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Novembertage: Entscheidungen und Ereignisse im 20. Jahrhundert
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Novembertage: Entscheidungen und Ereignisse im 20. Jahrhundert
eBook255 Seiten3 Stunden

Novembertage: Entscheidungen und Ereignisse im 20. Jahrhundert

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Über dieses E-Book

Ein Jahrhundert der Extreme: Rolf Steininger schildert anhand von 21 "Novembertagen", welche Ereignisse und Entscheidungen des 20. Jahrhunderts unsere Welt nachhaltig geprägt haben.

Das 20. Jahrhundert war ein Jahrhundert der Extreme: Die erste Hälfte wurde von zwei Weltkriegen geprägt, die zweite vom Kalten Krieg. In dieser Zeit kam es zu Ereignissen und Entscheidungen, die die Geschichte nachhaltig geprägt haben. Dabei fällt ein interessantes Phänomen auf: Erstaunlich viele dieser geschichtsträchtigen Momente fanden im November statt - seien es das Ende des Ersten Weltkrieges, der Hitlerputsch von 1923, der nationalsozialistische Pogrom an den Juden 1938 oder der Fall der Berliner Mauer.
Der renommierte Zeithistoriker Rolf Steininger untersucht 21 dieser "Novembertage" näher. Beginnend mit der Balfour-Deklaration vom 2. November 1917 bis hin zur Ermordung von Israels Regierungschef Yitzhak Rabin am 4. November 1995 nimmt er diese Schicksalstage des 20. Jahrhunderts ins Visier. Übersichtlich, lebendig und fundiert schildert er, was unsere Welt geprägt, erschüttert und verändert hat.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum30. Nov. 2018
ISBN9783706559584
Novembertage: Entscheidungen und Ereignisse im 20. Jahrhundert

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    Buchvorschau

    Novembertage - Rolf Steininger

    Felsendom.

    1.

    2. November 1917: Die Balfour-Deklaration: „Nationale Heimstätte für das jüdische Volk."

    Am 2. November 1917 schickte der britische Außenminister Arthur James Balfour folgenden Brief an den Präsidenten der Zionistischen Föderation in Großbritannien, Lord Lionel Walter Rothschild:

    „Lieber Lord Rothschild,

    ich habe die große Freude, Ihnen im Namen der Regierung Seiner Majestät die folgende Sympathieerklärung für die jüdisch-zionistischen Bestrebungen zu übermitteln. Sie hat dem Kabinett vorgelegen und wurde von ihm gebilligt.

    Die Regierung Seiner Majestät betrachtet die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird keine Mühe scheuen, um die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei allerdings von der Voraussetzung ausgegangen wird, dass dabei nichts geschieht, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der in Palästina bestehenden nicht-jüdischen Gemeinden oder die Rechte und die politische Stellung der Juden in irgendeinem anderen Lande beeinträchtigen könnte.

    Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung der Zionistischen Förderation zur Kenntnis bringen würden.

    Ihr ergebener Arthur James Balfour."

    Diese sogenannte Balfour-Deklaration ist ein Schlüsseldokument des 20. Jahrhunderts und ein Meilenstein in der Geschichte der zionistischen Bewegung und des Staates Israel. Sie hat die Entwicklung im Nahen Osten bis heute geprägt.

    Bevor ich näher auf dieses Dokument und seine Vorgeschichte eingehe, werfen wir einen Blick auf die damalige Gesamtlage. Wir befinden uns im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges, in dem der Nahe Osten neben Europa der Hauptschauplatz dieses Krieges war. Die Briten suchten dort im Kampf gegen das Osmanische Reich Verbündete und fanden sie in den Arabern.

    Berühmt ist das Schreiben des britischen Hochkommissars in Ägypten, Sir Henry McMahon, an Hussein, den Sherif von Mekka, vom 24. Oktober 1915, in dem es heißt:

    „Großbritannien ist bereit, die Unabhängigkeit der Araber anzuerkennen und zu unterstützen innerhalb der Länder, die in den vom Sherif von Mekka vorgeschlagenen Grenzen liegen. Dies wird zu einer festen und dauerhaften Allianz führen, deren unmittelbare Ergebnisse die Vertreibung der Türken aus den arabischen Ländern und die Befreiung der arabischen Völker vom türkischen Joch sein werden, das seit vielen Jahren schwer auf ihnen gelastet hat."

