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Brackwasser
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eBook299 Seiten6 Stunden

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Über dieses E-Book

Poughkeepsie, ein kleines Städtchen im nördlichen Speckgürtel von New York City, Mitte der Achtzigerjahre: Anatole betreibt einen angesagten Friseursalon, Lydia ist als gescheiterte Existenz aus New York zurückgekehrt und Chris, der vor einer tragisch verlaufenen Beziehung nach Poughkeepsie geflüchtet ist, betreibt einen Plattenladen. Anatole und Lydia sind beide in Chris verliebt, doch der lässt niemand an sich heran. Paul Russell erzählt davon, wie die drei Mitzwanziger versuchen, miteinander klarzukommen – und wie der achtzehnjährige Leigh ihre beschauliche Dreisamkeit gehörig aufmischt: "Im Einkaufszentrum an der Main Street von Poughkeepsie sitzt ein Junge. Damit fängt es an: Lydia und Anatole sehen, aus zwei verschiedenen Fenstern, den Jungen auf der Lehne einer Bank sitzen." Anatole, der sich am laufenden Band in hübsche Jungs verliebt, lässt den "Jungen Gott des Einkaufszentrums" bei sich wohnen. Wie der geheimnisvolle Besucher in Pasolinis "Teorema" löst Leigh bei allen drei Freunden tiefgreifende Veränderungen aus.

In der Mitte der Achtzigerjahre war die Aufbruchsbewegung der Hippies zu einem abrupten Ende gekommen, die Hoffnung auf ein liebevolles Zeitalter des Wassermanns in Drogenrausch und Aidskrise ertränkt. Die Zukunft war nicht länger der Fluchtpunkt weltverändernder Pläne, sondern eine gefährliche, von Krieg und Zerstörung geprägt Welt. Die in dieser Zeit aufwachsenden Generationen waren auf das Hier und Jetzt, ihre individuellen Wünsche und Ängste und das schwierige Miteinander in privaten Cliquen verwiesen. Die Menschen begannen, sich in einer ewigen Gegenwart ohne verlockende Perspektiven einzurichten. Wenn wir heute in diese Zeit zurückblicken, sehen wir die Anfänge einer Alltagskultur, die wir im 21. Jahrhundert perfektioniert haben.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Juli 2017
ISBN9783863002381
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    Buchvorschau

    Brackwasser - Paul Russell

    Lachmann)

    I

    SEPTEMBER

    In der Fußgängerzone der Main Street von Poughkeepsie sitzt ein Junge. Damit fängt es an: Lydia und Anatole sehen, aus zwei verschiedenen Fenstern, den Jungen auf der Lehne einer Bank sitzen. Lydia lehnt sich mit der Stirn an die Schaufensterscheibe der Boutique Elegance, die vor Kurzem eröffnet wurde und bald wieder schließen wird. Sie langweilt sich und starrt aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite, bei Reflexion, läuft Anatole ganz aufgeregt zwischen zwei Kunden sofort wieder zum Fenster. Gemeinsam fixieren sie den Jungen aus ihren verschiedenen Blickwinkeln.

    Sie wissen nicht, wie er heißt. Sie wissen gar nichts über ihn. Er isst einen Riegel gefrorene Schokolade – ein schlanker Junge, siebzehn oder achtzehn. Er schlägt die Beine übereinander wie ein Mädchen. Die Springbrunnen hinter ihm sind trocken, die Bäume abgestorben. Der rissige Zement zu seinen Füßen überlässt sich dem Staub und der Hitze eines Nachmittags, dessen Temperatur 30 Grad längst überschritten hat. Der Junge hat dünne Arme, sein straßenköterblondes Haar fällt in einer großen Locke über ein Auge. Er lutscht die gefrorene Schokolade.

    Auf der Welt leben fünf Milliarden Menschen. Keiner ist besonders wichtig. Er trägt Jeans, ein weißes T-Shirt, schwarze Sneakers ohne Socken. Sein Profil ist perfekt.

