf Alice, was sich als Segen, aber noch mehr als Fluch erweisen sollte.

    Der Vater

    Der Farmerssohn Herbert Bradley stammte aus der kanadischen Provinz Ontario und arbeitete sich über verschiedene Stationen zu einem angesehenen Anwalt in Chicago hoch. Daneben versuchte er sich erfolgreich in Immobiliengeschäften, die ihn zeitweise zu einem reichen Mann machten. (Durch den Börsencrash 1929 und die anschließende große Depression in den USA der 30er-Jahre schwanden Herberts finanzielle Mittel. Dennoch konnten die Bradleys ihren aufwendigen Lebensstil aufrechterhalten, weil inzwischen seine Frau genug Geld verdiente.)

    1909 lernte der 34-jährige Mann die 27-jährige Mary Hastings kennen. Sie heirateten und bezogen 1912 die oberste Etage plus Penthouse und Dachgarten in einem seiner Häuser am 5344 Hide Park Boulevard in Chicago. Diese Adresse sollte bis zum Lebensende der Eltern das Stammhaus der Familie bleiben.

    Herbert Bradley wird als attraktiver Mann beschrieben, der vernünftig, praktisch und umsichtig war, eine lustige Seite hatte, gerne anstößige Witze erzählte, aber auch einen Hang zur Melancholie besaß, den er möglichst zu verbergen suchte. Seine Offenheit gegenüber ungewöhnlichen Unternehmungen war sicherlich auch ein Grund, warum er und Mary gut zueinanderpassten, unterstützte er doch seine Frau uneingeschränkt bei ihren wahrlich nicht alltäglichen Aktivitäten.

    Wie sah ihn seine Tochter Alice? »In Alice Sheldons Kindheitsschilderungen ist Herbert weniger präsent als Mary; weniger erdrückend, weniger verfügbar, weniger anwesend. (…) Sie glaubte, ihr Vater hätte lieber einen Jungen gehabt und sie sei in seinen Augen ›eine mindere Ausführung‹, eben ›nur ein Mädchen‹ gewesen.« (JP1, S. 49) Trotzdem kann Allis Verhältnis zu ihrem Vater als gut bezeichnet werden. »[Alli] schätzte Herberts nüchterne Einstellung, seine Fähigkeit, sich auf allgemeine Grundsätze zu berufen, im Gegensatz zu Marys Forderungen nach Aufmerksamkeit und Liebe. Er stand in jedem Konflikt leidenschaftlich auf ihrer Seite. Und er war lustig und amüsierte sich über ihre Witze, wohingegen Mary (…) im Grunde ihres Herzens ernst war.« (JP1, S. 49)

    In dem Interview für

    CONTEMPORARY AUTHORS

    (siehe JS, S. 281 ff.) singt sie sogar ein regelrechtes Hohelied auf ihren Vater. Während also die Vater-Tochter-Beziehung alles in allem unproblematisch, ja herzlich war, war Allis Verhältnis zur Mutter enger, dafür aber auch weit konfliktträchtiger und in deren übermächtiger Präsenz geradezu erstickend.

    Die Mutter

    »Beide Bradleys waren charismatische, engagierte Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, deren Abenteuer die Familie mit einem Hauch von Exotik umgaben.« (JP1, S. 12)

    Sieht man das als Ranking, so übertraf Mary ihren Mann um ein Vielfaches. Sie war die glamouröse, alles überstrahlende Mitte der Familie. Geschickt vermarktete sie sich als (durchaus talentierte, heute vergessene) Schriftstellerin, Journalistin und Vortragskünstlerin. Das schmeichelte nicht nur ihrem Ego, sondern ließ auch die Kasse klingeln. Als Abenteurerin bewegte sie sich ebenso souverän im afrikanischen Dschungel wie auch als Dame der vornehmen Gesellschaft auf dem Parkett der Partys und Empfänge, und ihr ungewöhnliches Leben war eine Fundgrube für die Klatsch- und Tratschspalten der Chicagoer Zeitungen. Dabei war Mary keineswegs durchgehend der tatendurstige, optimistische Wirbelwind. Auch sie hatte ihre Ängste und Abgründe. Doch sie hatte sie besser im Griff als andere.

