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Wölfe im Frühling: Ein Leben im Zeichen der Diktatur
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eBook319 Seiten4 Stunden

Wölfe im Frühling: Ein Leben im Zeichen der Diktatur

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Über dieses E-Book

Nach Jahren der Verfolgung durch den kommunistischen Geheimdienst UDB-a zieht sich Mijo Juric zurück in das Dominikanerkloster, wo alles seinen Anfang nahm, und schreibt seine Geschichte auf: ein Zeugnis dafür, dass es keine Diktatur "mit menschlichem Antlitz" gibt, wie Jugoslawien unter Josip Broz Tito im Westen gerne genannt wurde.
SpracheDeutsch
HerausgeberSeifert Verlag
Erscheinungsdatum23. Nov. 2019
ISBN9783902924827
Wölfe im Frühling: Ein Leben im Zeichen der Diktatur

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    Buchvorschau

    Wölfe im Frühling - Mijo Jurić

    Österreich

    1

    Zwei, drei Worte am Anfang

    In den letzten Jahren erschienen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina eine ganze Reihe von Büchern über Verfolgung von politischen Flüchtlingen durch den berüchtigten jugoslawischen kommunistischen Geheimdienst UDB-a ¹. Es wurden sowohl viele Täter/Agenten als auch ihre Opfer katalogisiert. ²

    Darin wurden Auszüge aus Dossiers veröffentlicht, die diese Spionageorganisation über viele Kroaten, die dem Jugoregime und dem »Waldmarschall« Josip Broz Tito verdächtig waren, gesammelt hatte. In all diesen Büchern wird auch mein Name erwähnt. Nichts Besonderes eigentlich. In den UDB-a-Geheimakten stehen auch die Namen der Personen, die mich bespitzelt und jene ungeheuerlichen Anschuldigungen gegen mich erhoben haben, die mich über viele Jahre in Lebensgefahr brachten: die »UDB-aschi«, die auch eiserne Faust des Jugoregimes genannt wurden. Kazimir Katalinić ³ spricht in diesem Zusammenhang von »Moral-Gesindel«. Die jugoslawische Kommunistische Partei und die UDB-a waren dazumals eins, »ein Körper und eine Seele!«

    Mitte der 80er Jahre wurde meiner Familie durch einen Lehrer aus unserer Volksschule – »natürlich« ein Mitglied der Partei – diskret mitgeteilt, dass unser Nachbar C. J. beauftragt sei, unser Haus zu überwachen! Und diesen Auftrag hatte er nicht von der UDB-a erhalten, sondern – von der Kommunistischen Partei!

    Erst Ende April 2006 sprach ich in Tuzla zufällig mit einem ehemaligen UDB-a-Agenten, der mir gestand, dass er ab dem Jahr 1977 mit glühender Begeisterung für die UDB-a gearbeitet hatte, um Jugoslawien und Präsident Tito zu schützen. Fünf Sicherheitsringe, sagte er, seien um Tito formiert gewesen, und wenn es ihnen an Staatsfeinden gemangelt habe, dann hätten sie selbst welche erfunden! »Keine Information – kein Geld!«, habe die Parole in den Reihen der UDB-a gelautet. Dann seien sie eben an den Abenden in die Gasthäuser gegangen, hätten völlig unbescholtene Männer unter Alkohol gesetzt und ihnen zweifelhafte politische Aussagen abgerungen. Heute wisse er, dass er eine schmutzige Arbeit verrichtet habe, aber damals sei die UDB-a ständig damit beschäftigt gewesen, die Notwendigkeit ihrer eigener Existenz unter Beweis zu stellen. Und nur durch stete Erfolge hätten sie sich Geld und Privilegien sichern können.

    Die Opfer der auf solche Art zustande gekommenen Unterstellungen mussten außer einer meist langjährigen Haftstrafe dauerhafte Verfolgung, totale Ausgrenzung aus der Gesellschaft, Vorenthaltung wirtschaftlicher oder kultureller Erfolge, Ausreiseverbote und ähnliche Sanktionen ertragen. Nur unwesentlich milder ging man gegen die Familienmitglieder solcher »Staatsfeinde« vor! Oft mussten sie sich glaubhaft von den gebrandmarkten Angehörigen distanzieren und dem Tito-Regime mit Spitzeldiensten ihre Ergebenheit beweisen.

