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Geerbtes Schweigen
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eBook281 Seiten3 Stunden

Geerbtes Schweigen

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Über dieses E-Book

Bis zu 300.000 Menschen wurden zwischen 1939 und 1945 Opfer der NS- "Euthanasie". Die Erforschung und Aufarbeitung der individuellen und gesellschaftlichen Folgen der "Euthanasie"-Morde steckt jedoch noch in den Kinderschuhen. In diesem Werk begibt sich Bernhard Gitschtaler nun auf die Suche nach den Gründen des Verschweigens und Verdrängens und dessen Folgen.
Bis heute ist es beinahe unmöglich die Namen der "Euthanasierten" öffentlich zugänglich zu machen. Nicht selten ist der Grund dafür die direkte oder indirekte schuldhafte Verstrickung einzelner oder sogar mehrerer Familienmitglieder in den Mordprozess vermeintlich beeinträchtigter Verwandter. Aber auch die gesellschaftliche Stigmatisierung dieser Opfergruppe – vor, während und nach der NS-Herrschaft – stellt ein Hindernis dar, das eine Aufarbeitung und somit Verarbeitung der erlebten und geerbten Traumata der Nachkommen verhindert. Dem Autor gelingt es mit seinen
Forschungen, österreichischen Familien bei der Suche nach ermordeten Vorfahrenzu unterstützen und den innerfamiliären, zumeist von massiven Konflikten begleiteten Aufarbeitungs- und Auseinandersetzungs prozess von bis zu drei Generationen in einer Familie mitzuverfolgen.
Zum ersten Mal wird nicht nur über "Euthanasie"-Opfer und deren Nachfahren gesprochen, sie selbst sind es, die in diesem Buch zu Wort kommen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Mai 2017
ISBN9783701362462
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    Buchvorschau

    Geerbtes Schweigen - Bernhard Gitschtaler

    Literaturliste

    VORWORT

    Als alliierte Truppen im Mai 1945 Europa von der NS-Herrschaft befreiten, wurden die unzähligen Konzentrationslager, die Todesfabriken, in denen Millionen Menschen ermordet wurden, gefunden. Was die Alliierten nicht wussten war, dass auch Krankenhäuser, Heil- und Pflegeanstalten oder „Nervenkliniken"¹ vom mordenden NS-Personal hätten befreit werden müssen. Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, dass Menschen aus den Konzentrationslagern, den wohl schlimmsten je von Menschenhand errichteten Orten, befreit werden konnten, während das NS-Personal in den Krankenhäusern bzw. den jeweiligen Abteilungen und Heilanstalten oft noch Monate nach dem Ende des „Dritten Reichs sein stilles aber mörderisches Unwesen treiben konnte.² Still, aber nicht unbemerkt, wurde gemordet, still und unbemerkt sollten die Opfer, auch in der Zweiten Republik, vergessen werden. Es gibt keine andere NS-Opfergruppe, die mehr mit gesellschaftlichen Tabus und stillschweigend akzeptierten Sprechverboten belegt ist, als die sogenannten „Euthanasie-Opfer.³ Der Weg zu finanzieller Entschädigung, sofern Entschädigung oder Wiedergutmachung für ermordete Angehörige in diesem Zusammenhang überhaupt die richtigen Worte sein können, wurde in den letzten Jahren spät aber doch zugänglich gemacht und die nachholende wissenschaftliche Aufarbeitung kam vor allem in Deutschland voran. Etwas anders stellt sich die Lage hinsichtlich der Aufarbeitung und Verantwortungssuche in Österreich dar. Aufgrund der gesellschaftlichen Stigmatisierung der Euthanasie-Opfer, der jahrzehntelangen Nichtthematisierung der österreichischen NS-Vergangenheit, aufgrund des fehlenden Wissens über diese NS-Verbrechen und die Menschen, die ihnen zum Opfer fielen, sowie den damit verbundenen Schamgefühlen bei Nachfahren bis hin zur Negativbesetzung von Behinderungen oder Beeinträchtigungen in unserer heutigen Zeit, ist es für tausende betroffene Angehörige bis dato nicht oder kaum möglich, sich mit der Familiengeschichte und den traumatischen Euthanasie-Morden auseinanderzusetzen, diese aufzuarbeiten und damit zu bewältigen. Mit den Folgen der durch die NS-Medizin gewaltsam aufgerissenen Wunden haben viele Menschen noch heute zu kämpfen. Dabei geht es Jahrzehnte danach nicht mehr um „offene" Wunden, sondern beinahe ausschließlich um tiefe, seelische Verletzungen und Traumatisierungen, die das Leben vieler Menschen bis heute begleiten und beeinflussen. Wunden, die ebenso präsent wie unsichtbar sind.

