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"Soll ich sagen?": Erinnerungen
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eBook409 Seiten3 Stunden

"Soll ich sagen?": Erinnerungen

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Über dieses E-Book

»Ein Triumph der Fantasie«

Heinz Zuber, Burgschauspieler, »Tatort«-Kommissar, Musical- sowie Operettendarsteller und Clown Enrico – »Soll ich sagen? Ich sag niiicht!« – blickt zurück auf sein bewegtes Leben, auf amüsant erzählte Begegnungen und auf Erlebnisse in aller Welt.
Seine Geschichten und Anekdoten beleuchten pointen- und aufschlussreich die Großen des Theaters und des Showgeschäfts – von Marika Rökk, Zarah Leander, Dagmar Koller und Udo Jürgens über Paula Wessely, Susi Nicoletti, Ewald Balser, Oskar Werner, Maximilian Schell, Michael Heltau bis zu den Regisseuren Giorgio Strehler, George Tabori, Peter Zadek, Jerome Savary …

Mit zahlreichen Fotos und persönlichen Dokumenten aus dem Privatarchiv des Künstlers
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum25. Apr. 2016
ISBN9783903083219
"Soll ich sagen?": Erinnerungen

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    Buchvorschau

    "Soll ich sagen?" - Heinz Zuber

    Einleitung

    Im April 2016 ist mein 75. Geburtstag.

    Ich höre immer wieder, 75 ist doch kein Alter heutzutage.

    So sicher bin ich mir da nicht.

    Es verändert sich doch einiges mit den Jahren. Ich bin beispielsweise nicht mehr so versessen auf das Spielen. Natürlich, wenn ich mich dann doch immer wieder einmal zu einem Auftritt überreden lasse und Erfolg habe, dann macht es schon Spaß. Aber …

    2015 habe ich noch in der »Komödie am Kai« in Quartetto gespielt, einen Tenor, der große Probleme mit dem Altsein hat. In diesem Vier-Personen-Stück waren meine liebe Freundin Ulli Fessl, meine Burgtheater-Kollegin Helma Gautier und der fabelhafte Peter Kuderna mit dabei. Es war ein großer Erfolg, und wir spielten viele, viele Vorstellungen.

    Ziemlich bald nach der Aufführungsserie, am Karsamstag 2015, bin ich zusammengeklappt, mein Blutdruck schwankte zwischen viel zu hoch und zu niedrig. Die Rettung brachte mich ins Krankenhaus in Hietzing, und am 7. April, meinem Geburtstag, »beschenkte« man mich mit einem Herzschrittmacher. Man hat mir auch sehr liebenswürdig gratuliert.

    Nur eine Krankenschwester, die an sich sehr freundlich war, meinte: »Sie sind ja sehr nett, aber den Enrico habe ich nicht gemocht.«

    Es stellte sich heraus, dass es ihr auf die Nerven gegangen ist, wenn Enrico immer »ich saaag niiicht« sagte. »Ich dachte als Kind, er soll’s doch schon sagen, der blöde Kerl«, meinte sie.

    Das ist für mich allerdings eine eher seltene Erfahrung. Meist habe ich immer noch viele und sehr nette Reaktionen auf meine Kunstfigur »Enrico« bekommen. Da kam etwa ein Brief von den beiden Autoren Volker Klüpfel und Michael Kobr, die mit ihren »Allgäu-Krimis« berühmt und Bestseller-Autoren geworden sind. Ich kenne die Herren nicht persönlich, aber als einer von ihnen im »Kurier« nach seiner Lieblingsgestalt in der Geschichte gefragt wurde, sagte er: »Enrico aus Am dam des«.

    Das war sicher ein Scherz, aber ich freute ich mich darüber und schickte ihnen, ebenfalls als Scherz, ein Autogramm an ihre Büroadresse, die ich im Internet gefunden hatte. Ich bekam einen bezaubernden Fanbrief der beiden Autoren, sie sind Jahrgang 1971 und 1973, in dem sie mir versicherten, ich sei der Held ihrer Kindheit gewesen.

