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Die Autobiografie von Daniel J. Isengart
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Die Autobiografie von Daniel J. Isengart
eBook338 Seiten5 Stunden

Die Autobiografie von Daniel J. Isengart

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Über dieses E-Book

Mit 23 Jahren schmeisst Daniel Isengart sein Studium an der Münchner Kunstakademie und zieht nach New York. Dort nimmt er Tanzunterricht, arbeitet im Partyservice und tritt als Varietésänger auf. Nach einem seiner Auftritte begegnet er dem belgischen Konzeptkünstler Filip Noterdaeme. Gewappnet mit der Unbeirrbarkeit radikaler Individualisten rüsten sich die beiden, gemeinsam dem täglichen Überlebenskampf in der Megastadt ihre künstlerischen Projekte entgegenzusetzen. Filips Hauptwerk ist das "Homeless Museum of Art", das die kommerziellen Interessen der New Yorker Kunstmuseen auf die Schippe nimmt. Daniel macht sich als Chansonnier einen Namen und etabliert sich nebenbei als Privatkoch für die New Yorker Elite. Dass die Kunst der beiden trotz allem brotlos bleibt, kümmert sie dabei wenig. Die Salons in ihrer Brooklyner Wohnung wurden zu einem Knotenpunkt der unabhängigen Künstlerszene der Stadt, bei der sich unzählige, sowohl etablierte Stars der Avantgarde wie Penny Arcade, Joey Arias und Meow Meow als auch noch unbekannte Leuchten der New Yorker Bohème die Klinke in die Hand geben.
Filip Noterdaeme und Daniel Isengart – bildende Kunst und Kochkunst: dieselbe Kombination war im Paris des frühen 20. Jahrhundert das Merkmal des legendären Paars Gertrude Stein und Alice B. Toklas. Und so, wie Gertrude Stein in ihrer "Autobiografie von Alice B. Toklas" die Geschichte ihrer Beziehung beschrieb, erzählt Filip Noterdaeme von seinem Leben mit Daniel Isengart.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum26. Feb. 2018
ISBN9783863005085
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    Buchvorschau

    Die Autobiografie von Daniel J. Isengart - Filip Noterdaeme

    Buchdeckeln.

    Inhalt

    Kapitel 1:

    Bevor ich nach New York kam

    Kapitel 2:

    Meine Ankunft in New York

    Kapitel 3:

    Filip Noterdaeme in New York (1987–1999)

    Kapitel 4:

    Filip Noterdaeme, bevor er nach New York kam

    Kapitel 5:

    1999–2005

    Kapitel 6:

    Zu Hause (2005–2008)

    Kapitel 7:

    Auf der Straße (2008–2010)

    Kapitel 1

    Bevor ich nach New York kam

    Ich wurde in München geboren und bin in Paris aufgewachsen. Das ist wohl der Grund, warum ich immer vorgezogen habe, in einem gemäßigten Klima zu leben. Nun ist es aber schwierig, in Amerika oder selbst in Europa einen Ort zu finden, dessen Klima gemäßigt ist und an dem man auch leben möchte. Der Vater meiner Mutter war Professor, er kam im Jahre 1939 nach Niederbayern und heiratete meine Großmutter, die eine Vorliebe für Literatur hatte. Sie war die Tochter eines Kürschners. Meine Mutter war und ist eine charmante und strebsame Frau namens Ulla.

    Mein Vater ist tschechisch-deutscher Abstammung. Sein deutscher Vater war eine romantische Künstlernatur. Dessen ungeachtet verlangte seine Familie von ihm, beim Militär Karriere zu machen. Seine tschechische Gattin, meine Großmutter, verließ ihn nach der Geburt ihres zweiten Kindes, nachdem er angefangen hatte, mit den Nazis zu sympathisieren, und zog meinen Vater und seine jüngere Schwester alleine auf. Nach dem Krieg wurde sie jedoch wegen ihrer Ehe mit einem Deutschen aus ihrer Heimat ausgewiesen und nach Niederbayern geschickt, wo sie sich neu verheiratete und als Teilhaberin einer durchaus erfolgreichen Konfektionswarenhandlung ein gediegenes Leben führte.