    Ging man lange davon aus, dass Gewalterfahrungen nur dann wirken, wenn eine Person direkt von solchen traumatischen Erlebnissen betroffen ist, zeigen aktuelle Forschungen, dass Traumata auch innerhalb einer Familie, von einer Generation auf die Nächste, übertragen werden können. Nachfahren können die Traumatisierungen sogar Jahre später nacherleben, was die traumatisierenden Euthanasie-Morde einmal mehr zu einem brandaktuellen Thema in der Gegenwart macht.⁴ Zöchmeister und Wutti zeigen dabei besonders eindrucksvoll, wie ähnlich der familiäre Umgang mit den Herausforderungen bei den vielen Betroffenen aus unterschiedlichen Opfergruppen sein kann. Um diese Prozesse verstehen zu können, hat es sich bewährt, NS-Opfer und deren Familien und Nachfahren im Rahmen größerer sozialer Gruppen zu betrachten und zu analysieren. So hatte Zöchmeisters umfangreiches Werk die Shoah und damit die Opfergruppe der Juden sowie deren Nachfahren in Österreich zum Thema. Bereits einige Jahre davor erschien in Österreich der Sammelband „Holocaust im Leben von drei Generationen von Gabriele Rosenthal, die ebenfalls Überlebende der Shoah und deren Nachfahren zum Thema machte.⁵ Gerti Malle wiederum befasste sich als Psychologin mit den Leidensgeschichten und den traumatischen Erfahrungen der Zeugen Jehovas in Österreich, speziell in Kärnten, und Daniel Wutti behandelt in seinem Werk „Drei Familien, drei Generationen das Trauma des Nationalsozialismus im Leben von drei Generationen von Kärntner Slowenen.⁶ All diese Studien zeigen, dass die Be- und Verarbeitung von NS-Traumata nicht nur eine enorme Herausforderung für die direkt betroffene Person, sondern für das gesamte Umfeld sein kann. Gewalt kann auch von einer Gruppe in einer Gesellschaft „kollektiv" erlebt werden, schlicht dadurch, dass diese Gruppe, welche sich selbst nicht als eine solche definieren muss, Ziel von Gewaltakten – welcher Art auch immer – wird.⁷ Zur Zeit des Nationalsozialismus waren dies beispielsweise Juden und Jüdinnen, Homosexuelle, Geistliche, Zeugen Jehovas, Roma & Sinti oder Kärntner Slowenen, um nur einige Wenige zu nennen.

    Es ist dabei kein Zufall, dass in Österreich und Deutschland einige Opfergruppen mehr im Zentrum des (Forschungs)Interesses stehen als andere. Damit wird eine (Macht)Hierarchie der Aufarbeitung und des Gedenkens zwischen den NS-Opfergruppen in der Gegenwart deutlich und es zeigt sich die gesellschaftliche Dimension des Themas. So lässt sich an den bisherigen Forschungen bis zu einem gewissen Grad auch die gesellschaftliche Verankerung und Institutionalisierung der jeweiligen Opfergruppen im „Hier und Jetzt ablesen. Welches Leid wird gesehen? Wer wird gefragt? Wer wird ernst genommen und als Opfer(gruppe) anerkannt? Wo gibt es überhaupt ein Bewusstsein und die „Möglichkeit des Erinnerns und Sprechens über die Opfer und die erlebte Gewalt? Im Umkehrschluss bedeutet dies: Wer wird nicht anerkannt? Oder wem wird nicht zugehört? Wer darf oder kann das erlebte Leid nicht zur Sprache bringen? Welche Opfer(gruppen) bleiben – auch in der Forschung – unsichtbar und warum? Diesen Fragen soll im vorliegenden Buch nachgegangen werden.