    So sagt denn Alli über ihre »liebe, verdammungswerte« (zit. nach JP1, S. 19) Mutter: »Du hilfst ihr durch die Tür – und findest dann heraus, dass sie 45 Meilen weit bergauf wandern kann, während sie ihr Gewehr trägt und deins dazu. (…) Und dabei Witze erzählt. Und umwerfend aussieht.« (zit. nach JP1, S. 13) Julie Phillips ergänzt: »Sie konnte eine blauäugige Schönheit im Spitzenkleid sein und gleich darauf eine geschickte Scharfschützin in Khakihosen.« (JP1, S. 19)

    In der Summe war Mary Bradley bemerkenswert emanzipiert, und zwar in einer Zeit, in der die weitgehende Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Verächtlichmachung der Frau hoffähig und selbstverständlich war. Sie widersetzte sich dem und entsprach in keiner Weise dem Bild des »Heimchens am Herd«. Indes war Mary keine Frau, die ihren Lebensstil in einen politisch bewussten Kampf für die Gleichberechtigung ummünzte.

    Sie vermochte es – nicht zuletzt auch wegen ihrer privilegierten Stellung –, sich in ihrem individuellen Umfeld einen großen Entfaltungsspielraum zu verschaffen, kam aber nie auf die Idee, daraus ein Programm zu machen. Im Gegenteil akzeptierte sie im Prinzip die herrschende Rollenverteilung und achtete sorgfältig darauf, dass die grundsätzlichen gesellschaftlichen Erwartungen an die Frau erfüllt und Grenzen nicht überschritten wurden. »Wenn sie Abenteuer erleben oder über diese schreiben wollte, würde sie den Anschein von Schicklichkeit wahren müssen. Die Frau und die Abenteurerin mussten zwei verschiedene Menschen sein.« (JP, S. 20)

    Obwohl Allis kindliche Entwicklung dieses von der Mutter vorgegebene Muster emotional tief in ihr verankerte, verfügte Alice über einen scharfen Verstand, der sie ab einem gewissen Alter das opportunistische Konstrukt rational durchschauen ließ – mit der Folge, von ihm ein Leben lang gequält zu werden. Das erklärt ihre Worte: »Sie [ihre Mutter, H. F.] war mir kein Vorbild, sie stellte eine Unmöglichkeit dar.« (zit. nach JP, S. 13) Und weiter: »Vielleicht hätten wir wirklich [kursiv im Original, H. F.] Freundinnen sein können, wenn ich nicht zugleich ihr einziger Besitz und ihre Projektion in die Zukunft gewesen wäre.« (zit. nach JP1, S. 49)

    In der Zeit vom kleinen Mädchen bis hin zur jungen Frau stand Alli vollständig unter dem Einfluss Marys. Die besitzergreifende Mutter bestimmte alles, erklärte, was gut oder böse war, und brachte ihr das »richtige« weibliche Verhalten bei. Alli reagierte, indem sie schon übereifrig versuchte, den Ansprüchen Marys gerecht zu werden – das aber nicht unbedingt aus freiem Willen, sondern aufgrund des emotionalen Drucks.

    Ein missglücktes Liebesverhältnis

    Es versteht sich, dass unter diesen Umständen ein entspanntes Verhältnis zwischen Tochter und Mutter unmöglich war, und das sollte bis zum Tod Marys so bleiben. Als Alli erwachsen wurde, gelang es ihr unter großen Mühen, sich aus der allumfassenden Umarmung der Mutter zu lösen. Aber auch nach ihren diversen Ausbruchs- und Befreiungsversuchen gehörte der sie verfolgende und bedrückende Schatten einer dominanten Mutter zu einer Konstante, die ihr Leben ungewollt, aber ständig begleitete. Viele (nicht alle) Eskapaden einer Alice B. Sheldon lassen sich aus diesem verunglückten Grundverhältnis ableiten.

    Zweifellos hat Mary Bradley, die ihr Verhalten als echte Mutterliebe verstand, durch die umfassende Förderung ihrer Tochter viel dazu beigetragen, Alli zu einer hochgebildeten, polyglotten, sich bewussten, offenen, faszinierenden Persönlichkeit und zu einer begnadeten Schriftstellerin zu machen. Für Allis sensible, verletzliche Psyche und ihren sezierenden Verstand, der die Unaufrichtigkeit von Marys Verhalten durchschaute, war die Hegemonie der Mutter indes zeitlebens eine Hypothek, die schwer wie ein Mühlstein auf ihr lastete.

    Dennoch sei schon jetzt gesagt: In besagter Mutter-Tochter-Beziehung geht es nicht um Schwarz und Weiß. Sowenig Mary Bradley nur und ausschließlich die Dampfwalze war, die ihr Kind überrollte, so wenig war Alice nur und ausschließlich das Opfer, das ohne jeden Eigenanteil zum hilflosen Objekt gemacht wurde. Es gab Züge in Allis Wesen, die durchaus eine gewisse »Mitschuld« durchschimmern lassen, so wie es Züge in Marys Wesen gab, die das missglückte Verhältnis zu ihrer Tochter keineswegs als vorprogrammiert erscheinen lassen. Nur – Alice war eben ein Kind, und das machte sie von vornherein zum schwächeren Teil des unglücklichen Spiels.