    Bis zum heutigen Tag, also genau zwanzig Jahre nach dem Zerfall des Kommunismus im ehemaligen Jugoslawien, ist mir kein einziger Fall bekannt, dass sich einer der UDB-a-Agenten bei seinem Opfer entschuldigt oder gar um Vergebung gebeten hätte. Vielmehr halten sie sich selbst für die Opfer einer ungerechten Hetze! Als diese Spitzel und Mitarbeiter des UDB-a in den Jahren 1990/91 in Massen »entlassen« wurden, verordnete man ihnen auch strengste Geheimhaltung. Sie halten sich daran, bis heute. Sie scheinen zudem noch immer bestens vernetzt zu sein, und beschützen sich gegenseitig.

    Da ich nicht zulassen will, dass die UDB-a-Unterstellungen gegen mich weiterhin für bare Münze gehalten werden, habe ich mich spontan entschlossen, dieses Buch zu schreiben und darin die Wahrheit zu bezeugen: Dies ist die Geschichte eines bosnisch-kroatischen Gymnasiasten, eines 18-jährigen Rebellen und Antikommunisten, der, geleitet durch die Liebe für sein Volk und seine Heimat, in den Jahren der kroatischen Studentenbewegung 1971 plötzlich aus der Wärme der vertrauten heimatlichen Umgebung gerissen wurde. Dies ist ein authentisches Dokument, eine kleine persönliche Geschichte. Aber Hunderte und Tausende solcher kleinen persönlichen Geschichten bilden die große Epoche, die in die kroatische Geschichte als der Kroatische Frühling 1971 eingegangen ist.

    2

    Wo alles begann …

    Von Zagreb nach Split zehn Stunden Fahrt! Dazu die schreckliche Juli-Hitze, ohne Klimaanlage der glühenden Sonne ausgesetzt. Zum Glück war ich allein unterwegs. Eine halbe Stunde ging es voran, und dann folgte genauso lang Stillstand, ohne ersichtlichen Grund. Doch, fiel mir ein, es war Samstag, und wie immer im Sommer fand an den Wochenenden der große Urlauberwechsel statt. Von Gračac in Richtung Knin und weiter nach Split ging es plötzlich wieder zügig voran. Um etwa 19 Uhr kam ich nach Split und fuhr gleich Richtung Hafen. Weil die nächste, zugleich die letzte Fähre nach Supetar erst um 21 Uhr fuhr, nutzte ich diese unerwartete Gelegenheit, das Dominikanerkloster in der Hrvojeva-Straße, gleich hinter dem Markt und unmittelbar neben dem Diokletianpalais, zu besuchen. Dort lebte mein alter Latein-Professor, Pater Kerubin Mekjavić, dem ich bei unserem letzten Treffen vor einiger Zeit verschiedene Skripten und Kopien versprochen hatte. Außerdem musste ich mich bei ihm bedanken, weil er mir ein Zimmer in Bol organisiert hatte.

    Pater Kerubin Mekjavić war schon weit über 80, aber wir unterhielten uns eine halbe Stunde überaus angeregt. Beim Abschied schenkte er mir ein Buch (»Dass dir nicht langweilig wird in Bol!«), und im Speisesaal warf er mir noch heimlich einige Feigen und Pflaumen in eine Papiertüte (»Für die Überfahrt!«). Dann verabschiedete sich mein alter Professor und Klassenvorstand von mir in einer Art, die vermuten ließ, dass es für immer sein würde.

