Vier Kinder und ein Zeichentisch: Erinnerungen an Theater und Film
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Buchvorschau
Vier Kinder und ein Zeichentisch - Elisabeth Waltz-Urbancic
I. Kindheit und Jugend in Grinzing
Ein Bühnenbildner steht nicht im Rampenlicht wie ein Schauspieler oder ein Sänger. Das von ihm geschaffene Bild, seine Arbeit ist es, die letztlich auf der Bühne steht – die Person des Bühnenbildners bleibt dabei im Hintergrund. Daher kennen auch die wenigsten diese Person und machen sich keine besonderen Gedanken über deren Tun. Wie wichtig es allerdings ist, ein Ambiente zu schaffen, das den Sinn und das Anliegen eines Stückes erfasst und diesem zum Ausdruck verhilft, überlegt sich kaum jemand. Nicht ein spektakuläres Bild auf die Bühne zu stellen, sondern einen dem Stück dienlichen Raum zu schaffen, ist die Aufgabe. Ich jedenfalls habe meine lebenslange Tätigkeit als Bühnenbildnerin in diesem Sinne verstanden.
Immer wieder wurde ich ermuntert, die unterschiedlichen Stationen meines Berufslebens aufzuschreiben und über die vielen Begegnungen aus der Theater- und Filmwelt zu erzählen. Nun berichte ich also über meine Arbeit, mein Leben mit vier Kindern und meinen Beruf, den ich eigentlich zuerst gar nicht ergreifen wollte, den ich dann aber mit großer Freude und Intensität ausgeübt und der mein ganzes Leben geprägt hat. Ich schreibe nicht, sondern ich erzähle:
Ich bin ein sogenanntes Einzelkind. Das war ich nicht gerne. Ich hätte viel lieber einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester gehabt. Als ich einmal meine Mutter gefragt habe, warum ich denn keine Geschwister hätte, hat sie zu weinen begonnen. Da habe ich natürlich nicht mehr weiter gefragt. Später hat sie mir einmal erzählt, dass sie zwei Fehlgeburten hatte, bevor sie mich zur Welt brachte. Obwohl ich meine Eltern nicht allzu oft zu sehen bekam, bin ich doch sehr behütet aufgewachsen. Meine Mutter, Maria Mayen, war eine sehr bekannte und beliebte Schauspielerin am Wiener Burgtheater, 1926 wurde sie sogar als erste Frau zur „Kammerschauspielerin ausgezeichnet. Vormittags ging sie auf die Probe, und an den Abenden hatte sie fast immer Vorstellung. Meist kam sie mittags gar nicht heim, sondern ruhte sich in ihrer Garderobe aus. Das Wiener Burgtheater gehörte wie die Comédie Francaise in Paris Anfang des 20. Jahrhunderts zu den wichtigsten Häusern. Ein Engagement an der Burg war die Krönung einer Schauspielerkarriere – das ist bis heute wohl so geblieben. Meine Mutter war nur 14-jährig noch als halbes Kind früh von zuhause weg nach Berlin in die Schauspielschule Seebach gekommen. Danach spielte sie bei Otto Brahm am Lessingtheater in Berlin, anschießend hatte sie ein Engagement in Bonn. Von dort wurde sie von Direktor Hugo Thimig an die Burg geholt. Ihren ersten Vertrag musste noch ihr Vater unterschreiben, da sie noch nicht volljährig war. Die Rituale dort müssen überaus streng gewesen sein. Meine Mutter erzählte, dass sie sich im Konversationszimmer, wo die Schauspieler sich während der Proben aufhielten, vor jedem der großen Mimen verbeugen, sich vorstellen und Fragen beantworten musste. Geprobt wurde mit weißen Handschuhen. Jeder der berühmten Künstler hatte seine eigene Garderobe, nur die kleinen Nebenrollen und Komparsen saßen in einem Raum zusammen. Später, als meine Mutter bereits zu den ersten des Ensembles gehörte und in den Rollen der „jugendlichen Naiven
brillierte, hatte sie natürlich ihre eigene Garderobe. Die Garderobe war ein kleines privates Appartement, in dem sie ihre privaten Möbel hatte und das nach ihrem Geschmack eingerichtet war. Niemand außer ihrer persönlichen Garderobiere hatte das Recht, dieses Refugium zu betreten, das ausschließlich ihr zur Verfügung stand. So blieb sie also nach Probenende bis zur Abendvorstellung fast immer im Theater und ruhte sich gerne dort auf dem Kanapee aus. Meine Mutter hat mich selten mit ins Burgtheater und in ihre Garderobe genommen, aber an die Atmosphäre und das Ambiente kann ich mich wohl erinnern. Das alles hat mich sehr beeindruckt.