    Behütung und Isolation

    Alli wuchs in einem begüterten, weltoffen-liberalkonservativen, angesehenen und gesellschaftlich umworbenen Hausstand mit Nannys und weiteren Bediensteten auf. Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr kannte sie praktisch nur ihre großzügige Wohnung und den Dachgarten, denn ihre Eltern meinten, die Chicagoer Umgebung sei für ihr Kind zu gefährlich.

    Ein Nebeneffekt dieser isolierten Behütung war, dass Alli kaum andere Kinder kannte, somit ihre Sozialkontakte mit Gleichaltrigen unterentwickelt waren – ein Umstand, der später (z. B. in den diversen Schulen) immer wieder dazu führte, dass sie Schwierigkeiten hatte sich einzuordnen und sich nicht nur als Außenseiterin fühlte, sondern sich auch so benahm. Das sollte in der Folgezeit nicht wesentlich anders aussehen, ansonsten aber änderte sich ihre Situation mit ihrem sechsten Geburtstag schlagartig.

    Die erste Afrikareise 1921/22

    Ein Freund der Familie, Carl Akeley, erzählte oft von seinen Expeditionen nach Afrika. Akeley, ursprünglich ein Tierpräparator, der sich dann zum besonnenen Großwildjäger und laienhaften Naturforscher entwickelte, suchte Finanziers für eine neue Afrikareise. Die Bradleys, die die Mittel hatten, waren mehr als interessiert, und es dauerte nicht lange, bis man beschloss, den Sprung zum Schwarzen Kontinent zu wagen, und zwar mitten in sein Herz, in den Kongo (zu jener Zeit belgisches Kolonialgebiet).

    War das Vorhaben an sich schon ganz und gar außergewöhnlich, so wurde das noch durch den Willen der Bradleys überboten, ihr sechsjähriges Mädchen mitzunehmen. Akeley gefiel die Idee, wollte er doch ein neues Bild von Afrika zeichnen und die blutrünstigen Tiergemetzel durch Naturbeobachtungen ersetzen (Akeley gehört auch zu den Pionieren des naturfreundlichen Tierfilms). Ein süßes, unschuldiges Mädchen war dafür, so seine Vorstellung, ein ausgezeichnetes Symbol.

    Weniger begeistert zeigte sich die Chicagoer Presse, als Mary den Plan öffentlich verkündete. Man zweifelte Marys Qualitäten als Mutter an, und es kostete sie große Mühe, die Gemüter zu beruhigen. Ein Mittel, das sie dabei einsetzte, war jenes Verhaltensmuster, von dem schon die Rede war. »Um zu beweisen, dass sie eine gute Mutter war, musste Mary ihr Bestes geben, musste ihre Tochter nicht nur beschützen, sondern auch zu einem vorbildlichen Mädchen erziehen. Sie durfte Abenteuer erleben, aber nur, wenn Alice dies durch weiße Kleidchen, blonde Locken, ein hübsches Gesicht und bestes Betragen wettmachte.« (JP1, S. 28) Anders gesagt: Mutter wie Tochter mussten bei aller Extravaganz die tradierte Frauenrolle glaubwürdig vermitteln. Dass es dabei zu seelischen Verletzungen kam, die Alli ein ganzes Leben lang mit sich herumzutragen hatte, offenbarte sich erst später.

    Abgesehen von diesen psychosozialen Konflikten war es in der Tat erstaunlich, dass genau jene Eltern, die ihr Kind wegen der Unsicherheit Chicagos nicht auf die Straße ließen, nun bereit waren, es erheblichen Gefahren auf völlig unbekanntem Terrain auszusetzen. Andererseits war es undenkbar, Alli einfach alleine zu lassen. So entschied man, sie bei der Reise rund um die Uhr bewachen zu lassen (unter anderem durch zwei sie begleitende Nannys). Dennoch blieb ein erhebliches Risiko. »Hier ging es nicht um eine Touristensafari in Britisch-Ost, die von einem Ausrüstungsexperten in Nairobi arrangiert wurde. Die Gegend, in die sie reisen würden, war (…) in etwa so zugänglich wie heutzutage der Gipfel des Mount Everest.« (JP1, S. 27)

    Um es kurz zu machen: Das Experiment gelang, und obwohl es so manche kritische Situation gegeben hatte, kamen alle nach einem halben Jahr wohlbehalten und mit Kisten voller Trophäen zurück. Das Penthouse wurde zum »Afrikazimmer« umgewandelt und immer wieder einem staunenden Publikum vorgeführt. Überhaupt war die Resonanz in der Öffentlichkeit enorm und schlug landesweite Wellen. Die Akeley-Bradley-Expedition und vor allem natürlich Alice, die kleine Afrikaforscherin, waren eine mittlere Sensation, die viele Menschen bewegte und begeisterte.