    Trotz meiner Müdigkeit war die Fahrt auf der Fähre Lastovo für mich ein echter Genuss. Meeresluft, wundersamer abendlicher Blick auf die Stadt Split, die Röte auf der offenen See, und das Gefühl, endlich im Urlaub und dem Ziel nahe zu sein, das alles verschaffte mir Entspannung und Zufriedenheit. Bald erreichten wir die Insel Brač, und von der Stadt Supetar aus führte mich mein Weg über die kurvenreiche Inselstraße nach Bol. Ich hatte es eilig, denn ich wusste, dass das Empfangspersonal meinetwegen länger im Dienst blieb. Und wie jedes Mal, wenn ich auf die südliche Seite der Insel gelange und unten in der Tiefe Bol erblicke, überkam mich ein Entzücken, das schwer zu beschreiben ist, getragen von dem Gefühl des Heimkommens, der Rückkehr dorthin, wohin die Träume dich immer wieder entführen. Mein Bol ist voller Perlen, aber die zwei schönsten liegen an seinen Grenzen; an einem Ende ist es der berühmte und einzigartige Strand Zlatni rat (»Goldenes Horn«) und am anderen das Dominikanerkloster.

    Es war schon ziemlich spät, als ich endlich zum Dominikanerkloster kam. Leichte Bora erfrischte den Abend und strich durch die Kronen der riesigen Pinienbäume vor dem Klostergebäude. Sofort erkannte ich die einzigartige Melodie der Bora in den Pinien, wie damals, vor 35 Jahren, als ich sie das erste Mal wahrgenommen hatte. Tausende solche Bäume wachsen in Kroatien, Millionen davon auf der ganzen Welt, aber diese Musik entströmt nur den Pinien rund um das uralte Kirchlein der Heiligen Johannes und Theodor aus dem 9. Jahrhundert, vor dem fünfhundert Jahre alten Kloster in Bol. Für mich war dies immer ein besonderer Ort, geprägt von reicher Geschichte und vielfältiger Schönheit. Diese Musik der Bora in den Kronen meiner Pinien, das Tönen und Brausen, seit ich sie vernommen habe, klingt sie mir schöner als jede andere Melodie!

    Mir wurde das Zimmer Nummer 23 zugeteilt, eine typische karge Mönchzelle, genauso wie ich es erwartet hatte. Von Müdigkeit übermannt, schlief ich bald tief und fest ein, froh, ohne größere Schwierigkeiten an mein Reiseziel gekommen zu sein.

    Am nächsten Morgen weckten mich die Kirchenglocken. Ich stand auf, und noch vor dem Frühstück suchte ich den Klostergarten auf, wo es mich vor allem zur Gospina špilja, der »Lourdesgrotte«, hinzog, vor der wir seinerzeit jeden Abend gebetet hatten.

    Der Klostergarten ist heute ein wahres Paradies! Die Touristen zahlen sogar dafür, dass sie neben dem Museum auch diesen wunderschönen Garten sehen dürfen. Seit die Insel Brač durch eine Untersee-Wasserleitung mit dem Kernland verbunden ist, werden die Gärten regelmäßig bewässert, wodurch die Vegetation viel grüner und üppiger geworden ist. Die Palmen im Garten, die wir damals mühelos übersprungen haben, sind jetzt an die sechs, sieben Meter hoch! Überall im Garten stehen Tongefäße mit verschiedenen Pflanzen, die liebevoll gepflegt werden. Neben der Mariengrotte leben seit Jahren einzelne Landschildkröten, die erklärten Lieblinge der hier urlaubenden Kinder.

    Die Ortschaft Bol selbst ist heute hübscher, mondäner, als sie damals war. Aber das einst berühmte Priesterseminar gibt es nicht mehr! Die Klassenzimmer und Schlafräume sind jetzt für Touristen in kleinere Zimmer und Appartements geteilt worden. Für mich ist dies ein schmerzlicher Verlust. Das Dominikanerkloster, gegründet im Jahre 1475, ist noch heute ein Ort in den man mit besonderer Ehrfurcht hineingeht. Für jemanden, der hier keine persönlichen Erinnerungen hat, ist es nur ein kleines Paradies mit einem starkem Hauch vergangener Jahrhunderte. Wie gerne würde ich unsere Bühne wiedersehen, und den schwarzen Bösendorfer-Flügel im großen Speisesaal, an dem Pater Redžo (Reginald Klapež) manchmal nach dem Essen Mozart gespielt hatte. Aber es ist, wie es ist, ich sollte nicht lamentieren, sondern mich entspannen und das Meer, die Ruhe, die klösterliche Küche und den Wein genießen. Und versuchen, etwas zu arbeiten. Denn dazu war ich eigentlich hergekommen. Als ich auf die Idee verfallen war, dieses Buch zu schreiben, hatte ich gleichzeitig den Wunsch verspürt, dies in Bol zu tun, im Kloster. Denn meine Geschichte hat gewissermaßen hier den Anfang genommen.