Als kleines Mädchen auf dem Arm der Mutter
Maria Mayen als Hedvig in Ibsens „Die Wildente"
Mein Vater, Dr. Rudolf Urbantschitsch, war Psychoanalytiker und hatte seine Praxis in der Stadt, abends ging er meist in den Ärzteclub. Meine Eltern wohnten im Cottage-Sanatorium in der Sternwartestraße im 18. Bezirk. Mein Vater hatte es mit noch nicht einmal dreißig Jahren 1908 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits verheiratet und hatte zwei Kinder, er war 19-jährig mit einem gleichaltrigen Mädchen aus einem angesehenen jüdischen Haus „durchgebrannt" und hatte mit 21 Jahren zum Entsetzen beider Familien geheiratet. Sein Sohn starb viel zu früh, noch bevor ich auf der Welt war und mit seiner Tochter, meiner Halbschwester Grete, die über 20 Jahre älter war als ich, hatte ich kaum Kontakt. Ich weiß nur, dass sie ihre jüdische Mutter während der ganzen Nazizeit unter Lebensgefahr außerhalb von Wien versteckt hielt und sie wirklich unbeschadet durchbrachte. 1910, als der Bau des Sanatoriums noch nicht ganz abgeschlossen war, trennte mein Vater sich von seiner Frau und bezog dort eine Wohnung. Bis 1920 war er Chefarzt und Direktor des Sanatoriums. Es war für die damalige Zeit ein außergewöhnlich luxuriös ausgestattetes Haus: ein Krankenhaus für Stoffwechsel- und Nervenerkrankungen. Es hatte Einbettzimmer mit Toiletten, Bad und Balkon. Tennisplätze, Wintergärten und eine Bibliothek sorgten für zusätzlichen Komfort. Bald war das Haus international angesehen und genoss einen hervorragenden Ruf. Unter den Patienten befanden sich berühmte Persönlichkeiten wie Sigmund Freud, Hermann Broch, Adolf Loos, Albert Einstein und viele andere. Während des Ersten Weltkrieges war mein Vater als Militärarzt in Mazedonien und in der Türkei stationiert. Nach dem Krieg blieben dann viele internationale Gäste aus. Das Sanatorium geriet zusehends in Schwierigkeiten.
Cottage-Sanatorium, 1913
In dieser Zeit lernten sich meine Eltern bei einer Abendgesellschaft kennen. Meine Mutter erzählte später immer, wie selbstbewusst mein Vater aufgetreten war. Als er sie das erste Mal sah, sagte er forsch: „In drei Monaten heiraten wir!" Und so war es dann auch. 1920 heirateten meine Eltern, sie hatten aber noch weiterhin ihre Wohnung im Sanatorium, und die Räumlichkeiten sowie das Personal standen ihnen zur Verfügung. Es gab viele und große Abendgesellschaft en mit interessanten Gästen, der erfolgreiche und gutaussehende Arzt und die junge, schöne und beliebte Schauspielerin des Burgtheaters als Gastgeber – eine glamouröse Welt, die man sich heute nicht mehr vorstellen kann.