    Chris Havilland trinkt Scotch im Bertie’s, als Lydia und Anatole hereinplatzen.

    «Herrje, bin ich froh, dass du da bist», sagt Anatole.

    «Ich bin immer hier, das weißt du doch.»

    Anatole rutscht erschöpft auf die Bank in der Nische.

    «Manchmal braucht man eben eine neutrale Einschätzung. Die Meinung eines Außenstehenden, du weißt schon.»

    «Anatole, wovon redest du? Lydia, wovon redet Anatole?»

    «Lydia weiß Bescheid», ruft Anatole. «Lydia hat ihn gesehen. Sie kann dir sagen, dass ich nicht verrückt bin.»

    «Du bist verrückt, Anatole», erinnert ihn Lydia. «Deshalb mögen wir dich.»

    «Der Junge schafft mich», sagt er zu Chris.

    «Oh bitte, nicht schon wieder!» Sie mokieren sich darüber, dass Anatole sich ständig in Teenager verliebt. Er entdeckt sie in Supermärkten, in Kinos, und ein paar Stunden oder Tage lang kann er an nichts anderes denken, danach vergisst er sie wieder. Jedes Mal, wenn er mit Chris und Lydia ausgeht, zeigt er ihnen den Jungen, der gerade sein Herz erobert hat. Chris macht sich Sorgen deswegen, er findet das gefährlich und unvernünftig und möchte Anatole in Sicherheit bringen, an einen Ort, wo ihn keine solchen Erscheinungen quälen.

    «Ich weiß, was du denkst», sagt Anatole zu Chris. «Doch mit dem hier ist es anders. Er war von einer Aura umgeben.»

    «Ah?»

    «Das Licht war heller.»

    Chris lehnt sich zurück und zieht an seiner Zigarette. Er weiß, dass er dabei eine Pose einnimmt, die affektiert wirkt und seine Freunde eine Zeitlang beeindruckt hat, aber jetzt beachten sie es nicht mehr.

    «Erzähl mir nicht, dass du versucht hast, ihn abzuschleppen», stichelt er, um sein vages Unbehagen zu kaschieren. «Ich kenn dich: Du hast dich aus dem Fenster gelehnt und ihm zugejubelt oder dich sonst wie zum Narren gemacht.»

    «Darf ich mir nichts wünschen? Sei nicht so ketzerisch», beschwert sich Anatole. «Das war kein Junge, das war ein Gott

    «Du hast die Erscheinung auch gehabt?» Chris wendet sich an Lydia. Sie und Anatole sehen anscheinend immer dasselbe, nur aus verschiedenen Blickwinkeln.

    «Es war einer dieser Momente», gibt sie zu.

    «Du klingst ja richtig finster.»

    «Du hättest da sein sollen.»

    «Du meine Güte, ihr macht mich wahnsinnig.» Chris ist sich bewusst, dass er den skeptischen Dritten spielt. Aber das ist okay – es bedeutet schließlich, dass die andern sich ihm und seinem Urteil unterwerfen. Sie wollen etwas von ihm.

    «Du wirst ja sehen», sagt Anatole zu ihm.

    «Jawoll, bestimmt. Wann baut ihr den Tempel?»

    «Lach nur. Es wird Wunderheilungen geben.»

    «Der Tempel vom Jungen Gott der Fußgängerzone.» Chris versucht es.

    «Genau.» Anatole schweigt einen Moment, als dächte er darüber nach, was das bedeutet. «Ich werde ihn niemals wiedersehen», sagt er.

    «Dann bist du ja gerade noch mal davongekommen», antwortet Chris, doch im selben Moment bedauert er den Ton – seine Distanziertheit und die Art, sich hinter geistreichen Bemerkungen zu verstecken, sind Dinge, die er überhaupt nicht an sich mag. Er sieht, wie Lydia und Anatole sich einen Blick zuwerfen – nur ganz kurz –, der sagt, davon versteht er nichts. Wir haben’s im Grunde nicht anders erwartet.