    Zwischen den Welten

    Während die ruhelose Mary nach der Rückkehr sofort daranging, die Reise zu verwerten – sie organisierte Vorträge, schrieb viele Zeitungsartikel und eine Fortsetzungsserie für die

    CHICAGO TRIBUNE

    , aus der kurz danach ein Buch wurde –, hatte Alice mit ganz anderen Problemen zu kämpfen.

    »Für Alice hatte Afrika eine tiefe Kluft aufgerissen zwischen ihrer Alltagswirklichkeit und ihrem Safarileben. Afrika ließ Chicago unwirklich erscheinen, …« (JP1, S. 45) In Afrika war Alli das Mädchen in Kakihosen und Stiefeln mit einem Speer in der Hand gewesen, in Chicago durfte sie nur noch das liebe Mädchen in Seidenunterwäsche sein. Ihre Mutter konnte ohne Schwierigkeiten sowohl Flintenweib als auch Grande Dame spielen, Allis Kindlichkeit konnte dagegen den Rollenwechsel nur schwer verarbeiten. Tatsache ist, dass sie erste Anfälle von Melancholie, gar Depressionen bekam. Da derartige »Schwächen« in ihrer Familie aber nicht gezeigt werden durften, zog sie sich in diesen Zuständen zurück oder verdrängte sie.

    Die Lodge

    »Später sagte Alice für gewöhnlich, sie sei ein einsames, unglückliches Kind gewesen. Aber hinter dieser Geschichte lugt ein anderes Kind hervor, eine zärtliche, fröhliche Alice, neugierig, abenteuerlustig und immer in Bewegung.« (JP1, S. 53) Das war in Afrika der Fall gewesen, wo sie regelrecht aufgeblüht war, und das wiederholte sich in den zwei- bis dreimonatigen Sommerurlauben im nördlichen Wisconsin. Dort hatten die Bradleys ein Waldstück und ein Sommerhaus mit direktem Zugang zu einem See gekauft, das sie »die Lodge« nannten. Die Lodge war morsch, einfach, ohne Strom und Telefon, aber wunderbar. Hier erlebte Alli Kindheit im schönsten Sinne des Wortes, und es mag nicht verwundern, dass sie bis in ihre Sechziger hinein fast jeden Sommer zur Lodge kam.

    Die zweite Afrikareise (1924/1925)

    Natürlich war die Lodge nur ein kleines, wenn auch liebliches Musikstück gegenüber der monumentalen Oper, die Afrika hieß. Umso erfreuter war Alice, als sich die Eltern zu einer zweiten Reise mit neuer Begleitung entschlossen. Diese sollte der ganz große Wurf werden, denn man wollte ein Jahr unterwegs sein und nach dem Kongo und verschiedenen Anrainergebieten auch Teile Asiens besuchen (Indien, Java, Sumatra, Vietnam). Im Juni 1924 – Alice war jetzt neun Jahre alt – ging es los.

    Im Nachhinein bewertete Alice den afrikanischen Reiseteil als großartig und zutiefst beeindruckend. Sie lernte sogar bis dahin nicht entdeckte Kannibalenstämme kennen, die empört darüber waren, dass die Weißen, wenn sie schon andere umbrachten, diese noch nicht einmal verspeisten. Die in den SF-Geschichten Tiptrees stets durchscheinende Xenophilie hat in ihrem unbefangenen Umgang mit völlig anderen Kulturen und Sitten, den sie von Kindesbeinen an gelernt hatte, höchstwahrscheinlich ihren wichtigsten Ursprung.

    Der im Fernen Osten stattfindende Teil der Weltreise stieß sie dagegen ab. Es waren vor allem das fürchterliche Elend der Menschen, die bis auf die Knochen abgemagert auf den Straßen der indischen Großstädte massenweise verreckten, und der gleichzeitig schamlos zur Schau gestellte Reichtum der oberen Kasten, die sie anekelten. Auch die Behandlung der Frau, so weit war sie schon, missfiel ihr.