    Mir selbst war Gewalt schon immer zuwider, und ich habe seit jeher eine Vorliebe für Gesang und das Kochen gehabt. Ich liebe Küchenzubehör, Desserts, Bücher, Schals und Strickjacken, sogar Eau de Toilette und Lippensalben. Ein Herrenanzug kann mir schon zusagen, allerdings sehe ich ihn lieber an einer Frau. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich als wohlbehüteter Angehöriger der gutbürgerlichen Mittelschicht, zunächst in Paris und später in München. Ich machte ein paar frühe Erfahrungen als Tänzer, sie waren jedoch nicht von Bedeutung. Als ich etwa neun Jahre alt war, war ich begeisterter Mozartfan. Ich fand, die Zauberflöte müsse eine Fortsetzung haben, und beschloss, diese zu komponieren. Meine Großeltern schenkten mir die Partitur, aber dann, als ich mir meiner Unzulänglichkeit bewusst wurde, schämte ich mich und gab die Idee auf. Vielleicht fühlte ich mich damals nicht versiert genug, eine Opernpartitur zu studieren, jedenfalls befindet sich diese nun irgendwo im Keller des Münchner Hauses meiner Eltern.

    Bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr interessierte ich mich ernsthaft fürs Singen und Tanzen. Ich lernte und übte fleißig, aber schon bald kam es mir zwecklos vor. Mir fehlte die nötige Disziplin, um wirklich gut zu werden, und ich hatte keinen Lehrer, der mir den nötigen Ansporn hätte geben können, wirklich hart zu arbeiten. Filip Noterdaeme hat mit seiner Skulptur Scented Candle Descending a Staircase – Parfümierte Kerze, eine Treppe herabsteigend – ein ziemlich genaues Porträt von mir zu jener Zeit geschaffen.

    In den darauffolgenden vier Jahren vergeudete ich meine Zeit. Ich hatte keine Inspiration, viel Langeweile und Sorgen, mein Leben war uninteressant und leer. Ich litt sehr darunter, sah aber keinen Ausweg. Dann kamen die Frühjahrs-Semesterferien 1992, die Harry Heissmann, einer meiner Kommilitonen an der Münchner Kunstakademie, in New York verbrachte. Als er von dort zurückkam, sagte er zu mir: Daniel, du gehörst nach New York. Eine Bemerkung, die eine komplette Wende in meinem Leben herbeiführte.

    Ich wohnte damals allein, lebte ein ruhiges Leben und nahm die Dinge gelassen, obwohl mich alles tief berührte. Am liebsten ging ich tanzen. Eines Abends war Patricia Laval, eine Kommilitonin der Kunstakademie, mit dabei, und ich tanzte und war wie besessen. Warum, sagte sie an jenem Abend zu mir, lebst du nicht so, wie du tanzt? Ich erinnere mich, dass meine Mutter, als ich ein kleiner Junge war, eines Nachmittags einmal einen befreundeten Nachbarsjungen in mein Zimmer führte. Ich fuhr fort zu zeichnen, und der Junge richtete aus Langeweile ein ziemliches Chaos in meinem Zimmer an. Ich ließ mich jedoch nicht aus der Ruhe bringen und sagte nur, er solle mich erst meine Zeichnung beenden lassen. An ein literarisches Zitat, das meine Mutter oft und gerne anführt, werde ich mich immer erinnern: Mensch, werde wesentlich. Sie brachte mir auch bei, dass ein Koch beim Zubereiten eines Gerichts keine Fertigprodukte verwenden dürfe. Für einen Koch, sofern er ein Koch ist, seien Fertigprodukte inakzeptabel.