    Eine jener Gruppen, die aus unterschiedlichsten Gründen lange unsichtbar und anonym blieb, respektive bleibt – zum einen hinsichtlich der Erforschung transgenerationaler Traumaweitergabe, zum anderen in Bezug auf den Status als NS-Opfer –, ist jene der sogenannten Euthanasie-Opfer. Dies überrascht nicht nur aufgrund der Größe dieser Opfergruppe, sondern auch deshalb, da in die zehntausendfachen Euthanasie-Morde Ärzte schuldhaft verstrickt waren und daneben viele weitere Professionen wie z.B. die Pflege oder jene Tätigkeiten, die man heute wohl als „Soziale Arbeit" bezeichnen würde.⁸ Die Zahl der heute in gerader Linie mit Euthanasie-Opfern Verwandten beziffert Götz Aly dabei vorsichtig mit nicht weniger als zehn Millionen (!) Menschen. „Geht man von 200.000 Menschen aus, die diesen Morden zum Opfer fielen, dann sind diese mit rund zehn Millionen heute lebenden (nicht später zugewanderten) Deutschen (und Österreichern) in gerader Linie verwandt."⁹ Spätestens jetzt werden die Dimensionen der von den Euthanasie-Verbrechen Betroffenen langsam erahnbar.

    Der Höhepunkt der Vernichtung sogenannter „Defektmenschen" wurde während der NS-Herrschaft unter dem Deckmantel der Medizin erreicht. Ein Prozess, in dem Menschen einer wirtschaftlichen Kosten-Nutzen-Rechnung unterworfen und so über Leben und Tod entschieden wurde. Ziel dieses Buches ist es, die Gruppe der Euthanasie-Opfer, deren Angehörige und deren Leid ins Zentrum des Interesses zu stellen und anhand einer Auswahl von generationenübergreifenden Interviews der Frage nachzugehen, wie in österreichischen Familien mit dem Erlebten umgegangen wurde und wird, ob es dabei Ähnlichkeiten zwischen den familiären Auseinandersetzungsprozessen gibt, inwiefern es bei Nachfahren zu transgenerationaler Traumaübertragung kam und inwiefern diese bei ihrer Auseinandersetzungs- und Trauerarbeit unterstützt und begleitet werden können. Dabei stehen gerade Angehörige der Euthanasie-Opfer vor enormen emotionalen und psychisch belastenden Aufarbeitungsschritten.

    Nicht selten stellt sich im Forschungsprozess heraus, dass angehörige Vorfahren oder andere Verwandte bei der Ermordung oder zumindest der Einweisung der Patienten aktiv beteiligt waren. Gerade in ökonomisch schwachen und/oder kinderreichen Familien war das Abgeben der Verantwortung für einen als belastend empfundenen Angehörigen an NS-Heil- und Pflegeeinrichtungen eine Möglichkeit, sich einen „unproduktiven zusätzlichen Esser und zusätzliche Arbeit ersparen zu können. Durch einen Blick auf den damaligen gesellschaftlichen Umgang mit vermeintlich „unproduktiven Volksgenossen sollen solche Entscheidungen in diesem Werk entsprechend kontextualisiert werden. Oft genug waren es aber auch die ideologischen Überzeugungen der Angehörigen oder schlicht Gleichgültigkeit, welche zu den Todesurteilen für Verwandte wurden.¹⁰