Meine Eltern im Jahr 1920
Ich muss noch sehr klein gewesen sein, drei oder vier Jahre alt vielleicht, als ich das erste Mal im Burgtheater war. Ich saß mit meiner Großmutter in einer Loge weit vorne an der Brüstung. Man spielte Peterchens Mondfahrt nach dem Kinderbuch von Gerdt von Bassewitz. Das Stück war mit großem Aufwand gemacht und alles, was Rang und Namen hatte, spielte mit. Damals wurden Kindermärchen noch hochgehalten und prominent besetzt. Auf der Bühne war das Kinderzimmer von Peterchen und Anneliese zu sehen. Meine Mutter spielte die Anneliese. Die beiden wurden von der Kinderfrau ins Bett gebracht, kaum war sie aus dem Zimmer gegangen, kam der Maikäfer herein, und die Kinder stiegen aus ihren Betten. Sie begannen mit ihm zu tanzen, und er brachte ihnen das Fliegen bei. Sie hüpften höher und höher, dann endlich flogen sie in die Luft. Das war einfallsreich und bezaubernd gemacht, die Schauspieler hingen an Flugapparaten und wurden in die Höhe gezogen. Gleichzeitig aber glitt die gesamte Dekoration in die Versenkung. Ich hatte wirklich das Gefühl, die Welt versinkt, und die drei fliegen hoch in die Lüfte. Das hat mich schrecklich aufgeregt und ich habe laut zu schreien begonnen: „Die Mami fliegt davon, die Mami fliegt davon." Meine Großmutter brachte mich schnell aus der Loge in den Vorraum und beruhigte mich. Ich sehe noch heute das rote Samtbänkchen vor mir, auf das sie mich gesetzt hat. Ich habe nach diesem aufregenden Abend noch oft und oft Peterchens Mondfahrt gesehen und die Geschichte sehr geliebt. Eines mochte ich allerdings ganz und gar nicht: Wenn Ferdinand Mayerhofer, der den Maikäfer spielte und wusste, dass ich im Theater war, an die Rampe kam, mit dem Finger auf mich zeigte und sagte: „Ja, da sitzt ja das Lieserl." Da wäre ich am liebsten in den Boden versunken.
Das Haus in Grinzing. Hinter diesem Fenster steht heute mein Zeichentisch.
Als Zweijährige mit meiner Lieblingspuppe
1927 kauft en meine Eltern ein Haus in Grinzing, ein altes, ebenerdiges Gebäude mit sechs Fenstern zur Straßenseite, drei rechts, drei links der Eingangstüre und einem kleinen Portikus über derselben. Hinter dem Haus, das wohl um 1850 erbaut worden war, befand sich ein Garten mit einer kleinen Kapelle, die die Vorbesitzer errichtet hatten. Zur Hofseite wurde der rückwärtige Teil aufgestockt, sodass ein großer Raum mit einem Vorzimmer entstand, in dem mein Vater später auch praktizieren konnte. Der Garten war ein Paradies für mich. Ganz hinten stand eine riesige uralte Esche und auf den Obstbäumen konnte man wunderbar herumklettern. Als wir ins Grinzinger Haus einzogen, war ich zwei Jahre alt. Wieder kamen interessante Gäste ins Haus: Sigmund Freud, der weiterhin mit meinem Vater durch die Mittwochsrunde der Psychoanalytischen Gesellschaft in Kontakt war, der indische Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore, und Albert Einstein, der damals in der Grinzingerstraße nicht weit von uns gewohnt hatte. Ich selbst erinnere mich noch genau an Begegnungen mit dem Kritiker Ludwig Ullmann und an Felix Salten, den Autor von „Bambi. Ullmann war ein strenger und allseits gefürchteter Theaterkritiker. Das Ehepaar Ullmann war bei uns öfter zum Mittagessen eingeladen. Ich muss schon ein Mädchen von sieben oder acht Jahren gewesen sein, als einmal bei Tisch Frau Ullmann zu mir sagte: „Nun Lieserl, willst Du auch Schauspielerin werden?
„Vielleicht, gab ich zur Antwort. „Und was machst Du dann, wenn Du schlechte Kritiken bekommst?
„Ach, dann lade ich eben den Kritiker zum Mittagessen ein, entgegnete ich. Herr Ullman sagte: „Ach so?
– und meine Mutter lächelte gequält. Und Felix Salten hat mir einige Jahre zuvor einmal sein Kinderbuch „Bob und Baby geschenkt. Ich habe noch genau das Bild vor mir, wie er es mir freundlich nickend in die Hand gedrückt hat. Auf der letzten Seite des Buches war ein schmiedeeisernes Tor gezeichnet und darunter stand geschrieben: „Und dann schloss sich für Bob und Baby das Tor ihrer Kindheit.