    Und er hat’s nicht verstanden. Oder wenn doch, dann lässt er es nicht an sich heran. Etwas in dem Bündnis, das Anatole und Lydia eingegangen sind, hält ihn außen vor – trotz seiner bewegten Vergangenheit mit jedem von ihnen. Wenn sie zu dritt zusammen sind, fühlt er sich immer als der Dritte. Vielleicht, weil er erst später dazugekommen ist – noch vor drei Jahren hat er keinen von ihnen gekannt –, während Anatole und Lydia in Poughkeepsie aufgewachsen sind, sie kennen sich seit anno dazumal, wie sie gern sagen. Ich bin hier nur zu Besuch, sagt Chris zu sich selbst. Ich lebe nicht hier, sie aber schon – und er weiß nicht, ob ihn dieser Unterschied befreit oder traurig macht. Die drei Jahre, die er in Poughkeepsie wohnt, ist er für sich geblieben – er hat seine Kreise gezogen, ohne je richtig einzutauchen. Er sucht einen Ort, um sich zu verstecken, und Über den Wolken, sein Schallplattengeschäft in der Academy Street, eignet sich bestens dazu. Poughkeepsie eignet sich bestens dazu.

    Sie sind die engsten Freunde, Chris, Anatole und Lydia. Entweder sind sie die erste Welle der lang erwarteten Gentrifizierung Poughkeepsies oder ihr letztes Aufgebot, jedenfalls halten sie sich für schön, schick und beneidenswert – «das Einzige, das an dieser verdammten Stadt wirklich sehenswert ist», wie sie untereinander herumalbern, vor allem wenn es schon spät ist und sie selbst betrunken, bekifft oder gelangweilt. Ihre Gemeinsamkeit besteht in komplizierten Vergangenheiten und den üblichen Enttäuschungen. Ihre Freundschaft beruht darauf, dass es ihnen gelingt, die Kräfte auszubalancieren, die sie entzweien könnten – eine ständige Neubewertung von Bedürfnissen, Krisen und tief liegenden Problemen, mit denen sie sich nur widerwillig befassen. Denn keiner hält diese Freundschaft für eine klar umrissene, eindeutige Sache, und für jeden von ihnen bedeutet sie etwas anderes.

    Die Main Street ist verlassen und der Mond steht am Himmel wie eine schmale Sichel. Sie sind als lockere Gruppe unterwegs, Daniel und Anatole, Lydia und Marion. In einer Macie’s-Tragetasche hat Marion zwei Flaschen Champagner dabei.

    Daniel ist Anatoles Geschäftspartner, und er tut so, als befände er sich in einem Madonna-Video. Er trägt eine enorme, geknotete Perlenkette, einen engen schwarzen Rock, blauen Rollkragenpullover und ein Barett mit Strass-Brosche auf dem langen blonden Haar. In samtweichem Falsett singt er «Like a Virgin». Anatole hüpft mit ihm herum und versucht vergeblich, so mondän und geheimnisvoll zu wirken wie der Mann mit der Löwenmaske im Video. Mit fließenden Bewegungen verwandelt Daniel die Main Street in einen venezianischen Kanal. Mal steht er in einer Gondel, mal auf einer gebogenen Brücke, oder er befindet sich in einem Palast, und die Gazevorhänge wehen in der Brise der Adria.

    Daniel ist der Starfriseur bei Reflexion – ohne ihn wäre der Salon in einem Monat pleite. Außerdem ist er ein bisschen verrückt. Abends nimmt er Ecstasy und streift im Fummel durch die Straßen von Poughkeepsie, so überzeugend, dass kaum jemand ihn für einen Mann hält. Im vorigen Monat stoppte ihn die Polizei wegen Alkohol am Steuer, als er mit seinem Golf ohne Licht herumfuhr. Zuerst glaubte der Beamte, er hätte einen falschen Führerschein dabei. «‹Daniel›? Gute Frau, was soll das heißen?»