    Ich lebte, wie gesagt, allein, doch in mir wuchs eine Sehnsucht nach etwas anderem. Den Anstoß dazu gab Harry Heissmanns Rückkehr aus New York sowie seine Anspielung, ich gehörte vielleicht dorthin. Er brachte mir aus New York auch ein paar Geschenke mit: eine Einladungskarte zu einer Party im Roxy Nachtclub, ein echtes amerikanisches Frisch gestrichen!-Schild und einen Subway Token, also eine dieser Münzen, die man damals für die dortige Subway brauchte – die ersten New Yorker Gegenstände, die ich je besessen habe. Er erzählte mir auch viele Geschichten über New York. Ich fuhr nach Barcelona, wo meine Eltern seinerzeit lebten, und erklärte ihnen, dass ich mein Studium an der Münchner Kunstakademie aufgeben, Europa verlassen und in New York Varietésänger werden wolle. Meine Eltern waren davon sehr verstört, zumal zu jener Zeit viel darüber berichtet wurde, wie gefährlich New York sei. Binnen weniger Monate löste ich meinen Haushalt in München auf und zog nach New York. Ein paar Jahre später hatte ich dort die Gelegenheit, in der Bar d’O zusammen mit Joey Arias aufzutreten, der die Varietékunst vollkommen erneuert hatte. Und dort machte ich die Bekanntschaft von Filip Noterdaeme. Ich war beeindruckt von seinem engen weißen T-Shirt, auf dessen Vorderseite in großen Buchstaben das Wort Dreamer stand, und vom schelmischen Leuchten seiner Augen. Ich darf sagen, dass ich nur dreimal in meinem Leben einem Genie begegnet bin, und jedes Mal erklang in mir eine Glocke. In keinem der drei Fälle habe ich mich geirrt oder war es nötig, mich über ihr jeweiliges Genie aufzuklären, da ich es stets sofort von alleine erkannte. Die drei Menschen, von denen hier die Rede ist, sind Filip Noterdaeme, Joey Arias und Meow Meow. Ich habe viele talentierte und einige brillante Menschen kennengelernt, aber nur drei herausragende Genies. Jedes Mal erklang in mir bei ihrem ersten Anblick etwas wie ein Läuten. Und so begann mein neues, erfülltes Leben.

    Kapitel 2

    Meine Ankunft in New York

    Es war im Jahr 1993. Filip Noterdaeme hatte gerade seine Dissertation über Gertrude Stein und Paul Celan geschrieben und steckte mitten im Marcellus Wasbending-Ttum-Projekt, seinem illustrierten fiktiven Tagebuch. Tommy Tune brachte seine Will Roger Follies an den Broadway, Penny Arcade hatte ihren sensationellen Erfolg im Village Gate mit Bitch! Faghag! Dyke! Whore!, und Quentin Crisp konnte man als Queen Elizabeth in der Filmversion von Virginia Woolfs Orlando sehen. Und ich machte mich auf nach New York.

    Ein letztes Mal ging ich in die Akademie, um meinem Professor mitzuteilen, dass ich München für immer verlassen würde. Er äußerte die Ansicht, aus mir hätte ein ziemlich guter Innenarchitekt werden können. Ganz im Gegenteil, erwiderte ich, Sie haben ja keine Ahnung, wie froh ich bin, das alles hinter mir zu lassen. In mir ist so viel Trägheit und so wenig Entschlusskraft, dass ich, wenn ich mich nicht zum Weggehen entschieden hätte, nun, wahrscheinlich nicht Innenarchitekt, zumindest aber doch Raumausstatter geworden wäre, und Sie machen sich keinen Begriff davon, wie sehr mich diese ganze Inneneinrichterei langweilt. Der Professor war äußerst pikiert und meine akademische Laufbahn damit beendet.

    Bald darauf saß ich bereits in einem Flieger nach New York. In meiner Hosentasche hatte ich ein Studentenvisum für die Ballet Arts-Tanzschule sowie die Schlüssel zu Mary Viviens Wohnung auf der Upper West Side, die sie mir zur Untermiete angeboten hatte.

    Ich muss ein bisschen über Mary Vivien erzählen. Sie ist Kalifornierin und hatte den Großteil ihres Lebens als Tänzerin in New York verbracht, bevor sie nach München zog, wo sie deutschen Ballerinen die Grundlagen afrikanischen Tanzens beibrachte. Sie hatte ihre Mietwohnung in der 75ten Straße behalten und unerlaubterweise an einen Tänzer untervermietet. Dieser Tänzer erschien ihr allerdings nicht vertrauenswürdig, er hatte irgendetwas an sich, was sie nervös machte. Ich weiß nicht genau, wodurch er diesen Eindruck hervorrief. Doch als sie erfuhr, dass ich nach New York ziehen würde und dort eine Bleibe suchte, hatte sie eine Idee.