    Acht Monate später, am 15. Juni 1916, erklärten die Araber der Türkei den Krieg. Die Briten erklärten später, der Sherif habe seinen Teil des Abkommens nicht erfüllt: Es habe keinen allgemeinen Aufstand gegeben. Tatsächlich aber war Großbritannien zu keinem Zeitpunkt bereit gewesen, ein großarabisches Reich zu akzeptieren.

    Das wird deutlich am sogenannten Sykes-Picot-Abkommen vom 16. Mai 1916. Sir Mark Sykes war Nahostexperte im britischen Kriegskabinett, Georges Picot französischer Generalkonsul in Beirut, bevor er Vertreter der französischen Botschaft in London wurde.

    In diesem Abkommen wurden die Interessensphären der beiden Mächte abgegrenzt. Die Briten wollten eine Einflusszone vom Mittelmeer bis zum heutigen Irak schaffen, als Verbindungslinie nach Indien, ihrer wichtigsten Kolonie.

    Ein zweiter Punkt sollte erst in den folgenden Jahrzehnten besondere Brisanz erhalten: Erdöl. Seit 1907 wurde Öl im südlichen Irak und im südwestlichen Teil des Iran gefördert. Unter Marineminister Winston Churchill war die britische Marine 1912 von Kohle auf Öl umgestellt worden; von daher wurde Öl für die britische Kriegsführung immer wichtiger.

    Verwendet man die Namen der später entstandenen Staaten, so sah die Aufteilung etwa folgendermaßen aus: Syrien, Libanon und Nordgaliläa sollten an Frankreich, der mittlere und südliche Irak an Großbritannien fallen, der größte Teil Palästinas einer internationalen Verwaltung unterstellt werden. Die Bucht von Haifa sollte als britische Enklave einen Sonderstatus erhalten und über eine Eisenbahnlinie mit Bagdad verbunden werden. Haifa selbst würde Endpunkt einer Ölpipeline aus dem Irak sein. Der von den Briten den Arabern zugesagte Staat sollte in eine französische Einflusszone im Norden und eine britische im Süden aufgeteilt werden. Palästina – nach heutigen Grenzen der südliche Libanon, die syrischen Golanhöhen, Israel, die Westbank, der Gazastreifen und das westliche Jordanien – war gewissermaßen ausgeklammert worden. Es sollte ein international kontrolliertes Gebiet werden. Im britischen Kriegskabinett setzte sich aber schon bald die Auffassung durch, dass dieses Gebiet unter allen Umständen unter alleinige britische Kontrolle gebracht werden müsse. Vor allen Dingen der südafrikanische General Smuts, Mitglied des Kriegskabinetts, sah darin die einzige Möglichkeit, Ägypten und den Suezkanal zu schützen. Jede andere Macht in Palästina müsse zu einer Bedrohung für das britische Weltreich werden.

    Eine entsprechende Entscheidung traf das Kriegskabinett am 1. Mai 1917.

    Die Zionisten in Großbritannien, angeführt von Chaim Weizmann, nutzten dies für ihre Ziele: Palästina als Staat für die Juden. Weizmann war eine der überragenden Gestalten des Zionismus, damals zwar ein Staatsmann ohne Staat – er wurde 1949 der erste Präsident Israels –, aber er kann zu den eigentlichen Siegern des Ersten Weltkrieges gezählt werden. Geboren 1874 in Russland als Sohn einer wohlhabenden Familie war er 1892 nach Deutschland gegangen, hatte dort Chemie studiert, bevor er 1897 in die Schweiz ging, wo er 1899 an der Universität Freiburg promovierte. 1901 war er bereits Professor an der Universität Genf, bevor er dann 1904 an die Universität Manchester wechselte.

    Der Erste Weltkrieg wurde für ihn zum Triumph. Ab 1916 leitete er das Forschungslaboratorium der Britischen Admiralität und entwickelte ein Verfahren zur künstlichen Herstellung von Azeton, einem wichtigen chemischen Bestandteil von Sprengstoffen. Er war ein glühender Zionist und ein begnadeter Lobbyist – und er nutzte seine gesellschaftlichen Kontakte. Ihm gelang es, wichtige Persönlichkeiten in Großbritannien, vor allem den einflussreichen Herausgeber des „Manchester Guardian, C.P. Scott, für die Idee des Zionismus und die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina zu gewinnen. Außenminister Balfour, der an einer Stelle einmal meinte: „Ich bin ein Zionist, traf Rothschild und Weizmann am 19. Juni 1917 und bat um den Entwurf einer entsprechenden „Formel".