    Immerhin, Millionen Österreicher und Deutsche bekleideten Positionen in den unzähligen, das Leben strukturierenden, NS-Organisationen. Die meisten ehrenamtlich. Warum? Weil es dafür soziale Anerkennung und somit Zustimmung zu diesem System gab. Orden für alle. Die Volksgemeinschaft war eine unbarmherzige Leistungsgemeinschaft, unter anderem mit dem Ziel, alle in ihren Augen nicht Leistungsfähigen oder Abgefallenen auszumerzen. In einer von Umbrüchen und Unsicherheiten bestimmten Zeit bot sich der Nationalsozialismus als Ersatzreligion an. Inszenierungen und martialische Symbolik sind Säulen faschistischer Systeme. Fahnen, die Hitler berührte, wurden Reliquien. Hitler, der Führer, inszenierte sich als Erlöser, auf den so viele sehnsüchtig gewartet hatten. Die Menschen wollten an das 1000-Jährige Reich glauben. Weil sie wussten, was sie und ihr Regime taten, hatten viele panische Angst vor einer Niederlage des NS-Regimes und kämpften deshalb umso fanatischer. Durchhalten und weitermachen. An der Front ebenso wie in den Krankenhäusern und Pflegeanstalten, die zur damaligen Zeit gerade den jungen Medizinern nie dagewesene Chancen zur Forschung und zum karrieretechnischen Aufstieg boten. Die Verfolgung der „Nichtsnutze hatte Millionen Österreicher und Deutsche begeistert. Der Psychiater Paul Nitsche fasst die freudige Aufbruchsstimmung der damaligen Zeit mit zweifelhaften aber klaren eigenen Worten zusammen: „Es ist doch herrlich, wenn wir in den Anstalten den Ballast los werden und nun wirklich richtige Therapie [Elektroschocks!] treiben können.¹¹ Ab 1934 wurden in Hitlerdeutschland Massensterilisierungen bei „belasteten" Personen durchgeführt. Diese Zwangsmaßnahmen fanden Zustimmung, weit über die NS-Anhängerschaft hinaus. Was bei erzwungenen Sterilisierungen und Abtreibungen begann, endete nur wenige Jahre später in hunderttausendfachem Mord.

    Später, gegen Ende der NS-Herrschaft, wurden „unliebsame oder „unverlässliche Menschen, auch ohne Behinderungen, vermehrt der Euthanasie zugeführt. Tatsächlich konnte schon ein Sprach- oder Sehfehler, ein Trauma, eine Psychose, epileptische Anfälle, Armut oder einfach nur das Pech, als uneheliches Kind geboren worden zu sein, als Grund reichen, um in die Fänge der NS-Euthanasie zu gelangen.¹² Die Dorfgemeinschaft wusste sehr genau, wo ihre vermeintlichen biologischen Schwachstellen zu finden sind. Den zu Vernichtenden wurde ihr Recht zu Leben abgesprochen, der „erlösende" Tod sollte ihnen dafür von der Volksgemeinschaft geschenkt werden. Die sprachliche Gleichsetzung der späteren Opfer mit Ungeziefer ist dabei nur ein Schritt auf dem Weg zur Vernichtung gewesen. Eine Form der Entmenschlichung, die auch heute bei der medialen Berichterstattung z.B. über Flüchtlinge immer wieder neu angewendet wird.

    Einer der Gründe, warum es bisher keine vergleichbare Arbeit in Bezug auf die Familien und Nachkommen von Euthanasie-Opfern gibt, ist, dass es eben diesen Betroffenen und Nachfahren besonders schwerfällt und zumeist auch schwergemacht wird, über das Erlebte zu sprechen. Wie in keiner anderen Opfergruppe herrscht in dieser und unter den Nachfahren gut 70 Jahre nach dem Untergang des NS das Schweigen. Das Besondere dieser Arbeit ist nun, dass es erstmals gelingt, mit Betroffenen und deren Nachfahren ausführlich über ihre Erlebnisse zu sprechen und somit die Gründe für dieses lange Schweigen untersuchen und thematisieren zu können.

    Eine Würdigung der Euthanasie-Opfer und eine wissenschaftliche Untersuchung, inwiefern es bei dieser Opfergruppe zu transgenerationaler Traumaübertragung gekommen ist und wie solche Familien unterstützt werden können, ist somit auch der Versuch, nach der Verantwortung der in die Morde involvierten Personen und Fachdisziplinen im Besonderen und der Gesellschaft im Allgemeinen zu fragen. Eine Frage, die gerade in Österreich bisher kaum gestellt wurde. Literatur zur Thematik bezieht sich bisher hauptsächlich auf die Bundesrepublik Deutschland. Dieses Buch aber soll allen Nachfahren von NS-Euthanasie-Opfern Mut zur Beschäftigung mit der eigenen Geschichte machen und eine Hilfe und Inspiration bei der Auseinandersetzung, auch mit den leidvollen Jahren der NS-Herrschaft, sein.