    Mary Vivien hatte ihre sehr eigenen Ansichten, zum Beispiel traute sie weißen Menschen nicht so ohne Weiteres über den Weg. Und so hielt sie es auch in diesem Fall und zog Erkundigungen über mich ein – nicht etwa wahllos bei irgendwem, sondern einzig und allein bei allen Schwarzen, mit denen wir beide in München bekannt waren. So unterhielt sie sich mit meiner schwarzen Ballettlehrerin und mit meiner schwarzen Gesangslehrerin über mich und sprach auch mit dem schwarzen Koch, mit dem ich damals in einem italienischen Restaurant namens Tiramisu zusammenarbeitete. Kann ich ihm vertrauen?, wollte sie wissen, und alle sagten ihr, ja, kannst du. Und so kam es zu einer der glücklichsten Fügungen meines Lebens, nämlich dass Mary Vivien den Tänzer aus ihrer Wohnung warf und mich als Untermieter aufnahm. Sie gab mir die Schlüssel und sagte: Daniel, sagte sie, der Vermieter darf auf keinen Fall erfahren, dass ich diese Wohnung momentan nicht bewohne. Wenn irgendwer nach mir fragt, sagst du, ich wäre bei der Arbeit. Ich versprach es ihr.

    Und so kam ich eines späten Abends in meinem neuen Zuhause in der 75ten Straße in der Upper West Side an, und dies war der Beginn meines neuen Lebens in New York. Viel ist seither geschehen, aber jetzt muss ich erzählen, was ich an jenem ersten Abend sah.

    Die Wohnung war eine Zweizimmerwohnung im obersten Stock eines ziemlich heruntergekommenen Stadthauses. Sie war nur kärglich möbliert und ein wenig ungepflegt, so wie es damals auf der Upper West Side eben üblich war. Als Willkommensgeschenk hatte der Tänzer einen Karton mit Resten eines chinesischen Take-Outs im Kühlschrank stehen lassen, dazu eine halbe Flasche Wodka im Tiefkühler. Auf dem Teppich im Schlafzimmer lag eine riesige tote Kakerlake. Ich stellte meinen Koffer ab, warf die tote Kakerlake, die Essensreste und den Wodka, für den ich keine Verwendung hatte, in den Müll und ging in den Fairway-Supermarkt um die Ecke, um mir meine erste Mahlzeit in der Neuen Welt zu besorgen. Dies war der Anfang meiner Leidenschaft für nächtliche Lebensmitteleinkäufe, die in Europa selbstverständlich ein Ding der Unmöglichkeit sind. Im Fairway wunderte ich mich über die Sägespäne auf dem Boden und das unordentlich aufgetürmte Gemüse in den Auslagen. Sicherlich ein Laden für arme Leute, dachte ich mir. Überhaupt erschien mir die Upper West Side anfangs ziemlich trostlos und düster und ich hielt das ganze Viertel für eine sehr vernachlässigte und womöglich gefährliche Gegend. Tatsächlich kam ich mir dort vor wie ein Abenteurer. Später, sehr viel später erst, klärte mich irgendjemand darüber auf, dass Fairway einer der besten Lebensmittelläden New Yorks und die Upper West Side eines der beliebtesten Stadtviertel sei, zumindest für Ehepaare mit Kindern. In jener Nacht im Fairway erstand ich zwei Dinge, die ich noch nie zuvor gegessen hatte: kalte chinesische Nudeln mit Sesamsoße und israelischen Hummus. Es war eine durchaus eigenartige Kombination.

    Da ich gehört hatte, dass Kakerlaken am liebsten nachts aus ihren Verstecken kommen und an den Wänden entlangkriechen, schob ich Marys Futon in die Mitte des Wohnzimmers. Es war eine äußerst aufreibende Nacht. Ständig wachte ich vom Geheul der Autoalarmanlagen auf, ein für mich vollkommen neues, ungewohntes Geräusch. Erst am nächsten Morgen inspizierte ich die Wohnung gründlicher. Ich habe stets den Standpunkt vertreten, Einrichtung müsse zweckmäßig, ordentlich und gerade ansprechend genug sein. Folglich beschloss ich, dass hier einige Änderungen anstanden. Ich fing damit an, die schäbigen alten Möbel auf die Straße hinunterzuschleppen, wo sie binnen kürzester Zeit von ein paar obdachlosen Männern abtransportiert wurden. Als Nächstes sammelte ich Mary Viviens Privatsachen zusammen und verstaute sie in einem der Wandschränke. Ich schloss die Schranktür ab und öffnete sie in den vier Jahren, in denen ich in der 75ten Straße wohnte, nur ein einziges Mal. Doch davon später. Anschließend putzte und desinfizierte ich auf Händen und Knien die gesamte Wohnung von oben bis unten. Die Küche war das größte Problem. Die Einbauschränke waren mit öligem Dreck verklebt, und zwischen den Fugen steckten tote Insekten. Die einzige Lösung bestand darin, die Schränke herauszureißen und durch offene Regale zu ersetzen. All dies tat ich ziemlich resolut und ohne mit der Wimper zu zucken. Zum Schluss strich ich die gesamte Wohnung im Richard Meier-Stil weiß.