    Die Gründe für diesen Schritt waren vielfältig, wobei es primär um die erwähnte Kontrolle des Landes zur Absicherung des Suezkanals ging. Wichtig war, die amerikanischen Juden zu gewinnen. Man hoffte, dass jene Juden, die Einfluss auf Präsident Woodrow Wilson hatten, ihn davon überzeugen konnten, die britische Besatzung Palästinas zu akzeptieren.

    In den USA lebten damals etwa 4 Millionen Juden, die zunächst wenig mit dem Zionismus anfangen konnten. Die zionistische Bewegung erhielt erst während des Ersten Weltkrieges größeren Zulauf: Die Mitgliedszahlen stiegen von 5.000 auf 150.000. Einer der führenden Zionisten war Louis Brandeis, der 1917 als erster Jude überhaupt Mitglied des Obersten Gerichts in Washington geworden war. Präsident Wilson hatte schon damals eine Vorliebe für die Selbstbestimmung der Völker geäußert – offiziell dann im Januar 1918 mit seinen berühmten 14 Punkten. Zionismus schien jetzt umso attraktiver, denn dies bedeutete auch jüdische Selbstbestimmung in Palästina, aus britischer Sicht der geeignete Deckmantel für eine britische Kontrolle des Gebiets, die Wilson ansonsten wohl als imperialistische Aktion der Briten nicht akzeptiert hätte. Auch Frankreich befürwortete inzwischen eine „Wiedergeburt der jüdischen Nation" in Palästina, wie der französische Außenminister Jules Cambon klarmachte. Würde man den Zionismus fördern, würde man das vielzitierte Weltjudentum für sich gewinnen, es könnte möglicherweise dazu führen, die russischen Juden dazu zu bringen, Russland zum Weiterkämpfen zu veranlassen. Möglicherweise wollte man auch einer deutschen Zusage an die Juden Mittel- und Osteuropas zuvorkommen, dort einen eigenen Staat zu errichten.

    Weizmann legte einen Entwurf vor, wonach die britische Regierung „die Wiederherstellung Palästinas als nationale Heimstätte des jüdischen Volkes akzeptieren und sich verpflichten sollte, „ihr Bestes zu tun, die Erreichung dieses Ziels zu sichern. Was damit gemeint war, war auch klar: ganz Palästina als jüdischer Staat. Den Arabern sollten alle möglichen Garantien für kulturelle Autonomie gegeben werden, aber „der Staat muss jüdisch sein".

    In London stellte sich zunächst der für Indien zuständige Minister, Edwin Montagu, einziger Jude im Kriegskabinett, gegen eine solche Erklärung. Er fürchtete, dass bei einem möglichen Judenstaat die Auseinandersetzung über die doppelte Loyalität der Juden wieder heraufbeschworen würde und die Stellung der assimilierten Juden gefährdet werden könnte. Für ihn waren die Juden keine Nation, und eine „nationale Heimstätte" würde sie zu Fremden in jenen Ländern machen, in denen sie lebten. In einem Schreiben an Premierminister Lloyd George wies er darauf hin, dass jede antisemitische Organisation und jede antisemitische Zeitung fragen würde, mit welchem Recht ein jüdischer Minister in der britischen Regierung tätig wäre, wenn doch Palästina die nationale Heimstätte des jüdischen Volkes sei. Wie solle er, so fragte er, mit den Indern verhandeln, wenn die britische Regierung öffentlich erklären würde, dass seine Heimat irgendwo in der Türkei liege?

    Sir Alfred Milner, ebenfalls Mitglied des Kriegskabinetts, war zwar für eine Erklärung, wonach die britische Regierung die Errichtung einer Heimstätte für das jüdische Volk unterstütze – allerdings nur in Palästina. Es sollte darin mit Blick auf die Araber und die Sicherheit der eigenen politischen Interessen weder die Rede von Staatsbildung sein noch dass eine solche Heimstätte ganz Palästina umfasse. Er bestand zudem auf Garantien für die in Palästina lebenden Araber.