    Mein persönlicher Zugang zum Feld

    Mit der Thematik der transgenerationalen Traumaübertragung bin ich durch meine Arbeit als Obmann des Vereins Erinnern Gailtal konfrontiert worden. Seit 2012 erforschen wir im Team die Zeit des NS und dessen Auswirkungen in Österreich und speziell in Kärnten bis heute. Wir betreiben eine eigene Homepage, auf der alle erarbeiteten Texte und die Namen der von uns erforschten NS-Opfer zu finden sind, sowie eine Facebookseite¹³, wodurch wir sehr viele Menschen erreichen. Wir konnten bereits drei Bücher zu unserer Forschungstätigkeit veröffentlichen, organisieren Veranstaltungen, Workshops und Vorträge zur Thematik und bieten „Stadtspaziergänge gegen das Vergessen" an. Darüber hinaus engagieren wir uns für den Erhalt und das Bestehen des Gailtaler Slowenischen Dialektes. Die Arbeit in Vereinsstrukturen bietet dabei einige zu nennende Vorteile. Sind Forschungsprojekte von Universitäten oder anderen wissenschaftlichen Einrichtungen zumeist auf ein, zwei oder drei Jahre beschränkt, so ist die Forschungsarbeit von Erinnern Gailtal eine zeitlich kontinuierliche. Die gewonnenen Kontakte und das Vertrauen in unsere Arbeit, die sich im Grunde nicht von jener von Wissenschaftlern an Hochschulen unterscheidet, verdichten sich so im Laufe mehrerer Jahre hartnäckiger Tätigkeit zu einem engen Unterstützungs- und Informationsnetzwerk. Je länger wir an der Thematik dranbleiben, umso mehr scheinbar Vergessenes können wir zurück ans Licht bringen, umso mehr Zusammenhänge können wir erkennen sowie verstehen und umso mehr Gesprächspartner können wir finden. Eine solche, auch organisatorische Arbeit, begeisterte mich schon im Rahmen meines Politikwissenschaftsstudiums, in dem ich einen Studienschwerpunkt in diese Richtung setzte, den ich beim Studium der Klinischen Sozialen Arbeit fortsetzen konnte.

    Forschungsarbeit als familiärer Begleitprozess

    Im Zuge meiner Forschungsarbeit konnte ich etliche Familien, welche mich kontaktierten, bei der Suche nach ermordeten Vorfahren begleiten. Im Laufe einiger Jahre wurden so mehr als 20 Interviews geführt und es konnten viele unvergessliche Bekanntschaften mit den Nachfahren von NS-Opfern und mit überlebenden KZ-Insassen gemacht werden. Mit den Meisten stehe ich in dauerndem freundschaftlichem Kontakt und Austausch.

    Diese sehr intensive Arbeit kann einerseits eine belastende sein, denn die vielen Schicksale der von den Nazis Ermordeten, die vielen einzelnen Geschichten und das Leid und die Trauer der Angehörigen, welches man als Forscher in diesem Feld immer wieder aufs Neue miterlebt, können nicht spurlos an einem vorübergehen, selbst wenn man auf die in der Wissenschaft gebotene Distanzierung achtet und Wert legt. Auch der „lange Schatten des Nationalsozialismus (und der Revisionisten) ‚zwingt‘ einen, deren Arbeit bis zu einem gewissen Grad nachzuvollziehen."¹⁴ Immer wieder nehme ich mir deshalb Auszeiten von der Forschungstätigkeit, um mich nicht selbst der Gefahr einer „sekundären Traumatisierung auszusetzen.¹⁵ Andererseits ist die Begegnung mit unterschiedlichen Menschen, die mehr über die eigene Familiengeschichte und das familiäre Verhältnis zum Nationalsozialismus erfahren wollen, jedes Mal aufs Neue eine bereichernde Erfahrung, so dass nach all den Jahren der Begleitung von Familien, den intimen und oft sehr berührenden Gesprächen mit Angehörigen, die daraus resultierende positive und entlastende Wirkung für Nachfahren und Verwandte von NS-Opfern für mich bei weitem im Vordergrund stehen. Jedes Gespräch, jeder begleitete Trauerprozess, wird so auch für mich zu einer Quelle der Erkenntnis, der Inspiration und des persönlichen Wachsens. Und an der eigenen Geschichte zu „wachsen ist die Perspektive, die jenen gegeben werden kann, die sich bereit fühlen, sich mit den ermordeten und verschwiegenen Familienmitgliedern auseinanderzusetzen. Denn heute wissen wir, dass Menschen aus traumatischen Erfahrungen auch Kraft schöpfen und daran wachsen können. Gemeint ist das sogenannte „posttraumatische Wachstum", das in diesem Buch noch genauer angesprochen werden wird.