    Zuletzt, als ich in Baden Feuerwerk gespielt hatte und am Ende, wenn Onkel Gustav zum Zirkus geht, in meinem Enrico-Kostüm erschien, war die Publikumsreaktion unglaublich, und nachher erzählten mir viele Leute, dass sie mit mir – das heißt, natürlich mit Enrico – aufgewachsen seien. Oder ich gehe nur auf die Straße, die Menschen sehen mich und fangen an zu grinsen – ehrlich, das liebe ich.

    Im Hietzinger Spital, das eigentlich in Speising liegt, gibt es eine hoch gelegene Terrasse, auf der ich mich gerne aufhielt. Von dort aus konnte ich so vieles sehen, das in Bezug zu mir stand. Das Burgtheater und den ORF auf dem Küniglberg habe ich im doppelten Wortsinn zwar hinter mir, aber auf der anderen Seite sieht man den Maurer Wald, der ein Lieblingsplatz von allen meinen Hunden und von mir ist. Wenn ich mit meinem Hund unterwegs bin, sind das die glücklichsten Augenblicke, die ich mir vorstellen kann (aber das versteht wohl nur ein Hundefreund). Außerdem habe ich auf diesen Wegen die meisten meiner Texte gelernt und es waren nicht wenige in meinem Leben.

    Ich kann aber auch in Richtung Baden sehen – im dortigen Stadttheater habe ich in meiner Jugend immerhin den Mephisto in Urfaust gespielt, in der Regie von Peter Wolsdorff, der auch die Hauptrolle übernommen hatte. Damals war ich schon am Burgtheater. Nach meiner Pensionierung an diesem Haus ist Baden für mich durch seinen Intendanten, den Regisseur Robert Herzl, jahrelang zu einer Art künstlerischen Heimat geworden. Dort habe ich eine ganze Reihe hübscher Komikerrollen spielen dürfen, zu meinem Vergnügen und ich denke wohl auch zu dem des Publikums.

    Der Weg nach Baden führte, wenn ich Zeit und Muße hatte, immer wieder über die Weinstraße und über Gumpoldskirchen, das mich als Landschaft so sehr an »meine Gegend«, das Elsass und die elsässischen Weinorte, erinnert.

    An dem Tag, an dem ich mit Freunden diesen Ort entdeckte, habe ich auf diese Art zum ersten und Gott sei Dank auch zum letzten Mal in meinem Leben eine Vorstellung versäumt … So etwas vergisst ein Schauspieler nicht.

    Ich war noch am Max Reinhardt Seminar, durfte aber schon im Theater in der Josefstadt mitwirken und war im »Kleinen Theater der Josefstadt im Konzerthaus« in einem Einakterabend des polnischen Autors Sławomir Mrożek eingesetzt. Ich war nur »eine Hand« (beziehungsweise ein Riesenhandschuh), die aus der Kulisse Anweisungen gibt – es waren »absurde« Theaterzeiten damals. Niemand hatte mich aufmerksam gemacht, dass es am Sonntag auch Nachmittagsvorstellungen gibt, und den Vertrag hatte ich leider nicht so genau gelesen. Als ich zur Abendvorstellung erschien, wurde ich wegen meines Versäumnisses mit Verachtung gestraft. Glücklicherweise hatte der Regieassistent meinen Part übernommen. Es blieb jedenfalls ein heilsamer Schock, und ich hatte keine Konventionalstrafe zu bezahlen, was durchaus möglich gewesen wäre.