    Lydia und Marion sind ganz ins Gespräch vertieft und ignorieren Daniels und Anatoles Mätzchen. Marion erzählt Lydia, wie reizend die beiden zu ihr sind, und dass sich ihr Leben geändert hat, seit sie sich kennen. Lydia seufzt – Marion ist nur die Letzte einer langen Reihe von Daniel-und-Anatole-Groupies, Frauen, die die beiden für Magier halten. In einer anderen Stadt wäre es vielleicht ein berühmter Therapeut oder ein Tanzlehrer. Hier sind es Daniel und Anatole – die sich auf diese einsamen Frauen spezialisiert haben und ihnen teure Färbungen aufschwatzen, sehr spezielle und langwierige Haarkuren. Sie sind mit ihr verabredet – Komm am Samstag, bring Champagner mit, wir gestalten dich neu. Es wird wundervoll sein und dein Leben verändern, Püppchen.

    Lydia, die nur wegen des Champagners dabei ist und um am Samstag nicht allein zu sein, findet das traurig. Diese dicke Frau ist ja total aufgekratzt; sie ist aufgekratzt, weil sie glaubt, was sie ihr eingeredet haben, dass dieser Abend wirklich ihr Leben verändern wird. Alles wird anders. Sie wird sich verlieben.

    Pass bloß auf, will Lydia Marion sagen. Aber sie tut es nicht. Sie geht neben Marion, als würde ihr Daniels und Anatoles Herumgehopse nicht gefallen. Sie springen in einen trockenen Brunnen. Daniel tut, als planschte er in einem unsichtbaren Wasserstrahl.

    Marion soll ihre eigenen Erfahrungen machen, denkt Lydia. Sie mag sie sowieso nicht besonders; sie ist ein fetter, armseliger Eindringling. Da sie selbst etwas übergewichtig ist, oder zumindest überzeugt ist, es zu sein, hasst Lydia gnadenlos alle fetten Frauen.

    Marion trabt in ihrem wallenden kornblumenblauen Kleid daher, mit Prinzessin-Diana-Schuhen und -Strümpfen, und Lydia denkt: Wer zum Teufel bist du? Welchem Hutmacher auf welcher verrückten Teeparty bist du entlaufen?

    Aber Marion ist betrunken und redselig. «Sind sie nicht großartig?» Sie zeigt auf die beiden tanzenden Gestalten. «Ich finde das alles so interessant. Frauen wie wir.»

    «Was meinst du damit, ‹Frauen wie wir›?»

    Einen Augenblick wirkt Marion, als wollte sie einen Rückzieher machen, aber dann springt sie tapfer ins kalte Wasser. «Ach, du weißt schon. Schwulenmuttis.»

    «Ich halte mich nicht für eine Schwulenmutti», sagt Lydia höflich. Sie will, dass Marion leidet.

    «Was weiß denn ich. Ich meine, ich will weder dich noch sonst jemand beleidigen oder so. Wir sitzen doch alle im selben Boot. Rede ich zu viel? Ich hab vorher schon ’ne ganze Menge getrunken, um mir Mut zu machen.»

    Anatole und Daniel drehen im Mondlicht ihre Pirouetten. «Like a Virgin» kreischen sie den leeren Gebäuden entgegen. Im Eingang eines Spielwarenladens heben zwei Schwarze eine Whiskeyflasche im braunen Packpapier, um ihnen zuzuprosten, «Ja, ja, ja», singen sie im heiseren Chor. «Weiße Mädchen», rufen sie. «Kommt her, lutscht mir den Schwanz, weiße Mädchen.»

    Daniel dreht sich zu Anatole um. «Wollen wir?»

    «Klingt gut. Ich wette, die haben riesige Schwänze.»

    «Hotdogs wie Unterarme.»

    «Monsterdödel.»

    «Vorficht mit den Fähnen!»