    Zurück zum schematischen Ablauf meiner Unterstützungsarbeit. Nachdem es zu einer ersten Kontaktaufnahme kam, führe ich meistens mehrere Gespräche mit einem oder mehreren Familienmitgliedern über die Familiengeschichte und alle vorhandenen Details zur gesuchten Person. Erhärtet sich der Verdacht, dass es sich um einen (Euthanasie)Mord handeln könnte, organisiere ich die Kontaktaufnahme mit Archiven oder anderen Institutionen, bei denen Aktenmaterial zum Fall lagern könnte. Eine Begleitung und Vorbereitung der Familie wird, sollte Aktenmaterial auffindbar sein, ab diesem Punkt noch wichtiger. Die neuen Informationen zu den Todesumständen von Vorfahren können für Angehörige, gerade von Euthanasie-Opfern, schockierend und sehr belastend sein. Die in den NS-Akten verwendete Sprache tut dabei ihr Übriges. Es tauchen zumeist viele Fragen auf, mit denen die Angehörigen nicht alleine gelassen werden sollten. Meine Aufgabe im Auseinandersetzungsprozess ist es dabei, sowohl als geduldiger Gesprächspartner einfach und unkompliziert präsent zu sein aber auch mit Hintergrund- und Fachwissen zu den Abläufen z.B. der NS-Euthanasie, dem Aktenmaterial, Folgeprozessen gegen Täter, weiteren Kontakten usw. zur Seite zu stehen und nicht selten den nachzuholenden Trauerprozess zu begleiten.

    Nur durch diese jahrelange Arbeit war es überhaupt möglich, dass manche betroffenen Familien sich bereit erklärten, über das Geschehene im Rahmen von ausführlichen, aufgezeichneten Interviews mit mir zu sprechen. Dieses positive Klima und das langsam aufgebaute Vertrauensverhältnis waren die Basis auf der es möglich wurde, erste Familien für diese Studie zu gewinnen. Davon ausgehend fanden sich dann in längerer Recherchearbeit weitere Familien aus unterschiedlichen Bundesländern, welche bereit waren, mit mir zu sprechen. Diese Arbeit setze ich bis heute fort und ich werde sie weiter betreiben. Einige der Interviews und Analysen in Bezug auf Euthanasie-Opfer sollen in diesem Buch nun öffentlich zugänglich gemacht und zur Diskussion gestellt werden, um einen Beitrag zur Entstigmatisierung der betroffenen Familien und der Frage nach gesellschaftlicher Verantwortung zu leisten. Wer sich aber damit beschäftigt, wird nicht darum herumkommen, sich mit gegenwärtigen moralisch-ethischen Fragen zur Sterbehilfe, im Hospizbereich, der Palliativmedizin oder der Pränatalen Diagnostik und Reproduktionsmedizin bis hin zur Leihmutterschaft – die zumeist nichts Anderes als moderne Sklaverei und ein Geschäft auf Kosten der Mütter ist – auseinanderzusetzen.¹⁶ Selbstbestimmung muss da ihre Grenze haben, wo sie ihre eigene Grundlage zu vernichten beginnt.¹⁷

    METHODISCHE GRUNDLAGEN

    Die Datengrundlage für diese Studie wurde mit problemzentrierten Interviews, welche mit Hilfe eines teilstandardisierten Interviewleitfadens durchgeführt wurden, geschaffen. Grundgedanken des problemzentrierten Interviews sind dabei, dass die Forschung an konkreten gesellschaftlichen Problemen ansetzt, deren objektive Seite bereits vor dem Interview vergegenwärtigt und thematisiert wird. Es wird so ein Rahmen für das Gespräch geschaffen. Außerdem werden die Interviewten zwar durch den Interviewleitfaden auf bestimmte Themen gelenkt, sie sollen auf die Fragen aber offen ohne Antwortvorgaben reagieren und erzählen können.¹⁸ Den Interviewten war, anders wäre es gar nicht möglich gewesen diese Gespräche zu führen, im Vorhinein klar, um welches Thema es sich beim Interview bzw. den Interviews handeln würde.

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