    George Curzon, wenig später Außenminister, wollte wissen, wie denn die Moslems in Palästina entfernt werden sollten, damit Juden dort einwandern konnten. Seiner Meinung nach hatte das Land nur für wenige Menschen Platz, und die 500.000 Moslems würden sich nicht damit zufrieden geben, „entweder von den jüdischen Einwanderern enteignet zu werden oder als simple Holzhacker und Wasserträger zu dienen. Mark Sykes sah das anders. Für ihn war klar, warum Palästina ein so wenig einladendes Land geworden war: Die Araber, „von Natur aus eine faule und träge Rasse, hätten das Land einfach vernachlässigt. Bei entsprechendem Bemühen könne die Bevölkerung in sieben Jahren verdoppelt werden. Curzon widersprach: Seiner Meinung nach konnte Palästina auf diese Weise nicht weiterentwickelt werden. Es sei notwendig, die heiligen Stätten der Moslems und Christen in Jerusalem und Bethlehem weiter zu kontrollieren. Das würde bedeuten, dass die Juden keine Hauptstadt in Palästina bekommen würden.

    Am 31. Oktober genehmigte das Kriegskabinett die oben zitierte Deklaration, die am 2. November an Rothschild geschickt wurde. Der letzte Halbsatz ging auf die Einwände von Montagu zurück, der vorletzte Absatz nahm Rücksicht auf Milners Einwände mit Blick auf die Zukunft der 90-prozentigen Mehrheit der Araber in Palästina (zu jenem Zeitpunkt etwa 500.000 gegenüber 50.000 Juden); es ging hier nur noch um ihre bürgerlichen und religiösen Rechte, was implizierte, dass die politischen Rechte für die Juden reserviert waren, sobald sie eine Mehrheit erreicht hatten. Dass die 90-prozentige arabische Mehrheit dabei als „nicht-jüdische Gemeinden" bezeichnet wurde, war bezeichnend.

    Obwohl die Deklaration nicht alle Wünsche der Zionisten erfüllte, schrieb Weizmann damals an Balfour: „Seit Kyros dem Großen hat es kein Bekenntnis mehr gegeben, das von größerer politischer Klugheit und nationaler Gerechtigkeit gegenüber dem jüdischen Volk geprägt war als diese denkwürdige Erklärung."

    Die Hoffnungen hinsichtlich der Juden in Deutschland und Österreich wurden nicht erfüllt, obwohl über den deutschen und österreichischen Truppen Flugblätter abgeworfen wurden, in denen die Juden aufgefordert wurden, sich den Entente-Mächten zuzuwenden, da diese die jüdische Selbstbestimmung unterstützten. Nichts dergleichen geschah. Und in Russland übernahmen die Bolschewisten am 7. November 1917 die Macht und eröffneten Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich.

    Auf den Kriegsverlauf hatte das Dokument demnach keine Auswirkungen, aber es wurde 1922 in das britische Völkerbundmandat für Palästina übernommen, wurde damit Völkerrecht und verpflichtete die Briten, bei der Schaffung jener „nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk „keine Mühe zu scheuen. Dass sie dabei am Ende scheiterten, ist eine andere Frage.

    Literatur:

    Rolf Steininger, Der Nahostkonflikt, Frankfurt am Main 2005/2018.

    Rolf Steininger, Deutschland und der Nahe Osten. Von Kaiser Wilhelms Orientreise

    1898 bis zur Gegenwart, Reinbek 2015.

    Rolf Steininger, Der Große Krieg 1914–1918 in 92 Kapiteln, Reinbek 2016.

    Rolf Steininger (Hrsg.), Der Kampf um Palästina 1924–1939, München 2007.

    Hörfunk:

    Die Entstehung Israels: Von der Basler Resolution 1897 bis zur Unabhängigkeitserklärung 1948; Ö1 Betrifft Geschichte: Februar 2018, abrufbar unter www.rolfsteininger.at

    Die Zahl 7, der Zionismus und der Staat Israel; Rai Südtirol, 7x 20 Minuten, jeden Samstag im Dezember 2017;

    Die Vorgeschichte Israels, 20 Min., 6.5.2018, Rai Südtirol; abrufbar unter www.senderbozen.rai.it (Radio, Mediathek)

    Die Russische Revolution: Für viele Menschen beginnt ein neues Zeitalter.

    2.

    7. November 1917: Die Russische Revolution

    Am 2. November 1917 hatten die Briten in der sogenannten Balfour-Deklaration den Zionisten zugesagt, bei der Schaffung einer nationalen Heimstätte in Palästina für das jüdische Volk keine Mühe zu scheuen. Eine der Überlegungen dabei war die Hoffnung gewesen, die russische Führung – zumeist Juden – dazu zu bringen, Russland zum Weiterkämpfen zu veranlassen. Nur fünf Tage später war das Thema erledigt: am 7. November übernahmen die Bolschewisten die Macht in Russland und eröffneten Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich.