    Daniel und Anatole stolzieren Arm in Arm auf sie zu und johlen vor Spaß. Den beiden Schwarzen kommt das anscheinend komisch vor. Sie verschwinden im Schatten und schwenken dabei die Flasche, als könnten sie damit die Geister vertreiben, die sie gerufen haben.

    «Sind sie nicht verrückt?», meint Marion.

    «Das machen sie nur für dich», kommentiert Lydia trocken und ein wenig geistesabwesend. «Sie wollen dich in Stimmung bringen, bevor sie sich über dein Haar hermachen. Sei vorsichtig.»

    «Ich bin auf alles gefasst.»

    Dann poltern sie die Stufen zum Reflexion hinauf. «Sieht eher aus wie Chez Barbarella», räumt Anatole ein. «Fühlt euch wie zu Hause.»

    Auf Zehenspitzen und mit weit ausgebreiteten Armen nimmt Daniel ein Bild von der Wand. Es ist fast so groß wie er selbst – ein Calvin Klein-Poster von einem eingeölten Model in Unterhosen vor dem Hintergrund einer blendend weißen Wand. Voller Sehnsucht blickt er an der Kamera vorbei nach rechts. Sieht er Matrosen, die in den Hafen kommen? Jungen, die nackt am Strand toben? Über ihm der blaue Himmel von Mykonos. Daniel wischt die Glasplatte sauber und arrangiert mitten auf dem Bild geschickt eine Koks-Pyramide, genau über dem Nabel des Models. Mit seiner American Express-Karte teilt er den Koks in acht lange, dünne Linien, Gitterstäbe über dem nackten Körper. «Die Droge ist ein schreckliches Gefängnis», lacht Daniel und lädt Marion und Lydia ein, sich zu bedienen. «Befreien wir den Burschen.» Anatole kümmert sich um die Champagnerflasche. Er öffnet ein Fenster, lehnt sich weit hinaus und schießt den Korken in die Nacht.

    «So solltet ihr immer arbeiten», sagt Marion und beugt sich tief über das Bild, das eine Nasenloch zugedrückt.

    «Nur zu, Mädchen», ermuntert sie Daniel und fährt mit den Händen durch sein langes blondes Haar; dann schüttelt er es genüsslich. «Schnüffel an seinem Schritt.»

    «Bring mich nicht zum Lachen. Das wird teuer.»

    «Hört mal, ihre Idee gefällt mir.» Anatole gießt Champagner in Plastikbecher. «Wir berechnen Mitternachts-Preise. Damit kriegen wir die Kunden vom Astor Place. Sie werden in lila Cadillacs aus der City zu uns kommen.»

    «Träum weiter, Schatz», schnurrt Daniel und beugt sich über die Linie auf der Glasplatte. «Ah» – er richtet sich auf und holt tief Luft – «dieser Kaffee macht wach.»

    Anatole schiebt eine Kassette in den Player auf dem Kassentresen: Orchestral Manœuvres in the Dark. Lydia bewegt sich im Rhythmus der Musik durch den Raum. Die Frisier-Utensilien wirken im grellen Licht fremdartig und wundervoll. Sie ist gelangweilt, aber es ist ihr egal. Sie ist gern hier, wenn keine Kunden da sind, sondern nur sie drei; wer die Geheimnisse dieser Räume kennt, kann seinem Körper entfliehen.

    Daniel und Anatole haben Marion in einen Stuhl gesetzt und mit einem Tuch abgedeckt, als wollten sie sie operieren. Daniel ist aufgeregt und gesprächig – erst wenn er Haare sieht, wird er richtig lebendig. Jetzt wirkt er wie ein Junge beim ersten Sex. Er umstellt sie mit Spiegeln und betrachtet sie aus jedem möglichen Winkel. «Puppe, das wird der Haarschnitt deines Lebens», versichert ihr Anatole. Daniel schnippt mit der Schere durch die Luft; er formt in Gedanken ihre Frisur. Mit der Hand fährt er durch ihre dicke dunkle Mähne. «Richtig irisches Haar», sagt er. «Typisch irisches Landei.»