    Jeden Monat überwies ich die Miete auf Mary Viviens Bankkonto. Ich nahm auch ihre Post entgegen und schickte sie an ihre Adresse in Deutschland. Wenn mich irgendwer nach ihr fragte, tat ich so, als lebten wir in der 75ten Straße zusammen. Gewöhnlich fragte niemand. Bis die Geschichte mit dem Einbruch passierte.

    Es war an einem herrlichen Herbstabend. Ich kam spät nach Hause und fand die Wohnungstür in den Angeln hängend und die Wohnung in einem beklagenswerten Zustand. Zugegeben, viel Wertvolles gab es bei mir nicht zu stehlen, aber immerhin waren meine CDs verschwunden, meine Stereoanlage und meine alte Yashica-Kamera.

    Natürlich musste die kaputte Wohnungstür ersetzt werden, weshalb ich den Vermieter anrufen und so tun musste, als wäre ich Mary Viviens Mitbewohner und sie bei der Arbeit. Er sagte, er würde vorbeikommen und sich die Sache einmal ansehen. Bei dem Gedanken, dass er die Wohnung ganz in Richard-Meier-Weiß und ohne die geringsten Hinweise auf die schwarze Mary Vivien zu Gesicht bekäme, wurde ich außerordentlich nervös. Ich schloss den Wandschrank auf, in dem ich ihre Sachen verstaut hatte, und machte mich widerwillig und hektisch daran, die Wohnung wieder damit auszustaffieren. Das Resultat wirkte einigermaßen überzeugend, war vielleicht aber doch nicht überzeugend genug, weshalb ich meine Freundin Nicole anrief, eine Schauspielerin aus Südafrika, die nur ein paar Blocks weiter auf der 72ten Straße wohnte. Ich fragte sie, ob ich mir noch mehr Frauenkram, Klamotten und andere Sachen von ihr borgen könne. Sie amüsierte sich köstlich und sagte, aber ja doch, mit Vergnügen. Mit ihrer Hilfe gab ich der Wohnung den Anschein, als lebte Mary Vivien tatsächlich mit mir zusammen, hier und überhaupt. Ich legte sogar eine zweite Zahnbürste und eine Haarbürste voller langer schwarzer Haare auf die Ablage im Badezimmer.

    Der Vermieter kam, groß und gebieterisch. Wo denn Miss Vivien sei, sagte er. Bei der Arbeit, sagte ich. Er sah sich ein bisschen in der Wohnung um und ging dann wieder, anscheinend zufrieden mit dem, was er gesehen hatte, sowie mit dem Versprechen, bald eine neue Wohnungstür anbringen zu lassen. Eine Woche später kamen zwei Arbeiter mit einer Tür, allerdings war offensichtlich keiner der beiden fähig, sie richtig einzuhängen, und ich schimpfte sie aus. Ich war damals völlig außer mir. Zwei Wochen lang hatte ich meine Wohnung nicht abschließen können, was inzwischen eigentlich ohnehin nutzlos geworden war, da mir sämtliche Wertsachen ja bereits gestohlen worden waren. Aber ja, sagten die zwei Arbeiter und nickten, selbstverständlich verstehen wir, was Sie meinen. Aber sehen Sie, diese Tür ist die falsche Tür. Am Ende dauerte es noch eine weitere volle Woche, bis ich endlich wieder abschließen konnte, und das war die reinste Tortur. Heute, da ich mit Filip Noterdaeme in der Clinton Street lebe, gibt es oft Streit zwischen uns, weil er nachts nie die Wohnungstür von innen verriegelt.

    In meinem ersten Jahr in New York passierte alles und gar nichts. Ich nahm jeden Tag Tanzunterricht, eine Stunde nach der anderen, und eines Tages ging ich in eine Ballettstunde von Evee Lynn. Sie war eine ältere und die bei Weitem beeindruckendste Lehrerin der Tanzschule. Ich hatte sie oft mit ihrem schwarzen Gehstock in den Fluren herumgehen sehen, und stets hatte sie etwas zu etwas zu sagen. Sie war groß, hatte pechschwarze, kurzgeschnittene Haare, und ihre riesigen, ausdrucksvollen Augen waren mit Kajal schwarz umrandet, sodass man nicht umhin konnte, an eine orientalische Maske zu denken. In der Tat war sie eine waschechte Wienerin, die in den frühen fünfziger Jahren als junge Tänzerin nach New York gezogen war. Sie war stets schwarz gekleidet und liebte opulenten Schmuck. Besonders beliebt war sie bei japanischen Studenten, weil diese an autoritäre Lehrer wie sie gewöhnt waren.