    Zu Mittag zeigte mir das freundliche Personal im Speisesaal den Tisch, an dem ich die nächsten Tage sitzen würde. Ich nahm Platz und betrachtete interessiert die unzähligen Ölbilder an den Wänden. Plötzlich wurde mir bewusst, dass genau an derselben Stelle auch damals mein Tisch gestanden hatte, vor genau 35 Jahren!

    Nach dem Mittagessen setzte ich mich, mit Schreibutensilien bewaffnet, in den Garten, von wo aus man auf die Insel Hvar blickt. Unter dieser Terrasse hatten sich damals unsere Umkleidekabinen befunden, wo wir die Kleider gegen Badehosen tauschten, bevor wir ins Meer sprangen. Meine Augen wanderten zum Horizont. Spiegelglattes, ruhiges Meer lag vor mir, in Kroatien nennt man diese Phase bonaca (»glatte See«), weil sich das Meer so zahm und still ausbreitet.

    Unweigerlich fühlte ich mich nach Drijenča, in meinen Geburtsort, zurückversetzt, wo mein Leben begonnen hatte. Jemand hat einmal gesagt, dass der Charakter eines Menschen bereits in den ersten fünf Jahren seines Lebens geformt wird, danach wird er nur noch vervollständigt und korrigiert. Das scheint auch mir so.

    3

    Kindheit in Drijenča

    Familienfoto, Drijenča 1958. Mutter Tomka, Schwester Marija, Mijo, Bruder Petar, Vater Rafo und Schwester Finka

    In dem bosnischen Dorf Drijenča, ungefähr zwanzig Kilometer von Tuzla entfernt, verlebte ich meine Kindheit, ohne Strom, ohne Radio, ohne richtigen Spielplatz oder echten Ball, aber dennoch weitgehend sorglos und fröhlich. Die einzige technische Errungenschaft, die wir besaßen, war ein Wecker! Und dieses Gerät ließ mir keine Ruhe, ich musste es immer wieder öffnen und das geheimnisvoll darin liegende Uhrwerk bewundern. Solche Verhältnisse waren damals, in den Fünfzigern, typisch für ein bosnisches Dorf. Das Leben spielte sich auf dem Feld, am Hof, im Wald, am Fluss Drijenačica, neben Kühen und Hunden ab. Wir kletterten auf Kirschbäume, fuhren auf selbst gebastelten Skiern, meist Zaunbretter, die wir zurechtbogen, liefen im Winter in ebenso selbst gefertigten Schlittschuhen Eis auf zugefrorenen Teichen, die wir an heißen Sommertagen mit Dämmen befestigten und durchschwammen. Sogar eine dorfeigene Variante von Baseball pflegten wird. Wir spielten mit unermüdlicher Begeisterung Ring, Blischke (Anmäuerln, Tschortschik), ließen im Frühsommer die Borien, Trompeten aus der Weiderinde, erschallen, und dazwischen knallten die Tscheparen, Pistolen aus Holunderholz, in die wir Hanfknöllchen hineinpressten. Um die Osterzeit hörte man überall das Krähen unserer Ratschen und am Abend vor dem Tag des heiligen Elias erstrahlte das ganze Dorf im Feuer der Lila, das waren Fackeln, die wir aus getrockneter Kirschbaumrinde zusammenbanden und die lange und lichterloh brannten.

    Von der großen, weiten Welt, bekamen wir Kinder überhaupt nichts mit. Wenn im Sommer ab und wann einige Kinder aus der Stadt aufkreuzten, und z. B. von »Dick und Doof« erzählten, hörten wir uns ihre Geschichten an, als ob sie von einem anderen Planeten stammten. Entsetzt waren wir aber, wenn uns die Älteren erzählten, dass die in der Stadt sogar beim Tisch »einen fahren lassen« – eine Handlung, die bei uns am Land einer beichtwürdigen Sünde gleichkäme.