    1.2 – Die Puppe in der Schachtel

    Übergänge

    Mitte 1925 war man zurück in Chicago. Wie gehabt besorgte Mary sofort die wiederum sehr erfolgreiche Vermarktung des Erlebten und schrieb unter anderem die beiden Kinderbücher Alice in Jungleland und Alice in Elephantland, für die die begabte Zeichnerin Alli die Illustrationen schuf. Mittlerweile knüpften die Bradleys und vor allem Mary immer mehr Kontakte zu Berühmtheiten ihrer Zeit, und Mary errang ihrerseits eine weit über Chicago hinausreichende Prominenz. Auch Alice bekam ein schmales Stück vom Kuchen ab. Die beiden o. g. Bücher wurden nämlich z. T. als offizielles Unterrichtsmaterial in den Schulen eingesetzt. So passierte es ab und an, dass das in den Büchern geschilderte Mädchen leibhaftig in einer Klasse auftrat, um von seinen Abenteuern zu erzählen.

    In Allis Empfinden entstand nicht nur dadurch eine Art Konkurrenzsituation zur eigenen Mutter, bei der sie allerdings auf verlorenem Posten stand. »Mit Mary im Wettbewerb zu stehen, war verheerend, denn alles, was ich konnte, konnte sie zehnmal besser. Mir kam nie in den Sinn, dass das kein Wunder war, weil ich ein Kind und sie eine erwachsene Frau war.« (zit. nach JP1, S. 76) Aus diesem fast schon existenziellen Minderwertigkeitskomplex heraus zog das junge Fräulein den abwegigen Schluss, der Mutter in allem konsequent und kompromisslos nacheifern zu müssen, um sie letztendlich noch zu übertreffen. »Sie [Alli, H. F.] wollte begehrter, beliebter und schöner sein. Sie wollte wie Mary sein, so makellos weiblich, dass sie es sich erlauben konnte, sie selbst zu sein.« (JP1, S. 84) Diese apodiktische Absicht, wohl nicht zufällig zusammenfallend mit dem Beginn der Pubertät, leitete eine Phase in Allis Leben ein, die ihren Vorlauf in einer bezeichnenden und symbolträchtigen Anekdote hatte. Es geht um die Puppe in der Schachtel!

    Ein denkwürdiges Kostümfest auf hoher See

    Während der Überfahrt nach Kapstadt bei der ersten Afrikareise – wir erinnern uns, Alice war zu jener Zeit sechs Jahre alt – wurde überraschend ein Kostümfest für die sich zahlreich an Bord befindenden Kinder angesetzt. Die schönsten Kostüme würden mit Preisen belohnt werden. Die Nachricht traf Mary völlig unvorbereitet, aber Mary wäre nicht Mary gewesen, wenn sie nicht sofort der Ehrgeiz gepackt hätte. Natürlich stand ihrem niedlichen Mädchen ein Preis zu!

    »Mary improvisiert und schneidert Alice ein Kleid aus weißem Krepppapier mit rosa Schleifchen, stellt sie in eine hölzerne Kiste, in die sie gerade hineinpasst, bindet eine Schleife um die Kiste und lässt sie von zwei Matrosen zur Party tragen. Die Kiste wird geöffnet, und die kleine Alice kommt zum Vorschein, die darin steht wie eine französische Puppe in einem Spielwarenladen (…). Alle hatten befürchtet, dass Alice gar nicht stillstehen würde, aber zur allgemeinen Überraschung blieb sie vollkommen regungslos, wie eine echte Puppe in einer Schachtel – tatsächlich fühlte sie sich so fremd und eingeschüchtert, dass sie überhaupt nicht mehr aus der Kiste heraus wollte.« (JP1, S. 29) Die Geschichte fand ein (kurzfristig) gutes Ende. Alice durfte sich nicht nur über einen Hauptpreis freuen, sondern auch über die für sie ungewohnt vielen Kinder, die ihr applaudierten.

    Überanpassung

    Interessanter als der Unterhaltungswert ist der Symbolwert der wahren Anekdote. Alice wurde von Mary zur Puppe gemacht, und das ist genau das, was eine Machismo-Gesellschaft erwartet. Mädchen und Frauen sollen Barbies sein, die ihren Kens zu Willen sind. Noch signifikanter ist, dass sich Alice mit ihren mittlerweile 14 Jahren immer noch wie die Puppe in der Schachtel fühlte, ja mehr noch. Sie verinnerlichte Marys Bild so sehr, dass sie genau diesem Bild entsprechen wollte. In ihrem Bestreben, zum Klon

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