    «Ich will nicht wie ein Landei aussehen», sagt Marion.

    «Natürlich willst du das nicht. Sondern raffiniert. Sehr kurz, denke ich mir. Kantiger Bürstenschnitt. Klug.»

    «Und dieses Braun geht gar nicht», ergänzt Anatole.

    «Vielleicht ein schrilles Blond?» Daniel schaut sie noch immer an wie ein Maler, der sein Model ausmisst. «Ich glaube, schrilles Blond wäre perfekt. Marilyn bei den Marines. Ich betone den Manhattan-Cut und rhythmisiere die Spannungen, das wird großartig.»

    «Ich lege mein Leben in eure Hände», sagt Marion und hält ihren Becher hin, damit sie ihn nachfüllen. «Ich lehne mich einfach zurück und mache ein Nickerchen, und wenn ich aufwache, bin ich jemand anderes. Gefällt euch das?»

    «Puppe, das nenn ich Vertrauen. Du bist klasse. Was hältst du von richtig dramatischen Farben?»

    «Zum Beispiel?»

    «Anatole, hol die Folien. Hier, siehst du, wie sie leuchten? Prisma-Folien, in einem Monat sind sie ausgewaschen. Sie schaden dem Haar nicht.»

    Marion denkt nach.

    «Sag schon Ja», drängelt Anatole. «In hundert Jahren sind wir alle tot, vielleicht schon in zehn. Was macht’s, wenn du vorher ein bisschen Spaß hast?»

    «Klar», sagt Marion. «Warum nicht? Aber gebt mir noch mehr Champagner.»

    «Wir könnten Strähnchen machen», sagt Daniel und trommelt mit den Fingerspitzen gegen sein Kinn, ein Künstler tief in Gedanken. «Hinten ein Wippsterz in Aubergine» – er gestikuliert ausdrucksvoll um ihren Kopf herum, formt den neuen Look mit den Händen – «und an den Seiten abwechselnd dieses hübsche Weinrot und Stahlblau.»

    «Soll sie uns vorher nicht besser schriftlich Carte blanche geben? Was sagt unser Anwalt dazu?»

    «Ich unterschreibe alles», sagt Marion. Sie ist ziemlich betrunken. Koks und Champagner heben sie wie eine Welle aus Licht zur Decke empor und verleihen ihr grenzenlosen Überblick. Mit einer einzigen Bewegung klappt Daniel Marions Lehne nach hinten, sie schreit «Huch!» – und hängt rücklings über dem Waschbecken. Energisch hält er ihren Kopf unter den Wasserstrahl und massiert das Haar mit Shampoo. Plötzlich riecht es im Raum nach frischer Kokosnuss. Ausspülen, dann der Festiger mit Weizen und Honig. «Wie wär’s mit Sesampaste?», albert Marion unter Daniels langen, kräftigen Fingern.

    Lydia findet es nicht so lustig, wie sie gedacht hatte. Plötzlich wird sie eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die Daniel und Anatole Marion schenken. Das überrascht sie, aber sie kann nichts dagegen tun. Sie sitzt seitlich auf der Fensterbank und schaut hinab zur Main Street, eine menschenleere Betonwüste mit ein paar verstreuten Bäumen, die im schwachen Mondlicht nicht gerade magisch wirken. Sie denkt, Bin ich auch so? Anatole und Daniel zeigen sich von ihrer schlimmsten Seite – Daniel scheint Anatole immer weiter zu diesem verzweifelten Tuntentrash anzustacheln, der am Ende nur herzlos und zerstörerisch ist. Würde sie Marion nicht verabscheuen und als Eindringling fürchten, als verwirrenden Spiegel ihrer eigenen Lage, sie täte ihr leid. Doch so – kein schöner Gedanke – erscheint ihr alles, was die Hände der beiden mit ihr anrichten, als eine Art süßer Rache.