Dieser Satz und das Bild des mächtigen Tores haben mich auf besondere Weise – halb bitter, halb staunend – berührt. Später, als ich dann zehn Jahre alt wurde, dachte ich für mich: „Nun schließt sich also für mich das Tor meiner Kindheit" und mit einer gewissen Wehmut ist mir die Unwiederbringlichkeit vergangener Zeit bewusst geworden.
Am Sonntag fuhren wir meistens zur Pa-Oma, das war die Mutter meines Vaters. Die Mutter meiner Mutter nannte ich Großmama. Sie lebte das halbe Jahr bei uns in Grinzing, die andere Jahreshälfte bei einer anderen Tochter in Hamburg. Wenn sie in Wien war, hat sie sich um den Haushalt gekümmert und mich abends zu Bett gebracht, sobald das Kinderfräulein gegangen war. Die Pa-Oma, die mir etwas fremder war, wohnte in der Colloredogasse im Cottage in einer großen, geräumigen Gründerzeitvilla, einem sogenannten großbürgerlichen Haus. Sonntags versammelte sich die ganze Familie um sie. Sie war eine gepflegte alte Dame, die in ihrem Fauteuil mit einem Plaid auf den Knien saß. Herumgehen habe ich sie nie gesehen, sie wurde von einer Pflegerin betreut. Mein Großvater Viktor Urbantschitsch war Laryngologe und Universitätsprofessor. Er starb, bevor ich geboren wurde. Der lustigste in dieser wohlgesetzten und wohlbestallten Verwandtschaft aber war Onkel Pero, er war Serbe und hatte einst als Offizier in der k.-u.-k.-Armee gedient. In der Jugend muss er auffallend fesch gewesen sein und fand wohl großen Anklang bei den Damen. Ich sehe ihn noch vor mir, schon weißhaarig mit einem aufgezwirbelten schwarzen Schnurbart. Zum Entsetzen der Familie lief er im Haus immer barfuß. Wenn er mich sah, hob er den Zeigefinger und sagte: „Lieserl, die linke Pohälfte gehört mir." Da habe ich mich natürlich schrecklich geniert und das amüsierte ihn umso mehr. Aber ich mochte ihn trotzdem, weil er immer so verschmitzt und lustig aussah.
Im Juli und im August ist das Burgtheater geschlossen, meine Mutter hatte eine Sondervereinbarung getroffen, sie konnte schon ein Monat eher weg. So fuhren wir viele Jahre schon im Juni nach Venedig auf den Lido. Immer mit dem Schlafwagen. Ich liebte das Schlafwagenfahren, konnte es kaum erwarten und fragte immer wieder: „Wann fahren wir, wann fahren wir? – „Wenn der erste Stern am Himmel steht
, sagte mein Vater. Alle zwei Minuten sauste ich in den Garten, um nach einem Stern Ausschau zu halten. Endlich war es soweit: Meine Großmutter brachte mich an die Bahn, bugsierte mich in den Schlafwagen und legte mich ins Bett. Der Vater kam immer erst ein paar Tage später nach und blieb auch nicht die ganze Zeit. Meine Mutter kam direkt nach der Vorstellung zur Bahn. Langsam setzte sich der Zug in Bewegung – meine Mutter war noch nicht da. Ich fing entsetzt zu schreien an. Meine Großmama beruhigte mich – es war nur der Nachbarzug, der am Fenster vorbeirollte. Endlich kam meine Mutter, und die Großmama stieg aus. Die Schlafwagen Ende der zwanziger Jahre waren wunderbar ausgestattet – nicht wie heute alles aus Plastik. Das Abteil hatte eine braune geprägte Ledertapete und einen weichen roten Teppich. Im Eck beim Fenster stand ein Kästchen, wenn man den Deckel hob, befand sich darunter ein kleiner Waschtisch. Am Fuß des Kästchens gab es eine Klappe und wenn man diese öffnete, kam ein kleiner Nachttopf zum Vorschein, ein länglicher, schmaler, der ein bisschen wie eine Birne aussah, den konnte man herausnehmen und später wieder auf die Klappe stellen und zumachen. Dann ergoss sich der Inhalt auf das Geleise. Auch auf dem stillen Örtchen am Gang konnte man durch das Loch der