    Evee Lynn war eine ausgezeichnete Lehrerin. Ihre strengen Ballettstunden gefielen mir wegen ihrer hohen Ansprüche von Anfang an, aber noch mehr gefiel mir, wie geistreich sie ihren Unterricht gestaltete. Sie sagte oft, es gebe nur eine einzige richtige Art Ballett zu machen, und wie es denn wäre, es wenigstens einmal damit zu versuchen, selbst wenn es das einzige Mal in unserem Leben wäre, dass wir irgendetwas richtig machten. Das jagte den meisten Schülern natürlich gehörig Angst ein. Ich fand es unendlich amüsant. Allerdings hatte sie die unangenehme Angewohnheit, Dimitri, den russischen Pianisten, der in ihrer Ballettstunde die Klavierbegleitung spielte, ständig vor der gesamten Klasse wegen seines Spiels zurechtzuweisen. Manchmal führte sie uns ihre zahllosen Schmuckringe und Armbänder vor und erklärte dabei, welche echt und welche falsch waren. Man müsse, sagte sie dann, das Echte vom Falschen zu unterscheiden wissen. Gern sagte sie auch, im Leben müsse man geben, geben und noch mal geben, und wenn man dann auf dem Sterbebett liege, käme einer und würde sagen, man habe nicht genug gegeben.

    Später, als sie schon aufgehört hatte zu arbeiten, hatten wir oft heftige Auseinandersetzungen und sprachen anschließend monatelang nicht miteinander. Zum Beispiel damals, als sie behauptete, alles würde sich ständig gegen sie verschwören, oder ein andermal, als sie mich bat, während ihrer Hüftgelenkoperation ihre kleine Studiowohnung auf der 57ten Straße sauberzumachen und auszumisten. Vielleicht war ich tatsächlich etwas zu eifrig bei der Sache gewesen, jedenfalls gab es einen Riesenkrach, als sie aus dem Krankenhaus zurückkam und ihre Wohnung zwar sauber und aufgeräumt vorfand, ihre Norma Kamali-Anzüge und Calvin Klein-Jeans hingegen nicht mehr. Und es stimmt, ich hatte viele ihrer Kleidungsstücke, die völlig eingestaubt aus sämtlichen Schränken quollen und aussahen, als wären sie jahrelang nicht getragen worden, entsorgt. Natürlich wusste ich, dass sich Evee Lynn schon seit Jahren nicht mehr in Schale warf und lieber in Pyjamas und Trainingsanzügen herumlief, und vielleicht fühlte ich mich deshalb dazu berechtigt, ihre alten Sachen wegzuwerfen. Die Angelegenheit mit den Norma Kamali-Anzügen war jedenfalls beinahe das Ende unserer Freundschaft. Evee Lynn hat mir inzwischen verziehen, aber hin und wieder, wenn wir Streit haben, lamentiert sie darüber, was diese Anzüge wert gewesen seien und wie ich sie nur alle einfach hätte wegwerfen können.

    Nach ihrer Hüftgelenkoperation wurde Evee zur Einsiedlerin. In jenen Tagen war ihr das Sprechen über Gehen lieber als das Gehen selbst, und sie beharrte darauf, dass die OP ein Misserfolg gewesen sei. O, wie vermisse ich das Gehen, sagte sie immer, wie oft habe ich früher lange Spaziergänge gemacht und dabei meinen Gedanken freien Lauf gelassen. Nun verließ sie ihre Wohnung kaum noch, und ihr gesamtes Leben drehte sich fortan um die vier großen Ts: TV, Trotz, Tatenlosigkeit und Telefon. Ihr Hausmeister und ich waren von nun an ihr einziger Kontakt zur Außenwelt.