    Als sie wieder zum Trio hinüberschaut, sitzt Marion aufrecht im Stuhl, auf dem Kopf eine enge durchlöcherte Gummimütze. Sie könnte ein Versuchskaninchen in einem Science-Fiction-Film sein. Daniel wirkt wie eine demente Marilyn Monroe als Laborantin, während er mit so was wie einer Häkelnadel Haarsträhnen durch die Löcher zieht. «Au», schreit Marion halb im Ernst, halb im Spaß, «das hat wehgetan.»

    «Das ist Kunst – was hast du erwartet, Püppchen?»

    «Au.» Marion zuckt unter Daniels Stochern in der Gummifolterkappe zusammen.

    «Schon fertig.» Daniel tätschelt ihre Hand. «Du hast’s überlebt. Jetzt bleichen wir.»

    «Was sagt ein Bleichgesicht am Marterpfahl?», fragt Anatole.

    «Jetzt wär ich lieber eine Rothaut», antwortet Daniel.

    «Hast du das selbst gehört?»

    «Ich hab’s mir ausgedacht, Schätzchen.» Er tunkt einen kleinen Pinsel in eine Schale und schmiert die Bleiche auf die freigelegten Haarsträhnen. Beiläufig sagt er, «Ich glaube, das Bleichgesicht ist ohnmächtig.» Und das ist sie. Sie schnarcht, den Kopf zurückgelehnt und den leeren Champagnerbecher im Schoß wie ein Lieblingsspielzeug. Unter Daniels Händen stirbt das üppige Braun ihrer Haare und wird weiß wie Gebein. Daniel hält ihren Kopf noch einmal über das Waschbecken und lässt das Wasser laufen. Prustend wacht sie auf, mit wild umherblickenden Augen. «Professor, es lebt, wir haben ein Lebewesen erschaffen», ruft Daniel. «Alles in Ordnung», beruhigt er Marion. «Jetzt können wir pinseln. Mondrian wird vor Neid erblassen.»

    Er taucht eine Bürste in die Schüssel, hält kurz inne und denkt nach. Dann verkündet er, «Nächster Halt Glamourville.»

    Anatole schaut Marion an. Ihr Glaube an Daniel ist rührend. Bewusstlos, mit gelblichem Gesicht sieht sie aus, als würde sie mit dem Schlimmsten rechnen und ergeben daran glauben, dass es das Beste ist. Mit übertriebenen Gesten trägt Daniel das Aubergine forsch und reichlich auf.

    Anatole summt zur OMD-Kassette, bildet stumm mit den Lippen die Worte, obwohl er die meisten gar nicht kennt. Er ist fröhlich, alles scheint vollkommen – dieser Augenblick, dass all diese Menschen hier beisammen sind. Marion ist bewusstlos, Daniel schmiert Aubergine, Lydia sitzt auf der Fensterbank und nippt am Champagner. In einer solchen Situation fühlt er sich am wohlsten. Gleichzeitig fühlt er sich leer und will nicht hier sein. Lieber wäre er bei Chris.

    Das ist sein großes Geheimnis. Was er auch tut, wie viel Spaß er auch hat, es bedeutet nichts ohne Chris. Die Sehnsucht nach Chris beherrscht sein Leben seit zwei Jahren, seit dem Tag, als er ihn an einem Nachmittag im Juni in der Metro von New York nach Poughkeepsie getroffen hat. Er war den Tag über zum Einkaufen in der City gewesen. In Croton-Harmon müssen die Fahrgäste nach Poughkeepsie umsteigen. An diesem Nachmittag war der Anschlusszug noch nicht eingefahren, und die Fahrgäste standen auf dem offenen Bahnsteig und warteten, als ein Gewitter aufzog – dicke Regentropfen und gewaltige Blitze über den grünen Hügeln, die den Bahnhof umgeben. Das Licht war gespenstisch, wie es bei plötzlichen Gewittern manchmal der Fall ist, und Anatole machten die Blitze Angst. Er erinnerte sich, was ihm sein Vater gesagt hatte, als er noch ein Kind war: Wenn du den Donner hörst, weißt du, dass er dich nicht getroffen hat. Aber das Warten auf den Donner war unerträglich. Überall am Himmel zuckten Blitze, und man wusste nicht, ob sie treffen würden: Dieser Moment oder der nächste konnte dein letzter sein.