    Wie war es dazu gekommen?

    Versorgungsmängel, Lebensmittelknappheit, Hunger, um sich greifende Krankheiten: das waren Symptome einer Kriegswirtschaft, die es in verstärktem Umfang in allen am Krieg beteiligten Ländern gab. Auch in Russland, aber nur dort hatten sie schon im Frühjahr 1917 zur Revolution geführt.

    Anfang März 1917 reichten die Getreidevorräte für die Hauptstadt Petrograd nur noch für ein paar Tage. Die Ankündigung, Brot zu rationieren, führte zur Explosion. Am 23. Februar (8. März; in Russland galt der von der orthodoxen Kirche beibehaltene alte julianische Kalender, der 13 Tage hinter dem im Westen üblichen gregorianischen Kalender zurücklag; am 14. Februar 1918 von den Bolschewiken abgeschafft) demonstrierten Textilarbeiterinnen in Petrograd mit der Forderung nach Brot; am nächsten Tag protestierten bereits 200.000, am 25. Februar kam es zum Generalstreik.

    In der Vergangenheit hatte die zaristische Regierung solche Unruhen jeweils gewaltsam niedergeschlagen. Das gelang jetzt nicht mehr: die gesamte Petrograder Garnison lief nämlich zu den Demonstranten über. Es bildete sich eine Konkurrenzverwaltung: auf der einen Seite die Regierung, auf der anderen Seite außerhalb des Parlaments das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjet als Arbeiter- und Soldatenrat, der zu zwei Dritteln aus desertierten Soldaten bestand. Immerhin befürworteten beide Gremien eine Fortsetzung des Krieges: die Regierung aus nationalistischen Gründen und um weiter Partner des Westens zu bleiben, das Exekutivkomitee aus Furcht, eine Niederlage gegen Deutschland würde zur Gegenrevolution führen. Für beide war auch klar, dass dies nur ohne Zar Nikolaus gehen würde, der für bis dahin 2,7 Millionen Tote und Verwundete und vier Millionen Kriegsgefangene verantwortlich war. Der Zar trat denn auch folgerichtig am 2. März zurück, nachdem ihm am Tag zuvor sein Generalstabschef klargemacht hatte:

    „Eine Revolution in Russland bedeutet eine schmachvolle Beendigung des Krieges mit all ihren unvermeidlichen und für Russland schlimmen Folgen.

    […] Es ist unmöglich, von der Armee ungerührt zu verlangen, Krieg zu führen, während im Hinterland eine Revolution vor sich geht."

    Der Führer der Bolschewisten, Wladimir Iljitsch Lenin, erfuhr im Exil in Zürich von den Vorgängen in Russland und sagte deutschen Diplomaten bei Gelingen der Revolution einen sofortigen Friedensschluss zu, falls ihm die Reichsregierung die Rückreise nach Russland ermöglichen würde. Die Deutschen sagten zu. Das Ergebnis waren 82 Millionen Goldmark Unterstützung für Lenin – nach heutigem Wert etwa 500 Millionen Euro – und der legendäre plombierte Bahnwaggon, der Lenin und seine Genossen von Zürich über Frankfurt am Main und Berlin auf die Insel Rügen brachte; von dort ging es über Kopenhagen und Stockholm weiter nach Petrograd.

    Um nicht in den Verdacht der Kollaboration mit den Deutschen zu geraten, hatte Lenin auf exterritorialen Status des Waggons bestanden – und ganz pragmatisch durch einen Kreidestrich deutsches von russischem Territorium getrennt. Für die Benutzung der Toiletten entwickelte er ein der Kriegslage angepasstes spezielles System von Bezugsscheinen. Am 16. April traf er in Petrograd ein und verkündete noch am Bahnhof seine „Aprilthesen: Frieden ohne Annexionen und Kontributionen! Alle Macht den Sowjets! Keine Unterstützung der provisorischen Regierung! Zerschlagung des bürgerlichen Staates! Enteignung des adligen Grundbesitzes! Keine parlamentarische, sondern eine Räterepublik! Der Stockholmer Resident des deutschen Geheimdienstes telegrafierte nach Berlin: „Lenin Eintritt nach Russland geglückt. Er arbeitet völlig nach Wunsch.

    Der neue russische Ministerpräsident hieß Fürst Georgi Lwow, der neue Kriegsminister Alexander Kerenski, der

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