    In jenen ersten Jahren in New York verdiente ich meinen Lebensunterhalt als Kellner. Meine erste Anstellung bekam ich im Café Ravel auf der 74ten Straße, dem einzigen Lokal auf der Upper West Side, das mich auch ohne Arbeitserlaubnis einstellte. Die erhielt ich erst Jahre später, was mich offiziell zu dem machte, was die Amerikaner einen Alien of Extraordinary Ability, einen Fremden mit außerordentlichen Fähigkeiten nennen. Das Ulkige am Café Ravel war, dass es ein paar Israelis gehörte, die zwar eine Menge Erfahrung in der Bekleidungsbranche hatten, aber keinen Schimmer, wie man ein Restaurant führt. Die Folge war ein einigermaßen wirres Herumprobieren. Die italienisch-amerikanischen Gerichte wurden von brasilianischen Köchen zubereitet, und die Wiener Backwaren lieferte ein amerikanischer Industriebackbetrieb. Im Café Ravel lernte ich Abi Maryan kennen, eine französische Schauspielerin, die später Immobilienmaklerin wurde. Sie erzählte mir einmal, welche Riesenveränderung das für ihr Leben bedeutet habe. Daniel, sagte sie schnörkellos, ich werde nie wieder arm sein.

    Zum Cafépersonal gehörten auch ein paar Amerikaner, Nick aus Jersey, der seine Homosexualität vergeblich zu verheimlichen versuchte, und die blonde Gwendolyn, eine Tänzerin, die mich darüber aufklärte, wie man in Amerika ohne Krankenversicherung (über-) lebt. Aber was machst du, wenn du dir einmal ein Bein brichst, fragte ich sie. – Weinen, sagte sie mit einem traurigen Lächeln. Und dann war da noch Tiffany, die rothaarige Hostess, mit der ich manchmal nach der Arbeit ausging, meistens in die Webster Hall im East Village, wo wir mit den aufgetakelten Voguing-Tänzern herumalberten. Eigenartigerweise fand ich erst Jahre später heraus, dass sie heroinsüchtig war. Irgendwie hatte es damals wohl Ärger mit ihren kolumbianischen Drogenhändlern gegeben und sie traute sich nicht mehr nach Hause. Ich ließ sie bei mir in der 75ten Straße übernachten, und am nächsten Morgen setzte sie sich in einen Bus, der sie zum Entzug nach Florida bringen sollte. So nahm ihr Leben letztlich eine entscheidende Wende.

    Eines Tages riet mir Sita Mani, eine Tanzstudentin aus Indien, ich solle aufhören im Café zu arbeiten und stattdessen wie sie in den Partyservice einsteigen. Dann musst du, sagte sie, weniger Stunden arbeiten und verdienst trotzdem genug, um davon zu leben. Schon kurze Zeit darauf, nachdem ich mir einen Kellner-Smoking besorgt und gelernt hatte, wie man in Amerika im französischen Stil serviert, begann ich, auf Cocktailpartys, bei großen Galas in Museen und an anderen Veranstaltungsorten zu arbeiten.

    Die angenehmste Partyservicefirma war Glorious Food. Sie gehörte Sean Driscoll, der wie ein Besessener gearbeitet und gearbeitet und gearbeitet hatte, und, wie es heißt, die Geschichte des Partyservice in New York neu geschrieben hat. Was für eine Geschichte wäre erst ein Buch darüber, was sich hinter den Kulissen so eines Partyservice abspielt! Vielleicht schreibt es ja irgendjemand einmal. Ich erinnere mich noch gut an eine große Abendveranstaltung in Mobile in Alabama. Glorious Food hatte für eine komplette Servicetruppe aus New York, die sich angemessen um die reichen weißen Dinnergäste kümmern sollte, einen alten Flieger nach Mobile gechartert. Nach dem Abendessen gab es ein Privatkonzert von James Brown. Es war sehr aufregend. James Brown sang Living in America und war der reinste Rhythmusteufel. Ich konnte meine Augen nicht von ihm lassen. Und ich erinnere mich daran, dass die weiblichen Gäste heftig mit den schwarzen, und zwar ausschließlich den schwarzen Kellnern flirteten.