    Die Sommer meiner Kindheit waren heiß, die Winter waren kalt und schneereich, die Frühlings- und Herbstzeiten hatten je ihren eigenen Reiz, alles schien in Harmonie und Einklang mit seiner Bestimmung zu sein. Drijenča war damals auch voller Kinder. Niemand hatte die Möglichkeit, während der Schulferien in Urlaub zu fahren, und so mangelte es uns nie an Spielkameraden. Und während wir Kinder spielten, erklang in einiger Entfernung das Singen und Gelächter der jungen Frauen und Männer, die auf den Feldern arbeiteten.

    Wenn es dunkel wurde, kehrten wir erschöpft in unsere Häuser mit den zwei Wohnräumen zurück, nahmen auf unseren Schemeln an der Sinija, einem runden, sehr niedrigen Tisch, Platz, aßen gemeinsam aus der Pfanne zu Abend und beteten im schwachem Licht der Petroleumlampe. So verstrich ein Tag nach dem anderen.

    Dieses Dorf Drijenča, das jahrhundertelang von keiner einzigen Straße durchquert wurde, am Ufer der Panonien und Posavina gelegen, unmittelbar an der Schwelle zur Antemurale christianitatis, dem »Bollwerk der Christenheit«, wie Papst Leo X. die Kroaten im Jahr 1519 bezeichnet hatte, als sie gegen die Ausbreitung des Osmanischen Reiches nach dem heutigen Europa Widerstand geleistet hatten, bot seinen Bewohnern keineswegs ein bequemes, modernes Leben. Die Äcker am Fuße des Berges Majevica, geheimnisvoll, schön und dunkel und für uns Kinder unendlich weit, waren karg und steil und erlaubten keine ertragreiche Landwirtschaft. Meinem Großvater Marijan hatten die Kommunisten im Jahre 1945 fast das gesamte Hab und Gut geraubt und ihn für einige Jahre ins Gefängnis gesteckt, weil er es abgelehnt hatte, seinen relativ großen Besitz in eine Volksgenossenschaft (Kolhos) eingliedern zu lassen. Die Volksregierung machte darauf kurzen Prozess, beschlagnahmte sein gesamtes Vermögen, ein Partisanengericht verurteilte ihn als Volksfeind zu drei Jahren Haft, und er wurde darauf nach Foča am Drina-Fluss in den Kerker verfrachtet. So wurden wir aus einer reichen Bauernfamilie über Nacht buchstäblich zu Hungerleidern. Erst Jahre später, nachdem Großvater aus dem Gefängnis entlassen wurde, bekam er einen Teil seines Besitzes wieder. Auch anderen Bauern aus der Gegend erging es wie uns. Ich erinnere mich an Mato Pavlović, genannt Beg, an Mijo Stjepić-Mandić und andere, die ebenfalls verhaftet und enteignet wurden.

    Ab dem Jahre 1960 ging ich ins benachbarte Šibošnica, ungefähr zwei Kilometer von uns entfernt, in die Grundschule, im Sommer barfuß, und sonst in Gummistiefeln. In der Schule bekamen wir zur Mahlzeit eine Schnitte Brot und eine Schale Milch, die aus Milchpulver angerührt wurde. Das Pulver stammte aus einer ausländischen Spendenaktion, ich erinnere mich noch, dass die Säcke englische Beschriftungen trugen. Manche Kinder erhielten auch Kleidung vom Roten Kreuz. Die Schule in Šibošnica nahm Schüler aus mehreren Dörfern in der Umgebung auf, allerdings war Drijenča das einzige mit kroatischer Bevölkerung. Gleich am Anfang verbot uns unser Lehrer Dušan den katholischen Gruß Hvaljen Isus (»Gelobt sei Jesus Christus«), der seit eh und je bei uns üblich war, und es noch heute ist. Für uns Kinder aus Drijenča war die Begrüßung mit »Guten Tag« damals ausschließlich kommunistische, also atheistische Gepflogenheit.