    Mein Blick von der Terrasse des Spitals schweift weiter. Ganz in der Nähe hier sind, nein, waren die Rosenhügel-Studios. Hier habe ich meinen ersten Fernseherfolg erlebt, hier wurde Samba gedreht, mit Helmuth Lohner und Helmut Qualtinger, da hat für mich das Fernsehleben begonnen. Wenn man bedenkt, dass ich hier Hunderte von Sendungen gemacht habe, und zu Ostern 2015 gab es dort nur noch Trümmer und Staub …

    Gar nicht so weit entfernt, ein bisschen nach links, da liegt der Südwestfriedhof. Da werde ich vielleicht einmal landen. Einige liebe Kollegen liegen schon dort. Oder vielleicht komme ich auf den Zentralfriedhof? Wer weiß. Will ich jetzt daran denken?

    Wenn man mich fragt: »Wie geht es Ihnen?«, sage ich ehrlichen Herzens: »Immer wieder gut.« Das stimmt auch, und so kann’s noch eine Weile bleiben.

    Als ich einen Schlussstrich unter Enrico im Fernsehen setzte, erwartete ich im Grunde, schnell vergessen zu werden. Ich hatte mich getäuscht und darüber bin ich wirklich glücklich. Es gibt unendlich viele Beispiele dafür, dass Menschen aus der Distanz von Jahrzehnten noch das Bedürfnis haben, dem Enrico zu sagen, was er ihnen bedeutete, wie zum Beispiel mit einem Mail auf meiner Homepage, das mich während der Arbeit an diesem Buch erreichte.

    Enrico forever – Fans bis heute

    Von: Dieter

    Datum: 24. Juli 2015 um 09:34

    Betreff: Wie ich als »Bayer« zum Clown Enrico kam …

    An: Heinz ZUBER

    Wie ich zum »Clown Enrico« kam …

    Damals, lieber Enrico, als ich noch ein kleines Kind war, da wuchs ich im »Gäuboden« in der Nähe von Straubing (Niederbayern) auf.

    Der »Gäuboden« ist ein sehr fruchtbares Ackerland, aber vor allem gibt es dort viele Kilometer weit keine Hügel und Berge.

    Das war auch der Grund, warum – über viele Kilometer hinweg – die Funksignale des österreichischen Fernsehens uns in dieser Region erreichten.

    Von Kindesbeinen an wuchs ich mit Am dam des, der Kasperl Post, dem ORF-Pezi und all den anderen schönen Sachen im FS 1 auf … Denn wir empfingen nur FS 1.

    Als ich elf Jahre alt war, zogen meine Eltern um, nach … in der Nähe von Kelheim.

    Und ich besuchte – seit 1981 – das dortige Gymnasium.

    Um Dir eines zu sagen, lieber Enrico: Die Lehrer und Schüler in diesem Gymnasium waren mehr als seltsam.

    Alles drehte sich nur um Naturwissenschaft und Sport, nix mehr um Phantasie und Kunst.

    Man musste verbissene Leistungen bringen, durfte fortan nie mehr »menschlich« sein, und wenn einer den anderen abschreiben ließ, hieß es sofort, das sei eine »Schwäche«, nur die Stärksten kämen durch.

    Oft hatte ich den Eindruck, werter Enrico, das System wollte einem dort die Kindheit mit aller Gewalt nehmen.

    Du kannst Dir denken, lieber Enrico, dass ich mich dort – über viele Schuljahre hinweg – gar nicht wohl fühlte.

    Aber wenn ich – eins um’s and’re Mal – gedanklich aus dem Schulfenster schweifte, dann spürte ich Dich, den Enrico, der mir sagte: »Halt aus, wird schon weggehen. Aber ich sag niiicht …«

    Das hat mich, lieber Enrico von Am dam des, in diesen schwierigen Zeiten sehr, sehr aufrecht gehalten.

    Ich hab’ ein Autogramm mit Foto und Widmung von Dir, das hängt an meiner Wand, und ich werde es niemals abhängen!