    Hin und wieder wurde ich in jenen Jahren für den Lunch- oder Dinner-Service in privaten Haushalten reicher Leute gebucht. So servierte ich einmal bei einem Damenlunch im Haus von Ronald und Jo Carol Lauder. Ich weiß noch, wie beeindruckt ich von ihrer Kunstsammlung war. Da gab es Picassos in der Eingangshalle und alte amerikanische Keksdosen in der Küche und im Wohnzimmer ein wunderschönes mit weißen Eierschalenhälften bedecktes Möbelobjekt von Marcel Broodthaers. Und dann hing da ein blauer Yves Klein mit einem aufgeklebten Seeschwamm im Esszimmer. Man hatte mehrere runde Tische im Esszimmer aufgestellt und es war sehr eng. Es gab Risotto, und ich musste jedem Gast weißen Trüffel auf den Teller hobeln. Man hatte mir einen Trüffel gegeben, der so groß wie eine Babyfaust war, und als ich versuchte, Jo Carol Lauder ein paar Scheiben davon abzuhobeln, zerkrümelte er mir peinlicherweise in lauter kleine Brocken, wovon sie nicht erbaut war. Später stand ich in Habachtstellung mit dem Rücken zum Yves Klein und spürte plötzlich etwas an meiner Schulter – ich hatte mich zu weit zurückgelehnt und den kleinen blauen Seeschwamm gestreift. Glücklicherweise blieb er kleben, aber mein Herz stand für einen Moment still.

    Feast and Fêtes, der Partyservice von Daniel Boulud, war eine vollkommen andere Geschichte. Es war ein ganz und gar französisches Unternehmen und folglich schlecht organisiert, was das Arbeiten für diese Firma naturgemäß höchst anstrengend machte. Trotzdem muss ich sagen, dass der Franzose Daniel Boulud ein ausgezeichnetes Lammragout machte, wenn ich von dem einen Mal bei einer Geburtstagsfeier im Dakota absehe, wo es versalzen war und in die Küche zurückgeschickt werden musste.

    Ich sage immer, dass einem die Arbeit bei einem Partyservice das Gefühl gibt, das Leben bestünde zur einen Hälfte aus feiern und zur anderen aus aufräumen. Jedenfalls machte ich das ein paar Jahre lang, bis ich es einfach nicht mehr aushielt und mich nach anderen Möglichkeiten umzusehen begann, meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Als sich mir später dann die Gelegenheit bot, als Privatkoch zu arbeiten, nahm ich mit Kusshand an und schmiss meinen Kellnersmoking weg. Ich war sehr zufrieden mit mir, als ich dies tat. Im Lauf der Jahre habe ich jede Menge ganz unterschiedliche Leute bekocht. Ich hatte das Glück, gute Kunden zu finden, obwohl einige von ihnen durchaus ihre Schwächen hatten. Filip Noterdaeme erinnert mich gern daran, dass sie, wenn sie diese Schwächen nicht hätten, sich mich nicht leisten könnten. Aber ich schweife schon wieder ab von der Zeit meiner Brotjobs in New York.

    Es ereigneten sich alle möglichen seltsamen Geschichten, und einmal ließ ich eine schizophrene obdachlose Frau bei mir in der 75ten Straße übernachten. Und das kam so.

    Es war an einem kalten Dezembertag, und ich stand an einer Straßenecke auf der Upper West Side und machte Schnappschüsse des Viertels für meine Eltern, als mich plötzlich eine Frau mit wilden grauen Haaren und manischen schwarzen Augen ansprach. Bist du Modefotograf?, fragte sie. – Lachend verneinte ich. – Ich würde dich gerne für eine Benefizveranstaltung anheuern, die ich mit Jenny Shimizu im Henri Bendel-Kaufhaus auf der Fünften Avenue veranstalten werde, sagte sie.

    Für mich sah sie nicht aus wie eine schizophrene Obdachlose, aber natürlich hatte ich noch nie eine schizophrene Obdachlose gesehen, wie hätte ich das also erkennen sollen. Sie hieß Katharina Mani. Es ist schwierig zu erklären, wie alles kam, aber am Ende befanden wir uns plötzlich in meiner Wohnung und diskutierten eifrig über minimalistische Skulpturen, Joseph Beuys, französische Nouvelle Vague-Filme sowie ihre fünfzehnjährige Tochter. Das Beunruhigende war, dass sie mitten in unserer Unterhaltung ständig einschlief. Ich bot ihr höflich an, über Nacht dazubleiben, was sie gerne annahm. Sie schlief im Schlafzimmer, und ich verbrachte eine sehr unruhige Nacht auf dem Futon im Wohnzimmer, wachgehalten von Zweifeln an meinem eigenartigen Gast.

    Am nächsten Morgen sagte Katharina Mani, sie müsse unbedingt ein paar

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