    Schläge durch die Lehrer waren alltäglich. Wir wurden aus jedem noch so geringen Anlass geschlagen. Mangelhafte Hausaufgaben waren ein hinreichender Grund dafür, oder auch wenn wir zu spät zum Unterricht kamen oder wenn wir keinen Sliwowitz von zu Hause mitgebracht hatten! Der Lehrer gab uns, der Reihe nach, jeden Samstag eine leere Flasche mit, die von den Eltern mit Schnaps gefüllt werden sollte, und wenn ein Schüler oder eine Schülerin die Flasche einmal leer zurückbrachte, setzte es regelmäßig Schläge. Lehrer, Milizionäre und Steuereintreiber galten als unantastbare Autoritäten, sodass niemand es wagte, eine solche Handlungsweise in Frage zu stellen. Manche Eltern kamen sogar in die Schule und verprügelten die eigenen Kinder vor den Augen der Mitschüler, wenn ihnen der Lehrer gemeldet hatte, dass das Kind nicht spurte oder schlecht lernte!

    Eines der größten Vergnügen war es für uns, wenn wir mit den Eltern auf Besuch bei Verwandten oder Freunden waren und aus den dämmrigen, von Petroleumlampen spärlich erhellten Ecken den abenteuerlichen Geschichten lauschen durften, die unsere Großväter, um sich wichtig zu machen manchmal sogar auf Deutsch, aus der k.u.k.-Zeit erzählten. Natürlich machten sich manche dabei ein wenig wichtig und brüsteten sich mit ihren Erfahrungen, aber uns Kindern ersetzten diese Stunden Märchenbücher, Radio und Fernsehen. Manchmal jedoch, wenn es um politische Dinge ging, z. B. über Stjepan Radić ¹ oder andere kroatische Persönlichkeiten der jüngeren Geschichte, zogen sich die Erwachsenen in andere Räume zurück, damit die Kinder nichts hörten, was sie dann womöglich in der Schule ausplaudern könnten. Und was taten wir Kinder? Wir lauschten heimlich, wie sollte es auch anders sein.

    Auf diese Weise erfuhr ich zum Beispiel, was mit meinem ältesten Onkel Blaško geschehen war. Er war Domobran ² und zu Weihnachten 1943 auf Urlaub nach Hause gekommen. Er hatte damals schon drei kleine Kinder. Vor dem Haus erschienen plötzlich serbische Partisanen in deutschen Uniformen. Sie redeten ihn auf Deutsch an, und während er sich mit ihnen unterhielt, schnappten sie ihn und legten ihn in Fesseln. Ungefähr zur selben Zeit und mit demselben Trick entführten sie auch einen gewissen Nikola Mandić aus dem benachbarten Dorfteil Toljaci. In einem Bach in der Nähe unseres Hofes rissen sie ihm brutal den Schnauzbart aus und brachten ihn dann zusammen mit Onkel Blaško zunächst ins Dorf Piperi, eigentlich eine Tschnetnik-Hochburg, und weiter in das Partisanendorf Jablanica. Weil weder mein Onkel noch Nikola Mandić bereit waren, sich den Partisanen anzuschließen, wurden sie brutal ermordet. Erst ein halbes Jahr später, als Jablanica durch deutsche Soldaten erobert wurde, konnte mein Großvater Marijan den Leichnam seines Sohnes heimbringen und im Familiengrab bestatten.

    Auf der anderen Seite kamen die (kroatischen) Partisanen vom Husino – die nach dem Krieg sogar zu Volkshelden aufstiegen – Mijo Kerošević-Guja und Pejo Marković oft nach Drijenča, zechten dort gemeinsam mit den Ustaschas ³ und Domobranen auf Heimurlaub. Auch sie versuchten zwar, die Drijenčaner zum Übertritt zu den Partisanen zu überreden, jedoch ohne Erfolg, und trotzdem ging man nach solchen Treffen friedlich auseinander, jeder auf seine Seite. Zum Abschied feuerten sie von den Hügeln je einen Schuss in die Luft!