    Beste Grüße

    Dein damaliges Kind

    Dieter –

    Kelheim (Süddeutschland)

    ;-)

    Von: Heinz Zuber

    Gesendet: Sonntag, 26. Juli 2015 14:21

    An: Dieter

    Betreff: Enrico

    Mein liebes, damaliges Kind Dieter,

    Du hast mir eine große Freude gemacht mit Deinem Mail, was Du empfunden hast, freut mich, denn genau das war mir ein Anliegen.

    Ich war auch kein sehr glückliches Kind. Nicht, dass meine Eltern nicht liebevoll zu mir gewesen wären, aber ich war Einzelkind, vor Gemeinschaften, Vereinen, Klassen habe ich mich eher gefürchtet.

    Ich tu’s eigentlich heute noch. Ich musste mir immer selber Mut machen. Und genau das habe ich als Enrico versucht zu vermitteln: Trau Dich trotzdem, sei fröhlich, es gibt so vieles, woran man Freude haben kann!

    Und wenn man etwas mit Freude tut, wird man es auch erfolgreich tun.

    Du schreibst, Dein Grundsatz als Kind bei Schwierigkeiten war: »Halt aus, es wird schon weggehen. Aber ich sag nicht …« – und hättest an Enrico gedacht.

    Danke, das war genau meine Absicht.

    »Halt aus, es wird schon besser werden«, das war auch meine Devise im ORF, der den Enrico immer wieder abschaffen wollte, und dagegen habe ich gekämpft wie ein Löwe und 28 Jahre durchgehalten, darauf bin ich stolz. Ein großer Freund von Enrico war der berühmte österreichische Psychiater und Suizidforscher Erwin Ringel, der sich leidenschaftlich engagiert hat, wenn Enrico wieder einmal verschwinden sollte.

    Er sagte mir einmal: »Sie wissen gar nicht, was Sie für die Kinderseelen bedeuten. Sie tun mehr als alle Kinderpsychologen zusammen.«

    Nach 28 Jahren, wieder anlässlich einer Programmumstellung im ORF, hatte ich durchaus ein Angebot weiterzumachen, aber in einer Form, die ich nicht wollte. Da habe ich mich entschlossen zu sagen: »Schluss, irgendwann ist es auch genug.«

    Einer der ganz seltenen Privatauftritte von Enrico zu Ehren des berühmten Suizidforschers Prof. Erwin Ringel. Er war ein großer Fan und hat sich oft für Enrico eingesetzt.

    Um nicht schwach zu werden in meiner Entscheidung, habe ich das sofort meinem Freund und jahrzehntelangen Enrico-Unterstützer Werner Urbanek von der Kronen Zeitung mitgeteilt, der es auch veröffentlicht hat.

    Ich habe mir damals gedacht, jetzt ist es eben aus mit den liebevollen Publikumsreaktionen.

    Es war nicht aus und ist nicht aus, wie mir auch Dein Brief beweist.

    Nochmal danke und alles Liebe

    Wünscht Dir Dein

    Enrico Emanuel Theobaldissimus Fillissimaximo (pfiff )

    Heinz Zuber

    Wo ich herkomme

    Es war im Jahr 1986. Damals fuhr ich ins Marchfeld. Schlosshof, die Residenz des Prinzen Eugen an der slowakischen Grenze, war noch nicht so großartig renoviert wie heute, aber es gab eine eindrucksvolle Prinz-Eugen-Ausstellung, die mich interessierte.

    Als ich schon am Gehen war, kam ich in einen kleinen Gang mit im Grunde uninteressanten Schlachtendarstellungen. Da »reißt« es mich bei einem Bild. So muss es einem Zugvogel gehen, wenn er sein Brutgebiet wiederfindet:

    Da war meine unmittelbare Kindheits-Landschaft, das Dreiländereck mit Deutschland, Frankreich, der Schweiz und dem Rhein bei Basel: der Hügel mit dem Kirchlein, Tüllingen, wo ich schon als Kleinkind gespielt hatte, der Blauen, dritthöchster Berg des Schwarzwaldes, der von überall die Landschaft dominiert, im Vordergrund der Norden von Basel, genannt Kleinhüningen, dann das linke Rheinufer, das französische, mit der Festung Hüningen. Von dort bewegt sich ein Kriegszug über den Rhein und die Schusterinsel. Damals war das eine wirkliche Insel im Rhein, heute ist es nur noch ein Industriegebiet mit demselben Namen in meiner Heimatstadt Weil am Rhein.