    Zitternd stand er da mit seinem Regenschirm und widerstand dem Drang, sich hinzukauern; dabei fragte er sich, ob es zutraf, dass Regenschirme wie Blitzableiter wirkten. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und wandte sich an die Person neben sich, um mit jemand Kontakt aufzunehmen, der in derselben Notlage war wie er.

    «Um nach Poughkeepsie zu kommen setzt man doch gern sein Leben aufs Spiel.»

    «An Ihrer Stelle würde ich Abstand halten», sagte der Fremde. «Hier ist es nicht sicher, Gott hat mit mir noch ein paar Rechnungen zu begleichen.»

    Genau in dem Moment zuckte ein Blitz, und kurz darauf grollte der Donner. Anatole schaute den Mann an, mit dem er gesprochen hatte – und es war ziemlich verrückt, er glaubte, der Donner habe einen Engel erschaffen: nass bis auf die Haut, das goldene Haar vom Regen an den Kopf geklebt.

    «Gott trifft nicht besonders gut.» Anatole lachte nervös.

    «Warten Sie’s ab.» Chris grinste. «Er hat ’ne Menge Munition.»

    In dem Moment hielt der Zug nach Poughkeepsie am Bahnsteig. Schnell stiegen sie ein und setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des Gangs. Wind und Regen peitschten den silbernen Hudson und die grüngrauen Hügel. Kurz darauf kam die Sonne heraus. Als der Zug Poughkeepsie erreichte, hatte Anatole praktisch alles erzählt, was es über ihn zu erzählen gab, und bei der Gelegenheit erfahren, dass der umwerfende Fremde Chris Havilland hieß, im Plattenladen an der Academy Street arbeitete und am selben Tag wie er Geburtstag hatte, am ersten Juli, genau in der Mitte des Jahres.

    Später am Abend rief er Lydia an.

    «Na, wie war’s in New York?» Sie wusste, dass er wenig Lust gehabt hatte, hinzufahren.

    «Du wirst es mir nicht glauben. Ich bin ein Wrack. Lydia, meine Liebste, ich habe den Mann meiner Träume getroffen.»

    «Schon wieder? Ist er über achtzehn?»

    «Lydia, er wird dir gefallen. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben und gesagt, ich soll ihn anrufen. Er sieht aus wie David Bowie.»

    «David Bowie ist alt.»

    «Er sieht aus, wie David Bowie ausgesehen hat. Wie auf dem Cover von ‹Station to Station›.»

    Nach ein paar Tagen brachte er es fertig, Chris anzurufen. Zuerst schien sich Chris nicht an ihn zu erinnern, und Anatole verlor den Mut, doch dann machte es Klick und Chris klang plötzlich ganz begeistert. «Ah, der Zug», sagte er. «Natürlich. Wollen wir essen gehen? Ich mag den Mailänder. Sind Sie schon mal dort gewesen?!»

    Nach vier Gläsern Wein sind beide entspannt und redselig. Anatole gefällt es, bei Kerzenlicht dazusitzen und in dieses unglaublich perfekte Gesicht zu schauen. Ich kann nicht glauben, dass ich so viel Glück habe, sagt er zu sich selbst. Einfach jetzt hier zu sein. Anatole ist auch für kleine Dinge dankbar. Deshalb muss man ihn einfach mögen.

    «Wie schön, in dieser Stadt einen interessanten Menschen zu treffen», sagt Chris. «Du warst so witzig in dem kleinen Regenschauer …»

    «Das war ein Gewitter …»

    «… dem kleinen Regenschauer. Mir hat er gefallen. Weißt du, ich bin seit einem Jahr

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