    Im Dorf hatten wir damals keine Kirche, sondern nur eine kleine Kapelle aus Holz. Ungefähr zehn Meter von der Kapelle gab es einen Glockenturm, ebenfalls aus Holz, der ein bisschen den Salzpumpen-Türmen in Tuzla ähnelte. Durch die Spalten in den Kapellenwänden pfiff der Wind, und im Winter fegte der Sturm sogar den Schnee auf den kleinen Altar, dass die Kerzenflammen flackerten. Diese Kälte, die flackernden Kerzen und Windstöße in der kleinen Kapelle blieben mir bis heute in Erinnerung. Vielleicht sind dies die Momente, die einen Menschen an die Orte seiner Kindheit fesseln und ihn das ganze Leben nicht loslassen? Nur gelegentlich kam der Pfarrer, Fra Stanko, nach Drijenča, um die Messe zu lesen, normalerweise gingen wir nach Breške, ungefähr 13 Kilometer von Drijenča entfernt.

    Die Glocke von Drijenča ist im Laufe der Jahrzehnte zu einem wahren Symbol der tiefen Verbundenheit der Drijenčaner mit ihrem Glauben geworden. Wann immer sich dunkle Gewitterwolken über dem Dorf zusammenballten, griff man zum Glockenstrang und läutete so lange, bis die Wolken verschwunden waren! Viele, vor allem ältere Drijenčaner, darunter auch meine Mutter, schworen, dass es keinen einzigen Hagelschaden mehr im Dorf gegeben hätte, seit man die Sturmglocke läutete.

    Nach Breške gingen wir jeden Sonntag selbstverständlich zu Fuß, und zwar bei jedem Wetter, im Sommer bei glühender Hitze oder heftigem Unwetter, im Winter bei Tiefschnee und klirrender Kälte. Wir Kinder mussten zuerst los, weil wir dort auch den Religionsunterricht besuchten, die Eltern kamen dann später, und um elf Uhr feierten wir gemeinsam die Messe. Zum Überdruss kam auch die damalige kirchliche Verordnung, wegen der Kommunion ab Mitternacht keine Nahrung zu sich nehmen zu dürfen, aber wir hielten auch das durch. Am liebsten hatte ich die Mitternachtsmetten zu Weihnachten, wenn ich mit dem Vater und den Onkeln nachts über das tief verschneite Majevicagebirge nach Breške ging. Einmal begegneten wir dabei sogar einem Wolf. Wir konnten ihn im hellen Mondlicht klar erkennen, er war nur wenige Meter von uns entfernt.

    Vielleicht sollte ich noch erwähnen, dass Drijenča das östlichste kroatisch-katholische Dorf in Bosnien ist. Es gibt dort vier katholische Pest-Friedhöfe, Stetschack-Grabsteine mit christlichen Ornamenten, aber auch eigenartige, vermutlich heidnische, Obelisken ohne jeglichen Schmuck. Dieser Teil der Posavina befand sich lange Zeit unter ungarischer Herrschaft, und es gibt nur sehr spärliche schriftliche Quellen über die Geschichte der Gegend. Mündlicher Überlieferung zufolge wurde das Dorf vorwiegend von Flüchtlingen aus allen Teilen von Bosnien und Herzegowina, vor allem aus Usora und Žepče, besiedelt. Auf der Flucht vor den Türken in Richtung des Sava-Flusses und Slawoniens (Kroatiens) fühlten sich manche schon im gebirgigen und von dichten Wäldern umgebenen Drijenča in Sicherheit und blieben gleich da.

    Aus der Türkenzeit ist in Drijenča wie im übrigen Bosnien ein eigentlich schrecklicher Brauch bis heute erhalten geblieben. Fast alle älteren Frauen tragen Tätowierungen, ein Kreuz an jedem Finger und am Unterarm den Namen sowie das Geburtsdatum. Auf eine solche Weise sollte das weibliche Kind in den Augen türkischer Machthaber »wertlos« gemacht werden. Denn man erzählte sich, dass in alter Zeit viele Kinder von den Türken entführt worden seien. Manche wurden als Sklaven verkauft, andere wurden zu Janitscharen ausgebildet, wenn es sich um Jungen handelte und die Mädchen wurden in einen Harem gesteckt. Heute noch befindet sich im Besitz unserer Familie ein Waldstück, das Prosina heißt. Und in diesem Wald

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