    Meine ganze Kindheit auf einem Gemälde: Frankreich, Schweiz, Deutschland und der Rhein – ein Bild von 1702 (Spanischer Erbfolgekrieg). Selbstverständlich sieht alles inzwischen ganz anders aus, aber ich könnte die heutigen Straßen einzeichnen.

    Ein Verteidigungswall, die »Obere Schanze«, ist heute verschwunden; aber wir wohnten in der Oberen Schanzstraße. Dann findet man die »Sternenschanze«, ich wusste nicht einmal, wo der Name Sternenschanzstraße herkommt. Das »Käferholz« ist ein großes Forstgebiet, wo meine Cousine noch heute ein Stück Wald besitzt …

    Es war ein Bild der »Schlacht bei Friedlingen«, auch »bei Hüningen« oder »im Käferholz« genannt. Dargestellt war der Rheinübergang der französischen Truppen im Jahr 1702 im Dreiländereck Deutschland, Frankreich und Schweiz, mit Basel im Vordergrund. Meine ganze Kindheit und Jugend konnte ich auf diesem Gemälde wiederfinden.

    Man konnte ausmachen, wo die Oma und die Tante Liesl gewohnt haben, wo unser Haus stand und wo ich zur Schule gegangen bin.

    Der Blickwinkel war von Basel aus genommen, der Stadt, die ich auch als Heimatstadt empfinde und in der ich eine kaufmännische Lehre als Speditions- und Rheinreedereikaufmann absolviert habe; dahinter mein wirklicher Heimatort, das Städtchen Weil am Rhein, aus dem ich neunzehnjährig geflüchtet bin – vor der Kleinstadt, vor der deutschen Bundeswehr, vielleicht vor mir selbst …

    Eine Kindheit im Krieg

    Mein Vater hieß Heinrich Zuber, war gelernter Werkzeugmacher und Deutscher. Meine Mutter Lina, geborene Wunderle, war als junges Mädchen Schneiderin und stammte zwar auch aus einer deutschen Familie, war aber in der Schweiz aufgewachsen. Großvater Wunderle arbeitete bei der Eisenbahn in Basel, und wenn die Familie auch später wieder über die Grenze nach Deutschland umzog, fühlte sie sich doch als Baslerin. Wir hatten jedenfalls überall Verwandte, in Deutschland, in der Schweiz, im Elsass.

    Meine Eltern haben sich beim Theaterspielen in Weil am Rhein, wo beide lebten, kennengelernt, er war beim Fußballverein, sie in der Jungfrauenkongregation, einem katholischen Mädchenverein, und beim Laienspiel kamen sie zusammen. Sie heirateten und blieben länger kinderlos, bis ich kam, der einzige Sohn, das war 1941.

    Mein Vater wurde eingezogen und kam in den Krieg nach Frankreich. Später hat er mir erzählt, wie angewidert er davon war, wie sich die Deutschen dort benommen haben. Meine Mutter, eine höchst energische Frau, wollte meinen Vater von der Front befreien. Ein früherer Arbeitskollege meines Vaters, der schon bei der kriegswichtigen Firma Dornier in Friedrichshafen arbeitete, hatte ihr erzählt, dass man dort Fachkräfte suchte. Heute denkt man bei »Dornier« und »Friedrichshafen« vor allem an das Luft- und Raumfahrt-Museum mit dem Zeppelin, das ich später oft und gern besucht habe. Damals war es ein kriegswichtiger Rüstungsbetrieb, mein Vater war mit seinem Beruf genau richtig – und meine Mutter schickte für ihn die Bewerbung ab. Mit seiner Unterschrift, was glatte Urkundenfälschung war, wovon sie aber später nichts mehr wissen wollte. Sie hat sich damit zweifellos ihren Ehemann und mir meinen Vater gerettet, denn seine ganze Truppe ist bald darauf nach Russland verlegt worden.

    Meine Mutter als junges Mädchen.

    1941, ich bin ein Kriegskind. Mein Vater war sehr stolz.

    Mein Vater nach dem Krieg 1946

    Vater bekam den Job und arbeitete fortan in Friedrichshafen und Bregenz in einer Firma mit französischem Namen, die für die Deutschen Flugzeuge herstellte.

    Mutter und ich waren daheim, wohnten im äußersten südwestdeutschen Zipfel, nahe am Rhein, genau neben der Schweizer Grenze. Die war damals ein Stacheldrahtzaun, wir lagen also zwischen einer Landesgrenze auf der einen Seite und dem Zaun eines Arbeitsdienstlagers auf der anderen. Ich erinnere mich an eine Szene, wo bei mir schon als kleiner Knirps mein Gerechtigkeitssinn ausbrach. Ich sah, wie ein Uniformierter einen von den alten Männern, die noch eingezogen worden waren, erbarmungslos zusammenbrüllte. Der Dreijährige, der ich war, schrie empört, mit kindlicher Logik: »Lass ihn in Ruhe! Er kann doch nichts dafür!« Die ganze Truppe lachte verstohlen, und die Autorität des Schreihalses geriet ins Wanken. Er ließ von seinem Opfer ab, ich war zufrieden.

    Die Schweiz war für Grenzbewohner damals ein wahres Wunder, das man nur vom Hörensagen kannte; bei uns gab es Verdunkelung, rationierte Lebensmittel und Krieg.

    Jenseits des Gartenzauns musste das Paradies sein: Lichter in der Nacht, Musikfetzen wehten herüber, dort gab es Schokolade, Bananen, Orangen, was immer man sich darunter vorstellte.

    Dort war Frieden.

    Ich weiß auch noch, dass eine Tante aus der Schweiz öfter versucht hat, mir über den Stacheldrahtzaun Schokolade zuzuwerfen. Aber der Zaun war zu hoch und die Schokolade ist in den Stacheln hängengeblieben.

    Wenigstens konnte man mit den Verwandten durch den Zaun reden.

    1944 mussten meine Mutter und ich mit anderen Frauen und Kindern vor den anrückenden Alliierten flüchten. Aus diesen ganz frühen Jahren stammen die ersten Bilder meiner Kindheit. Die lodernd brennende Nachbarortschaft Haltingen, die als »kriegswichtig« beschossen wurde. Wir waren in unserer Enklave praktisch eingekesselt. Und so flohen wir im Kugelhagel bis zum Grenzübergang in die Schweiz, ich im Kinderwagen, die Mutter mit Riesenrucksack. Ich habe auf dieser Fahrt durch Basel im Kinderwagen zum ersten Mal gesehen, dass Regentropfen im nächtlichen Licht bunt strahlen können.

    Unser Nachbarort wurde bombardiert. Wir waren eingeschlossen zwischen Rhein und Schweizer Grenze.

    Die Schweizer haben uns erst einmal gerettet, wir durften über die Grenze, vorbei am Haus unserer Verwandten. Dort ließ man uns allerdings nicht hinein, und man konnte auch niemanden verständigen.

    Letztendlich wurden deutsche Flüchtlinge nach 30 Kilometern wieder nach Deutschland abgeschoben. Wir flüchteten zunächst an den Bodensee zu Tante Amalie in Radolfzell, das war Luftlinie ca. 100 Kilometer von unserem Heimatort entfernt, aber man hat uns dort, wie mir meine Mutter später erzählte, als »das Pack von der Front« beschimpft. Ich denke heute oft daran, wenn ich das Flüchtlingselend sehe.

    Schließlich besorgte uns mein Vater ein Zimmer in Bregenz, im Hotel Pfänderdohle hoch auf dem Pfänder, dem Hausberg der Stadt. Da pendelte man mit der Seilbahn rauf und runter. Damals verliebte ich mich in die Bodensee-Region, und noch heute, wenn ich ein Bild vom Pfänder sehe, mit Blick über den ganzen Bodensee und Lindau, im Vordergrund die Pfänderbahn, erwacht in mir ein Glücksgefühl …

    Vater kam zu uns, sooft er in Friedrichshafen frei bekam. Dornier hatte, weil die Erzeugung von Flugzeugen natürlich »kriegswichtig« war, für seine Angestellten einen vielstöckigen Bunker in die Erde bauen lassen, angeblich völlig bombensicher. An einem Tag, als mein Vater nach Bregenz musste, wurde Friedrichshafen bombardiert – und fast alle im Bunker starben.

    Später habe ich den Schweizer Autor Thomas Hürlimann kennengelernt, der in seinem Stück Großvater und Halbbruder beschrieb, wie die Schweizer Bürger am gegenüberliegenden Ufer die Bombardierung von Friedrichshafen wie ein Schauspiel betrachteten.

    Wir haben uns lange darüber unterhalten.

    Als der Krieg zu Ende war, wollte mein Vater mit uns zurück nach Weil am Rhein. Das ging allerdings nur etappenweise vonstatten. Unser Haus war beschossen worden, wie die Eltern erfahren hatten, also kamen wir zuerst in Säckingen unter, bei Tante Luise und ihrem Mann, Onkel Josef, die genau neben dem »Trompeterschloss« direkt am Rhein wohnten. Der Onkel, ein Mann mit eindrucksvollem Riesenschnurrbart, hatte noch bei Kaiser Wilhelm in dessen Garde gedient. Als der Kaiser ihn einmal fragte: »Er ist aus Säckingen? Kann er auch trompeten?«, antwortete der Onkel forsch: »Jawohl, Majestät, mit der Weinflasche.« So erzählte er wenigstens.

    Tante Luise war es, die 1945, als sie durchs Radio von den Konzentrationslagern und den Morden dort erfuhr, weinte und schrie: »Wir sind ein Volk von Verbrechern.« Sie hatte einen Nervenzusammenbruch, aber ich habe nicht begriffen, was da mit ihr passierte. Ihr Sohn, der Onkel Adolf, Jahrgang 1906, war als Kommunist in Dachau gewesen. Als ich 13 Jahre alt war, erzählte er mir von den unfasslichen Grausamkeiten des KZ-Alltags. Das hat bei mir bis heute nachgewirkt.

    Dort, bei Tante Luise und Onkel Josef, gab es eine Dachterrasse über dem Rhein mit Blick in die Schweiz und mit einer leeren Fahnenstange. Und als ich hochschaute, fingen die Terrasse und das ganze Haus an, sich zu drehen. Ich schrie: »Mutti, Mutti, das Haus fällt um.« Dann wurde ich ohnmächtig.

    Ich war offenbar so unterernährt, dass ich einen Kreislaufkollaps erlitten hatte.

    Die ersten französischen Soldaten waren freundlich. Meine Mutter sprach mit ihnen Französisch, was mich sehr erstaunte, denn während des Krieges hatte sie natürlich keine Gelegenheit zu zeigen, dass sie das konnte.

    Und als einer auf dem Platz vor dem wunderschönen Säckinger Münster Fettrationen zum Kochen verteilte, gab es bei uns Spaghetti mit Tomatensauce und echter Margarine. Es schmeckte köstlich, und ich fragte: »Mutti, ist jetzt Frieden?« Es war Frieden.

    Wir machten uns erneut auf den Weg, so kamen wir zu Fuß oder mit dem Leiterwagen wieder nach Hause. Dort hatte sich

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